Marginalie 36: Nostalgia – schwermütig

Es gibt Ereignisse, da kann man einfach schwermütig werden. Secret Escapes, die Reste-Zimmer-Verramsch-Plattform für bessere Hotels bietet dieser Tage eine Übernachtung im legendären Kempi – das Bristol Kempinski am Kurfürstendamm in Berlin  – für 52 € an, da ist manches Motel One oder so teurer. Warum mich das schwermütig macht? Es war 1973, ich war 12 Jahre alt, meine Eltern hatten gerade ihren ersten Mercedes gekauft und waren stolz darauf wie Bolle. In den Herbstferien fuhren wir gemeinsam nach Berlin, hochnotpeinliche Grenzkontrollen vor der DDR, der streng bewachte Transitweg, die Mauer, dann die Avus, der Funkturm, der Ku’damm, das Kranzler (heute auch Geschichte, nur noch ein Abklatsch und eine ausgelutschte, verblassende Marke) und schließlich … das Kempi. Das Bristol Kempinski war das erste Fünf-Sterne-Hotel in meinem Leben (zumindest das, an das ich mich erinnern kann), in dem ich übernachtete. Als die livrierten Pagen an der Anfahrt unsere Autotüren öffneten, erschrak ich und dachte zuerst an Überfall, als der Wagenmeister mit unserem Mercedes davon fuhr, hatte ich ein mulmiges Gefühl und wunderte mich über die Vertrauensseligkeit meines Vaters. Das Hotel schüchterte mich beim Betreten ehrlich gesagt ein, das riesige Blumenbouquet, poliertes Messing, dunkles Holz, Kristalllüster, livrierte Menschen – es dauerte einige Zeit, bis ich meine Scheu ablegte. Und dann war es wunderbar, vor allem der Pool im fensterlosen Untergeschoss, das riesige Frühstücksbuffet und die Menschen, die selbst mir Pimpf die Türen beim Betreten und Verlassen des Hotels aufhielten. Berlin selber habe ich als grau und trist in Erinnerung, die Mauer mit Aussichtsplattform nach „drüben“, der verwitterte Reichstag, Schneeregen, selbst an die frierenden Nutten zwischen den – damals topp-modernen – Ausstellungsvitrinen aus Messing auf den Bürgersteigen des Ku’damms erinnere ich mich. Dann kam bald mit dem Colombi in Freiburg der Besuch im nächsten Fünf-Sterne-Hotel, die Frau des besten Freundes meines Vaters sollte einige Jahre später im selben Hotel an Alkohol und Tabletten sterben, danach irgendwann der Erbprinz in Ettlingen, in der Weinstube aß ich die ersten handgeschabten Spätzle meines Lebens, ich muss dort Unmengen an Spätzle mit Soße verdrückt haben. Und dann verliert sich die Spur der Fünf-Sterne-Schuppen in meinem Gedächtnis, da kamen das Sacher in Wien, das Atlantik in Hamburg, natürlich die Schatzalp in Davos, in Südtirol die Sonnenburg, das Pupp in Karlsbad und das Alcron in Prag … aber das war dann alles nicht mehr dasselbe wie weiland das Kempi in Berlin, das war irgendwie nur noch more of the same für ein Hotel-mäßig zuweilen ziemlich verwöhntes Balg, während das Kempi quasi „mein erstes Mal“ war. In den Neunziger und Zweitausender Jahren war ich viel in Berlin, anfänglich wohnte ich auch meist im Kempi (oder, wenn ich sparen musste, schräg gegenüber im Askanischen Hof, aber das ist eine ganz, ganz andere Geschichte), aber irgendwann war der Renovierungsstau nicht mehr zu übersehen, außerdem waren die Internetverbindungen anfänglich gar nicht vorhanden, dann nur lausig, so dass ich irgendwann in’s Interconti übersiedelte, dem ich bis heute aus irgendwelchen nostalgischen Gründen (und der Marlene Bar) die Treue halte. Der Hotel-Bau-Boom im ehemaligen Osten der Stadt wird ein weiteres getan haben, dem guten alten Kempi das Wasser und die Gäste abzugraben, nicht mehr Ku’damm und Wedding sind die Hotspots Berlins, sondern Potsdamer Platz, Pretzelberg und weiß der Geier was. Nichtsdestotrotz war ich noch oft und gerne in der Bristol Bar im Kempi, saß des Öfteren neben Harald Junke am Tresen, wir tranken – er ungleich mehr als ich – und plauderten belangloses Zeugs, das Trinker halt so plaudern; Udo Lindenberg, sonst im Atlantik in Hamburg zuhause, traf man dort auch das eine oder andere Mal, wenn er Konzerte in Berlin gab; und mit dem – leider viel zu früh verstorbenen – Wolfgang Donsbach haben wir in der Bristol Bar bei dem exzellenten Tatar ein ums andere Mal die Welt neu erfunden. Und nun dies: Übernachtung ohne Frühstück 52 €. Was für Leute zu dem Preis jetzt wohl im Kempi verkehren? Da muss man doch schwermütig werden.

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