Gespräch mit einem Koch: „Es geht um die Maultaschen!“

„Ihren Blog lese ich regelmäßig mit großem Interesse, besonders ihre Gespräche mit Leuten aus dem Gastro-Gewerbe. Sprechen Sie eigentlich nur mit Wirten und Hotelbesitzern? Oder würden sie auch mal mit einem ganz einfachen Koch aus Bayern sprechen wollen? Ich könnte ihnen so einiges erzählen!!! Wenn sie Interesse haben, hier meine Email …“ Diese Anfrage erreichte mich über das Kontaktformular meines Blogs. Klar wollte ich gerne Mal mit einem ‚ganz einfachen Koch aus Bayern‘ sprechen wollen, diese Leute bekommt man ja nur selten zu Gesicht, wenn’s nicht gerade ein Sternekoch ist, der nach dem Menue durch den Speisesaal geht und seine Honneurs an den Tischen macht.  Also flugs an die angegebene E-Mail-Adresse geschrieben, Telephonnummer gegeben, keine viertel Stunde später klingelt mein Telephon. „Ich bin’s, der von der E-Mail.“ „Schön, dass Sie sich so schnell melden. Darf ich fragen, wie Sie heißen und wo Sie arbeiten?“ „Nee, ich möchte schon, dass das alles anonym abläuft, ohne Namen und so.“ „Tut mir leid, aber anonym geht bei mir nichts.“ „Warum das?“, fragt mein Gegenüber zurück. „Sie könnten ja zum Beispiel der Wirt von der Nachbar-Kneipe sein, der seinem Konkurrenten eins reinwürgen will, mit saftigen Lügenmärchen oder so.“ „Aber ich dachte, Ihre Geschichten sind immer anonym?!“ „Die Geschichten selber schon, oder haben Sie nur einmal einen konkreten Namen oder ein konkretes Haus in meinen Geschichten über Hintergrundgespräche gelesen?“ „Nein, eben nicht, deswegen will ich ja mit Ihnen sprechen. Sonst könnte auch gleich hier zum Reporter des hiesigen Käseblättchen gehen und dem alles erzählen.“ „Aber ich will vorab schon wissen, mit wem ich spreche, auch wenn ich dann keine Namen nenne, alles andere wäre journalistisch unredlich, eine ungeprüfte Quelle wäre ebenso unredlich wie später eine Absprache brechen und doch Namen zu nennen.“ „Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich überleg’s mir und melde mich nochmal. Vielleicht.“ Sprach’s und legte auf. Dann waren fast drei Wochen Funkstille, bis eines Sonntagsmorgen mein Telephon klingelte. „Ich bin’s, der Koch aus Bayern. Ich mach’s. Also ich heiße *** – sagen wir, er heißt Rainer – und arbeite im ***, einem gehobenen, traditionsreichen, gut bürgerlichen Restaurant im tiefsten Bayrischen Schwaben.“ An dieser Stelle wiegele ich ab, ich hätte jetzt eine Verabredung, wir müssten ein andern Mal sprechen. Rainer ist sichtlich – eigentlich müsste ich ja ‚hörlich‘ schreiben – konsterniert ob dieser groben Abfuhr, nachdem er sich endlich durchgerungen hatte, mit mir zu reden. Dennoch verabreden wir uns für den kommenden Montag, da hat das Restaurant Ruhetag, für 10:00 Uhr morgens am Telephon. Das Erste, was ich mache, ist mir die Internetseite des genannten Restaurants anzuschauen: denkmalsgeschütztes Fachwerkgebäude, historisches Interieur, gediegen, angeblich seit 350 Jahren im Familienbesitz, gehobene Speisekarte, kaum ein Hauptgericht unter 20 EURO, eher deutlich mehr, selbst für die in Schwaben unvermeidlichen Kässpätzle verlangen sie 19,50 EURO, dominiert wird die Speisekarte von schwäbischen Klassikern, Flädlesuppe, Saure Linsen mit Saiten, Zwiebelrostbraten mit handgeschabten Spätzle, Gaisburger Marsch, Tafelspitz mit Meerrettich-Sauce, Maultaschen in zig Variationen, Saure Kutteln, Bodenseefelchen, zum Dessert Ofenschlupfer, Nonnenfürzle, Kirschplotzer, dazu eine Seezunge im Ganzen gebraten, ein Chateau Briand mit hausgemachter Sauce béarnaise, heimisches Wild, das klingt alles sehr gut, da sollte ich auch mal hinfahren. Dummerweise steht nirgends auf der Seite der Name des Chefkochs. Nach einigem Recherchieren werde ich dann doch fündig, im Lokalblättchen, der Landrat hatte seinen Sechzigsten dort gefeiert, und die Zeitung lobte das Festmenue, das Chefkoch „Rainer“ dazu gezaubert hatte, in den höchsten Tönen, also Name stimmt auch. Ich finde auch noch ein paar weitere Artikel über Rainer, das Internet vergisst nichts, Jahrgangsbester auf der Berufsfachschule, Koch auf einem Kreuzfahrtschiff, Interview in einem Futter-Magazin zur besten Hollandaise, den Mann gibt’s also wirklich. Später, in unserem Gespräch, werde ich gezielt einzelne dieser Infos etwas verfälscht einstreuen; ich kann jetzt schon sagen, dass mein Gesprächspartner jeden dieser Fehler sofort gemerkt und korrigiert hat, ich habe also tatsächlich mit dem echten Rainer gesprochen – oder mit einer anderen Person mit sehr viel krimineller Energie und akribischer Vorbereitung, aber wozu bitte, qui bono?

Am Montag klingelt pünktlich um 10:00 Uhr mein Telephon. „Passt’s jetzt?“ „Jetzt passt’s, ich sitze hier mit Stift und Papier und lausche. Was dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne, so schnell bin ich nicht beim Mitschreiben. Und wenn Sie interessante Dinge erzählen, würde ich das gerne wortwörtlich wiedergeben.“ „Das ist jetzt auch schon egal, also lassen’se mitlaufen. Was wollen Sie wissen?“ fragt Rainer. „Sie wollten mir doch was erzählen. Aber fangen wir vielleicht mal so an: Wie sind Sie Koch geworden?“ „Wie man halt Koch wird. Mäßiger Hauptschulabschluss, keinen Bock auf Bau oder Büro, es war mehr Zufall, dass ich in der Küche gelandet bin, eine Freundin meiner Mutter hatte eine Kneipe, drei Straßen weiter, und die suchte einen Azubi, eigentlich haben die beiden Frauen meinen beruflichen Werdegang unter sich ausgemacht, weder mein Vater noch ich konnten da groß mitreden, mein Vater hatte eigentlich nie was zum Mitreden, ich sowieso nicht. Aber die Lehre hat mir Spaß gemacht, der Umgang mit Lebensmitteln, die Kollegen, das Feierabendbier, und ich habe viel gelernt, nicht nur, wie man ein Steak brät oder Maultaschen macht, vielmehr noch so richtige Dinge für’s Leben: Herde sind heiß, Messer sind scharf, Frittierfett spritzt, Chefs können richtig komisch werden und einem das Leben zur Hölle machen, wenn man zu spät oder verkatert zur Schicht erscheint, Küchenschluss ist, wenn der letzte Gast gegangen und die Küche blitzeblank geputzt ist, keine Minute früher, diese Sachen nimmt man für’s Leben mit, nicht nur für die Küche, sondern generell. Ich war ein ganz normaler Teenager, mein Zimmer sah damals immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, mich hat’s nicht gestört, ich war eher stolz darauf, mein persönlicher Gegenentwurf zur aufgeräumten, spießigen Welt meiner Eltern auf meinen 16 Quadratmetern Kinderzimmer. In der Küche geht sowas gar nicht. Wenn Du eine Sauce aufschlagen willst, und die Sauteuse ist noch dreckig, wenn der Pürierstab nicht exakt an seinem Platz liegt und ohne hinzuschauen greifbar, wenn Töpfe auf dem Herd stehen, die da jetzt gar nicht hingehören, wenn jemand die letzten Butterstückchen aus dem Gefrierfach genommen hat und nicht wieder aufgefüllt, dann krieg‘ ich `nen Föhn und könnte durchdrehen. Wenn mich früher in der Ausbildung ein Chef zusammengefaltet hat, weil ich sowas angestellt hatte, dachte ich mir immer nur ‚Was für’n arrogantes Arschloch, wahrscheinlich hat ihn seine Frau mal wieder nicht rangelassen, und das lässt er jetzt grundlos an mir aus!‘ Mit der Zeit habe ich gelernt, dass sowas in einer professionellen Küche einfach nicht geht, weil es die Abläufe stört, weil es unnütze Zeit kostet, Zeit, die man in der Küche nicht hat, wenn die Bestellungen im Akkord reinkommen. Heute bin ich derjenige, der den Azubi oder die Azubine zurechtweist. Nein, ‚zurechtweist‘ ist das falsche Wort. Wenn sowas das erste Mal bei einem Neuen passiert, versuche ich, zu erklären, selbst wenn der Zeitdruck noch so hoch ist, erkläre ich sofort, wenn’s passiert, unmittelbar in der Situation, bis Küchenschluss hat man’s ja doch vergessen. Beim zweiten Mal erkläre ich es nochmals eindrücklich. Beim dritten Mal kann ich dann auch schon mal mitten in der Küche losschreien und jemanden zusammenfalten, wie’s mein Ausbilder früher mit mir getan hat. Der Choleriker hat damals allerdings meist gleich beim ersten Mal gefaltet. Da war der Umgangston in der Küche auch noch rauer, die Ausbildung härter. Wenn du die jungen Leute heute zu hart anfasst, kann es dir leicht passieren, dass er oder sie im ersten oder zweiten Lehrjahr hinwirft. Und dann kannst du dir was vom Chef anhören, der diesen Lehrling oft lang und aufwändig gesucht hat, und du bist dann schuld, dass er wieder hinwirft, bei dem Personalmangel in der Gastro, gerade in der Küche. Andererseits, wenn du die jungen Leute nicht zuweilen mal härter anfasst, dann lernen sie’s nie und werden schlampige, schlechte Köche. Heute bin ich auch so’n Ordnungs-Pedant, zumindest in meiner Küche, sonst kann man nicht gescheit arbeiten, im Privatleben bin ich eher etwas unordentlich, aber nicht in meiner Küche. Wenn ich bei fremden Kollegen in die Küche schaue, kann ich dir sofort sagen, wer von denen schlecht kocht: schlecht aufgeräumt, schlecht gekocht, in einer unordentlichen Küche kann man nicht gut kochen, das geht gar nicht. Ich spreche hier nicht mal von solchen no-gos wie Schimmel, fettigen Böden, Ungeziefer, altem Frittierfett, schmutzigen Arbeitsflächen und Herden. Ich spreche von Kleinigkeiten wie herumliegenden Messern, offenen Behältern, die länger aus der Kühle draußen sind, als sie müssten, zugestellten Arbeitsflächen, solche scheinbaren Kleinigkeiten, das geht in der Küche alles gar nicht. Das heißt jetzt im Umkehrschluss nicht, dass in einer aufgeräumten Küche unbedingt gut gekocht wird, es gibt auch ordentliche Köche, die trotzdem schlecht kochen.“

„Wie war das dann in einer Großküche wie auf der AIDA mit so vielen Köchen?“ frage ich dazwischen und nenne bewusst nicht den Namen des Schiffes, auf dem Rainer laut seiner Vita gekocht haben soll, sondern absichtlich einen falschen. „AIDA? Kenne ich nicht. Ich war fast zwei Jahre auf der ***“ – ok, Test bestanden, ich spreche tatsächlich mit der richtigen Person – „Auf’m Schiff, zumindest auf einem guten, ist das alles nochmals eine Nummer akribischer, wenn man in zwei Stunden ein paar tausend Gerichte raushauen muss. Da gibt es nicht nur die einzelnen Posten, sondern dazu noch separate Bereiche mit eigenen Posten. Das Ganze wird überwacht von einem oder zwei alten Köchen, die selber gar nicht mehr kochen, maximal vielleicht mal ein Sößchen abschmecken, besser kontrollieren, und ansonsten nur Abläufe koordinieren und überwachen, und natürlich penibel auf Ordnung und Sauberkeit achten. Und der F&B Manager schaut auch regelmäßig rein. Anders geht das gar nicht. Der Stress auf so’nem Kreuzfahrtschiff ist extrem, das ist für jeden Jungkoch eine make-or-brake Situation, manche schmeißen den Beruf schon während der ersten Tour hin und reisen von irgendeiner Etappe zurück nach Hause. Für die anderen Köche wird’s dann nochmal stressiger. Aber wer das schafft, den schafft danach so leicht nichts mehr. Etwas anders sieht es da schon in den Küchen von Luxushotels irgendwo in Asien oder Karibik aus. Da herrscht zwar auch Stress, aber die Personaldecke ist meist viel besser, weil viele billige, aber gut ausgebildete und vor allem motivierte Einheimische mitarbeiten, als ausländischer Koch bist du auch ohne Sterne da sowas wie ein Aushängeschild, der auch im tiefsten von mir aus Thailand einen Hummer Thermidor oder ein verdammtes Wiener Schnitzel perfekt zubereiten kann. Aber man lernt natürlich auch unglaublich viel, über die Küche des Landes und von Kollegen aus aller Herren Länder, das ist schon toll. Und wenn dich in so’nem Luxus-Hotel am anderen Ende der Welt ein alter Sous Chef unter seine Fittiche nimmt, vielleicht weil er aus demselben Land wie du stammst, oder weil er dich einfach mag, oder weil er Mitleid hat … oder weil er ganz schlichtweg schwul ist, dann hast du als junger Koch schon gewonnen, wenn du nicht gerade einen Riesen-Bock schießt. Eine ganz andere Nummer sind da die Luxushotels und Sterne-Restaurants in der Schweiz und in Frankreich, teilweise auch schon in Italien. Da bist du die billige Arbeitskraft, die fast noch Geld mitbringen muss, um dort lernen und arbeiten zu dürfen, diese Häuser können sich ihre internationalen Jungköche bis heute aussuchen, obwohl man dort in der Regel mehr arbeitet und Karotten kunstvoll und sinnbefreit tourniert, als dass man was lernt. Doch jeder richtige Koch würde sich ein Ohrläppchen abschneiden lassen, um in seinem Lebenslauf schreiben zu können ‚Gelernt bei Alexandre Gauthier‘. Aber über diese Walz-Zeit, die man halt als junger Koch nach der Ausbildung macht, einfach um rauszukommen aus dem heimischen Mief, um was von den schönen Ecken der Welt zu sehen und dafür noch bezahlt wird, meist nicht üppig, aber es reicht, und für sight seeing hat man in der Regel vor Ort eh kaum Zeit, und natürlich, um was zu lernen und um seinen Lebenslauf aufzuhübschen, darüber wollte ich eigentlich gar nicht sprechen. Ich wollte über das Leben als Koch, heute in Deutschland des Jahres 2023 sprechen.“

„Und wie finden Sie das Leben als Koch in Deutschland des Jahres 2023?“ frage ich. „Um es ganz offen und ehrlich zu sagen: scheiße.“ „Wieso das?“ „Eigentlich, eigentlich liebe ich meinen Beruf. Koch war zwar nie mein Traumberuf, aber die Kocherei und ich, zuerst haben wir arg gefremdelt, dann haben wir uns mit der Zeit arrangiert, und irgendwann wurden Liebe und Leidenschaft daraus, ich weiß nicht warum, is aber so. Ich gehe gerne mit Lebensmitteln um, sie sorgfältig auswählen, auf Qualität und Herkunft und leider auch auf den Preis zu achten, da fängt’s dann schon an. Komme ich gleich drauf zurück. Dann die Lebensmittel respektvoll, richtig, manchmal auch experimentell zuzubereiten, hübsch – hübsch, appetitlich, nicht überkandidelt, effekthascherisch – anzurichten und Gäste nicht bloß satt zu machen, sondern damit gleichzeitig ein Erlebnis, eine Freude zu bereiten, das ist eigentlich mein Ding, oder von mir aus auch ‚nur‘ eine Truppe Pfadfinder oder THW-Leute im Einsatz redlich, ordentlich, gesund satt zu machen mit einem ehrlichen Erbseneintopf aus der Gulaschkanone. Wissen Sie, dass ich 2021 meinen gesamten Jahresurlaub auf einmal genommen habe, um mit einer geborgten Gulaschkanone ins Ahrtal zu fahren und vier Wochen lang Erbsensuppe und Chili con Carne zu kochen, die Zutaten habe ich von meinem eigenen Geld gekauft, genau genommen von dem Geld, das meine damalige Freundin und ich für unseren gemeinsamen Urlaub beiseitegelegt hatten, aber Urlaub war ja sowieso nix in diesem Jahr, also habe ich das Geld genommen, sie war vielleicht sauer, um ehrlich zu sein, seit dem bin ich wieder Single, sie hat Schluss gemacht, verstand diese Ahrtal-Nummer überhaupt nicht oder wollte sie nicht verstehen oder konnte sie nicht verstehen. Von ‚offizieller Seite‘ habe ich nie irgendein Danke für meine Gulaschkanone bekommen, aber diese dankbaren Gesichter von abgekämpften Menschen, die aus einem Plastiknapf meinen Eintopf mit einer Scheibe Brot aßen, das war mehr als genug Belohnung. Da wusste ich, warum ich wirklich Koch bin. Dazu junge Menschen ausbilden, sie für den Beruf des Kochs und für gutes Essen zu begeistern, zu sehen, wie Dumpfbacken mit mittelmäßigem Hauptschulabschluss aus – sagen wir – Kulinarik-fernen Elternhäusern langsam anfangen, sich zu interessieren, für Essen, für gutes Essen zu brennen, und für zufriedene Gäste. Ein Koch, der nicht für seinen Beruf brennt, ist eine arme Socke, der kann in der Spelunke vorkonfektionierte Schnitzel in die Fritteuse werfen oder Tütenkartoffelbrei in der Großkantine anrühren und damit sein Geld verdienen und meist sogar eine 40-Stunden-Woche mit zwei freien Tagen die Woche, in der Kantine sogar abends und am Wochenende daheim, aber glücklich ist so einer in seinem Beruf bestimmt nicht. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum so verdammt viele Köche saufen oder koksen.“ „Ist das tatsächlich so schlimm?“ frage ich. „Schlimmer, viel schlimmer. Anthony Bourdain war ein Schönfärber. Entweder wollte er unseren Berufsstand nicht vollends beschädigen, oder er hatte keine Ahnung, was wirklich landauf, landab tatsächlich in den Küchen vor sich geht. Ihn hat die Küche ja letztendlich auch gebeutelt, arme Socke.“ „Ja, was ist denn nun so schlimm an Ihrem Berufsstand?“ „Ich hatte es ja eben schon angedeutet, da ist zum Beispiel Spargel-Zeit, du entwirfst mit dem Restaurantbesitzer die Speisekarte. Das Kilo Spargel vom heimischen Spargel-Bauern um die Ecke kostet geschält 15 EURO im Großeinkauf, tagesfrisch geliefert vom Bauern selber. Im Großhandel gibt es geschälten Spargel aus sonstwoher von sonstwann für 12 EURO das Kilo, manchmal auch schon für 9 EURO. Wenn du ‚Ein Pfund frischer Spargel‘ auf die Speisekarte schreiben willst, hast du also die Wahl zwischen 7,50 EURO Wareneinsatz oder 6,00 EURO Wareneinsatz oder 4,50 EURO Wareneinsatz. 30 Prozent ist der durchschnittliche Wareneinsatz in der Gastronomie, mal 25 Prozent, mal 35 Prozent. Nehmen wir der Einfachheit halber mal an, ein Drittel Wareneinsatz, das ist dann schon sehr gehobene Gastronomie. Das heißt, ein Pfund frischer Spargel vom Bauern um die Ecke müsste 22,50 EURO kosten, und da ist dann noch kein Sößchen und Kartöffelchen bei, geschweige denn ein Schnitzel. Wenn ich den super-billigen Spargel von sonstwoher mit sonstwelcher Qualität hernehme, kann ich das Pfund puren Spargel für 13,50 EURO – etwas mehr als die Hälfte! – anbieten. Dann ein paar Kartöffelchen – vorkonfektionierte Vakuum-Ware aus der Metro oder handgeschälte Kartoffeln vom Bauern um die Ecke? –, natürlich ein Sößchen – handaufgeschlagene frische Hollandaise, die immer mal gerinnen kann und einen zweiten Durchgang nötig macht, oder rasch in der Mikro heiß gemachte, unkaputtbare Tetrapack-Ware von Unilver? –, schließlich das obligatorische Schnitzel oder Steak oder Lachsfilet – ist das im Spargelpreis inkludiert oder wird das separat berechnet? Klar bin ich als Profi-Koch dazu in der Lage, ein Pfund Spargel mit Hollandaise, Kartoffeln, Schnitzelchen für 18,90 EURO anzubieten, und ein Chef kann immer noch seinen guten Schnitt an dem Gericht machen. Du willst gar nicht wissen, was du dann da frisst. Also, Spargel, Kartoffeln, Hollandaise, Schnitzel unter 25, eher 30 EURO, sind für mich schlichtweg Scharlatanerie, schlechte Zutaten und getrickste Zubereitung. Aber find‘ mal genügend Gäste, die bereit sind, diesen Preis zu bezahlen, wenn’s nebenan den Spargel für die Hälfte gibt. Aber als Koch, als Koch macht Dir sowas keinen Spaß. Habe ich Koch gelernt, um eine Unilever Foodsolutions Lukull Hollandaise in die Mikro zu stellen? Das ist insgesamt das erste Ärgernis an meinem Beruf: wir können nicht so, wie wir wollen, als Köche, und das fängt beim Einkauf an. Der Bio-Bauern-Spargel wird immer teurer sein als der Großmarkt-Spargel, das neuseeländische Hirschgulasch wird immer billiger sein als das Hirschfleisch vom Jäger um die Ecke, obwohl es einmal um die halbe Welt geflogen wurde, welch ein Irrsinn, Industrie-Nudeln sind immer billiger als mit viel Aufwand und Liebe selbstgemachte Nudeln, und hier hast du noch den absurden Effekt, dass Industrie-Nudeln bei den meisten Gästen als ‚authentische‘ Nudeln wahrgenommen werden, weil jahrzehntelang so trainiert, das macht einem echten Koch alles keinen Spaß. Trüffelnudeln sind so ein Beispiel. Für mich sind Trüffelnudeln frisch gemachte Pasta in einer cremigen Schalotten-Weißwein-Madeira-Sahne-Parmesan-Sauce mit Bergen von frisch darüber gehobelten Trüffelscheiben, sowas kostet, fair bepreist, je nach Trüffelpreis, 35 bis 50 EURO. Ich kann natürlich auch Tütennudeln ihn Sahne mit reichlich künstlichem Trüffelöl anbieten, über die ich ein paar Späne billiger, geschmackloser chinesischer Trüffelimitate hobele, das kriege ich mit 3, maximal 5 EURO Wareneinsatz hin, wenn man so einen Teller Dreck für 15 EURO verkauft, macht der Wirt einen guten Schnitt, aber da es ja angeblich Trüffel sind, kann man ohne Probleme auch 22,50 EURO nehmen oder noch mehr, die meisten Leute fressen doch eh‘ alles, viele am liebsten, wenn es scheinbar exklusiv und teuer ist. Mit solchen ‚Trüffelnudeln‘ auf der Karte kann man richtig viel Geld verdienen.“

„Sie sprachen vorhin vom Einkauf als erstem Ärgernis.“ unterbreche ich Rainers Redefluss. „Ach ja, der Einkauf. Natürlich weiß ich, dass das Leben, zumal das Gastro-Leben, kein Wunschkonzert ist. Am einfachsten hast Du’s als Koch, wenn der Wirt auch Koch ist und Kraft seiner Wassersuppe die Speisekarte alleine macht und alleine einkauft. Kaum ein Gastwirt oder Koch geht heute noch in aller Herrgottsfrühe auf den Großmarkt, um frische Ware nach Tagesanbot spontan einzukaufen und dann spontan zu verkochen, da wird am Vortag geguckt, was noch da ist uns was bald aus ist, dann wird online beim Gastro-Großhändler bestellt, und am nächsten Morgen ist die Ware da, meist frisch, meist ordentlich, eigentlich immer garantiert durchgängige Kühlkette, direkt vor dem Hintereingang des Restaurants. Dass diese Transporter für jeden sichtbar vor dem Restaurant halten, will kein Wirt, diese stillen Lieferanten sind mehr sein Geheimnis. Sonst käme vielleicht die Frau Bürgermeisterin auch auf die Idee, zu versuchen, bei denen zu bestellen. Oder sich deren Websites anzuschauen, und den ‚hausgebackenen Apfelstrudel‘ im Restaurant mal mit dem Apfelstrudel auf dieser Webpage zu vergleichen. Klar ist jeder Apfelstrudel irgendwie ‚hausgebacken‘, eine Fabrikhalle mit industrieller Großbäckerei ist ja schließlich auch irgendwie ein ‚Haus‘, und ich hätte noch nicht gehört, dass Apfelstrudel auf dem freien Feld gebacken würde. Selbst ‚selbstgebacken‘ sagt noch nichts aus, ‚selbstgebacken‘ kann rein rechtlich auch bedeuten, dass ich Tonnen von industriell hergestellten  Tiefkühl-Apfelstrudeln im Kühlhaus habe und die je nach Bedarf aktuell kurz in den Ofen werfe. ‚Selbstgemachter‘ lautet das Zauberwort, dann sollte man sicher sein können, dass der Apfelstrudel tatsächlich im Restaurant selber hergestellt wurde, und selbst dann weiß man noch nicht, ob nur Fertig-Apfelmasse aus dem Plastikbottich vor Ort im Restaurant selber in den Tiefkühl-Strudelteig eingerollt wurde oder ob ein Koch oder Patissier sich tatsächlich die Mühe gemacht hat, Strudelteig herzustellen, auszurollen – eine Schweinearbeit, sage ich Dir“ … Rainer duzt mich zwischenzeitlich, sei’s drum … „zumindest, wenn man’s richtig macht – und in großem Stil Äpfel zu schälen, kleinzuschnippeln und zu würzen, alles dann kunstvoll einzurollen und abzubacken. Das ist hausgemachter Apfelstrudel, sonst nix. Wenn Du dann als Koch zu deiner Schicht erscheinst, sind das Kühlhaus und die Regale voll, und du kochst ab, was auf der Speisekarte steht, wie’s dein Chef dir aufgetragen hat. Das ist einfach, macht aber einem richtigen Koch keinen Spaß. Wenn dann die Servicekraft ankommt, nicht einfach nur boniert, sondern dich an den Pass winkt, und fast schon verlegen sagt, die Gäste auf Tisch 7 wünschten Rindsfilet Rossini, weil wir hätten doch Rinderfilet, Trüffel und Foie Gras auf der Karte, in vollkommen unterschiedlichen Tellern, versteht sich, dann bist du als Koch plötzlich wie elektrisiert: entweder ist deine erste Reaktion sauer-elektrisiert ‚Fresst gefälligst, was auf der Karte steht!‘, dann bist du ein toter Koch, oder deine Reaktion ist begeistert-elektrisiert ‚Ja, 20 Jahre nach meiner Ausbildung, endlich mal wieder ein Rossini, das krieg‘ ich noch hin!‘, dann brennst du immer noch und bist lebendig. Und richtig tragisch wird’s, wenn du brennend denkst, ‚Super, endlich mal wieder ein Rossini!‘, aber zur Servicekraft sagen musst ‚Sorry Mädel, aber bei dem Stress heute, keine Chance, wir sind schon wieder zu wenig Leute!‘ Ist mir selber schon so passiert. Sowas frustriert kolossal. Aber zurück zum Einkauf. Als toter, fauler Koch hast du nichts dagegen, wenn Kühle und Regale voll mit vorkonfektionierter Ware sind, die du quasi nur noch warm machen und anrichten musst. Als lebendiger, brennender Koch willst du deine Speisekarte selber machen, deine Lieferanten selber aussuchen und kennen, die beste Ware einkaufen und daraus die tollsten Gerichte zaubern. Ich spreche hier nicht von Trüffel- und Kaviar-Orgien, auch für Pellkartoffeln mit Quark auf der Karte brauchst du tolle Kartoffeln, guten Quark – selbst da gibt’s himmelweite Unterschiede! – und gute frische Kräuter. Oder du servierst fertig angerührten Kräuterquark aus dem Eimer mit vorgeschälten, vakuumierten Kartoffeln, die du nur noch kurz in den Dampfgarer wirfst. Satt werden die Gäste damit auch, für kleines Geld, aber glücklich bist du als Koch mit sowas nicht. Die Wahrheit liegt auch hier irgendwo in der Mitte. Es ist ja kein Wunder, dass so viele gute Köche, die sich irgendwann mit einem eigenen Restaurant selbstständig machen, ruck-zuck wieder pleitegehen, oft mit Pauken und Trompeten und Privatinsolvenz, weil sie in ihrer Begeisterung vergessen haben, eine GmbH zu gründen. Viele Köche können und wollen zwar gut kochen, aber sie kennen ihre Gäste, ihr Umfeld nicht. Zürcher Geschnetzeltes mit einer guten Rösti ist richtig gemacht ein phantastisches Gericht, kostet aber sowohl vom Waren- als auch Arbeitseinsatz richtig was, wenn du’s richtig machen willst. Aber vielleicht will das in einer Kleinstadt ja kaum jemand essen, geschweige denn, angemessen bezahlen. Da ist der Wirt dann – ich sag‘ mal – das absolut notwendige Korrektiv. Der sollte seine Gäste kennen, die regionalen Vorlieben, das Preisniveau, das die Leute noch zahlen, die Lieferanten mit gutem Preis-Leistungs-Verhältnis. Ideal ist es, wenn Wirt und Koch gemeinsam die Speisekarte und den Einkauf machen, der Wirt hat sein spezifisches Wissen, was Lieferanten, Kunden und Betriebswirtschaft anbelangt, der Koch kann kochen. Und dann wird’s meistens ein vernünftiger Kompromiss aus Kohle und Kulinarik. Dann brätst du als Koch halt gottverdammte Schnitzel und Steaks und Burger, sozusagen als Grundrauschen und Stammgeschäft. Aber zusätzlich kannst du dich an ein paar Gerichten kochmäßig so richtig austoben und dich verwirklichen, das macht dann Spaß. Und die unbarmherzigsten Richter sind aber die Gäste, die entscheiden ja letztendlich, ob sie das Schnitzel nehmen oder ob du sie zu einer Rösti zum doppelten Preis verführen kannst. Ganz anders ist es nochmals auf dem Kreuzfahrtschiff oder im großen Hotel. Ich hatte doch keinen blassen Schimmer, was solche Leute auf einer Kreuzfahrt essen wollen. Da kochst du, was dir der F&B Manager anschafft, der hat jahrelange Erfahrung darin, was Leute auf einer Kreuzfahrt essen wollen. Was ich auch schon erlebt habe, aber ganz selten, dass da ein junger, ausgebildeter Koch irgendwo anfängt, ganz 08/15 Schnitzel zu braten, einfach um halbwegs sicher Geld zu verdienen, auf niedrigem Niveau, aber es ernährt seinen Mann und erhält das Wirtshaus. Dann irgendwann mal ganz vorsichtig ein paar Crevetten mit selbstgemachten Nudeln auf die Speisekarte gesetzt, die Hollandaise zur Spargelzeit selber gemacht, ein frischer Wildkräutersalat vom heimischen Gärtner – du hast ja gar keine Ahnung, was so ein alteingesessener Kleinstadtgärtner für eine Zugkraft entwickeln kann, wenn er stolz seiner gesamten Kundschaft erzählt, seine Wildkräuter gebe es jetzt im Restaurant so-und-so mit Tagliata und echtem Balsamico-Dressing, selber so erlebt – die Schnitzel sind immer noch das Hauptgeschäft, die die Pacht und die Löhne finanzieren, aber irgendwann dreht’s dann, ein freundlicher Artikel in der Lokalpresse, ein kostenlos verköstigter Blogger-Schnorrer …“ „Ich bin auch Blogger, aber ich zahle meine Schnitzel immer selber.“ werfe ich etwas angepisst, aber verständnisvoll ein. „… ja sorry, Sie …“ – jetzt siezt er mich mit einem Male wieder – „… meinte ich damit natürlich nicht, Leute aus der nächsten Stadt kommen extra zum Essen, man wird ein Geheimtipp, Schnitzel gehen am Wochenenden kaum noch, dafür der heimische Wildkräutersalat & Co., du musst Stammgäste aus dem Ort ohne Reservierung am Freitagabend abweisen, für beide Seiten eine ganz ungewohnte Situation, der erste professionelle Restaurantkritiker drückt sich verstohlen durch’s Lokal, schreibt vielleicht sogar irgendwas Nettes, das ist dann ein ganz kritischer Punkt für den Wirt. Schnitzel von der Karte nehmen, nur noch Wildkräutersalat & Co. und in den kulinarischen schneller-höher-weiter Zirkus einsteigen? Dann sind die heimischen Stammgäste mit ihrem tagtäglichen Grundrauschen, das Pacht und Löhne sicher finanziert, ganz schnell weg. Als Jungkoch habe ich mal in einem Gasthaus auf dem Lande gearbeitet, gutes Geld, tolles Zimmer, faire Arbeitsbedingungen, Familienbetrieb, nette Leute, eine geile Zeit, gefühlt jedes zweite Mädel vom Dorfe wollte mal was mit dem Koch aus der Stadt haben, um elf nach Küchenschluss einen Aperol-Spritz hinter der Küche und dann aber Hallo, das war genau an dieser Schwelle. Der Junior-Chef hat dann etwas ganz Revolutionäres gemacht. Er hat – gegen den ausdrücklichen Rat, gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters – den verfluchten Toast Hawaii, auf den meisten Karten steht dieses Mistding bis heute mit einem i, von der Karte genommen, Fabrik-Labberweißbrot, Pressschinken, Ananasscheibe aus der Dose, Analogkäse, kein EURO Wareneinsatz, Verkaufspreis 4,90 oder von mir aus 8,80, jedenfalls billig und trotzdem riesen Gewinnspanne, das perfekte Rentnerabendessen. An einem Abend kam das Mädel aus dem Service vollkommen aufgelöst zu mir in die Küche, eine Stammkundin wolle unbedingt den Chef sprechen, und der Wirt und sein Vater waren da ausgerechnet nicht da. Ich also widerwillig raus aus meiner Küche, da saß eine alte Dame mit der Speisekarte und einem kleinen Bier vor sich am Tisch – Lehrerwitwe mit ziemlich guter Pension – und schäumte vor Wut. Warum es keinen Toast Hawaii mehr auf der Speisekarte gebe, sie äße seit Jahrzehnten hier ihren Toast Hawaii, und was das denn solle, sie wolle jetzt sofort ihren Toast Hawaii. Mann, war die sauer. Ich hätte ihr ja sogar ihren Toast Hawaii außer Plan gemacht, aber das Gasthaus war so weit, wir hatten weder Ananas aus der Dose, noch Pressschinken, noch Analogkäse, noch Labberweißbrot im Haus, ich hätte ihr gar keinen Toast Hawaii mehr machen können. Mann, war die vielleicht sauer. Sie verließ jedenfalls das Lokal hungrig und kam nie wieder, obwohl sie Jahrzehnte lang jede Woche bei uns war. Und ich möchte nicht wissen, wie viele ihrer Lehrer-Pensionistinnen-Gattinnen sie davon überzeugt hat, auch nicht mehr zu uns zu kommen. ‚Ihr kocht ja nur noch für die Gestopften, für uns kleinen Leute habt Ihr nichts mehr übrig!‘ hatte sie mir an den Kopf geworfen. Beamtenpension und kleine Leute – haha, hab‘ ich mir da nur gedacht. Also, das beschreibt ziemlich gut diese Schwelle für ein Gasthaus. Weg von der Bauern- und Kleinbürger-Sättigungsanstalt hin zum richtigen Restaurant, das ist diffizil. Meine Erfahrung ist, man sollte das Eine tun und das Andere nicht lassen. Das Schnitzel war im Wirtschaftswunder-Deutschland einfach gesetzt und musste auf der Karte sein. Heute, im Juppy-Deutschland, kann es auch der Scheiß-Burger sein, für’s Grundrauschen, da kann man auch noch allerlei machen, mit Wagyu Patty, angeblich hausgemachter Sauce und Trallala, aber wenn die feinen Herrschaften aus der Stadt am Wochenende zum heimischen Wildkräutersalat speisen anreisen und auch einen Burger auf der Karte sehen, das kommt dann nicht so gut, das Schnitzel wird von den Gestopften vielleicht noch toleriert, aber ein Burger für die Dorfjugend unter der Woche? Und genau dann wird’s schwierig für den Wirt. Manche versuchen es mit einem Split, wenn es die Räumlichkeiten zulassen, ein Gastraum mit Burgern und wohlfeilen Preisen für das Grundrauschen, daneben ein echtes Restaurant mit richtigem, gutem Essen. Eigentlich eine gute Idee, in der Küche würden wir das meist sogar noch hinbekommen, meist scheitert’s am Service, erstens findet man sowieso kaum Leute, zweitens brauchst du dann ein Mädel, das Bier und Burger schleppen kann und sich auch mal an den Arsch fassen lässt, ohne gleich die Bullen zu rufen, sondern notfalls ein paar kräftige Ohrfeigen austeilt, dann brauchst du ein weiteres Mädel oder eine gestandene Servicekraft, die auch gescheit über passende Weine zum Wildkräutersalat daherschwafeln kann, und beide wollen an einem Abend bezahlt sein. Da wird die Betriebswirtschaft dann ganz schnell wieder zum Problem.“

„Sind Sie aktuell in so einem Restaurant in Umbruchsituation?“ frage ich dazwischen. „Soweit ich das sehe, sind Sie doch eher in einem alteingesessenen, gehobenen Restaurant, einem Platzhirsch.“ „Da haben Sie Recht, bin ich auch.“ entgegnet Rainer. „Und das ist genau der Grund, warum ich Sie eigentlich angeschrieben habe. „Wie das?“ „Es geht um die Maultaschen!“ „Um die Maultaschen?“ „Um die Maultaschen. Weißt Du …“ – jetzt duzt er mich wieder, seltsam – „… die Maultaschen, die waren hier eigentlich sowas wie mein signature dish.“ „Ungewöhnlich, aber warum nicht? Gute Maultaschen sind doch was Tolles!“ „Finde ich auch, es braucht nicht immer ein Trallala mit teuren, exklusiven Zutaten, um was Tolles, Typisches, Besonderes zu kochen. Sowas sind, … waren meine Maultaschen. Eigentlich faschierte Reste, eingewickelt in Nudelteig, nichts, worauf ein Sternekoch stolz wäre. Ich bin aber stolz auf meine selbstgemachten Maultaschen. Nur beste Zutaten, das ist das Eine, mit unglaublicher Liebe und unglaublichem Aufwand zubereitet, viele Gewürze, mein Geheimnis ist Macis, nicht nur Muskatnuss, das ist das Andere. Zwei, drei Mal die Woche habe ich den Vormittag in der Küche damit verbracht, hunderte von unseren legendären Maultaschen herzustellen, nicht tausende, aber auch nicht nur dutzende, das Rezept habe ich noch vom Senior-Chef, dem Vater des jetzigen Wirts, Mann, war ich stolz, als der Alte mir gezeigt hat, wie er die Dinger genau würzt, davor musste ich ein paar Jahre lang Nudelteig machen und ausrollen, bis der Alte mit seinem genauen Rezept für die Füllung rausgerückt ist, das war sowas wie ein Ritterschlag oder wie eine Aufnahme in die Familie. Die Maultaschen bei uns waren legendär. Meine Leidenschaft und auch mein Stolz als Koch hängen auch diesen Dingern, nicht nur, aber auch. Manche Gäste kamen allein wegen der Maultaschen, den frisch in der Pfanne abgeschmälzten Zwiebelchen, dazu ein Löffelchen selbst gemachte, gute Brühe und unseren schlorzigen Kartoffelsalat. Für sowas bekommst du als Koch niemals einen Stern, will ich auch gar nicht, und trotzdem ist das ganz großes kulinarisches Theater, Trüffel, Kaviar, Hummer und Filetsteak auf einem Teller zusammenzuwerfen und für hundert EURO zu verkaufen, das ist schick und hipp, aber auch einfach für einen Koch, verglichen mit diesen Maultaschen.“ „Und was ist mit diesen Maultaschen?“ frage ich. „Der Chef hat sie quasi von der Karte genommen, Knall auf Fall. Also, wir haben noch Maltaschen, da hat sich nichts auf der Karte geändert, aber die kommen jetzt von einer ordentlichen, örtlichen Metzgerei, nicht etwa von der Metro oder so. Mein Chef hat mir das ganz eiskalt vorgerechnet, meine Maultaschen kosten ihn so-und-soviel EURO Wareneinsatz, alles Pille-Palle, das verkraftet jeder Wirt, und so-und-so-viel Personalkosten für mich und den anteiligen Beikoch und den Spüler, da kam er dann mit seiner tollen betriebswirtschaftlichen Rechnung auf fast drei EURO pro Maultasche, und er könne keine drei Maultaschen mit Kartoffelsalat mehr für 29,90 EURO verkaufen, erstens würden das die Leute kaum mehr zahlen, zweitens würde er selbst bei 29,90 EURO dafür noch Geld drauflegen. To make a long story short: ich darf keine Maultaschen mehr machen, ich habe jetzt zwei Vormittage weniger Überstunden – drauf g’schissen, meine Freundin ist eh weg, was will ich alleine im Bett? –, stattdessen kaufen wir die Maultaschen vom – zugegebenermaßen sehr guten – heimischen Metzger für 1,19 das Stück, ein paar Liter Brühe kriegen wir kostenlos, oder von mir aus, sagen Sie auch ‚unter der Hand‘ dazu. Jetzt rechnet’s sich wieder, drei große, durchaus gute Maultaschen mit Kartoffelsalat – den darf ich noch selber machen! Kartoffelsalat mit Konservierungsstoffen fertig aus’m großen Plastikzuber, das traut sich der Chef nun doch nicht …“ Rainer hält kurz inne, denkt wohl über seine eigenen Worte nach, um dann menetekelhaft zu ergänzen: „… das traut sich der Chef nun doch noch nicht – mit Zwiebelchen und Brühe für 15,80 EURO, das ist auch für den Chef wieder ein G’schäft, obwohl die eine oder andere Dame der feineren hiesigen Gesellschaft durchaus merken dürfte, dass das nicht mehr meine Maultaschen sind, sondern dass die Dinger verdammt so schmecken wie die Maultaschen vom heimischen Metzger, die sie ihrem Gatten zuweilen daheim serviert.“

Dass Schwaben mitunter durchaus komischen werden können, wenn es um ihre Herrgottsb’scheißerle geht, das weiß ich ja nun sehr gut, dennoch finde ich, dass Rainer gerade etwas übertreibt, zumal er ja offensichtlich kein richtiger Schwob ist, sondern nur ein bajuwarisch-schwäbischer Vetter, aber gerade diese entfernten, meist auch noch angeheirateten Vettern können manchmal päpstlicher als der Papst und schwäbischer als der Schwob als solcher sein. Ich versuche, ihn etwas auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen: „Sowas ist gewiss hart für einen ambitionierten Koch, zumal, wenn sie in Maultaschen eines Ihrer signature dishes sehen. Respekt für diesen Arsch in der Hose. Andere Köche meinen, sie müssten für ein richtig gutes signature dish in ganz anderen Sphären werkeln, meist erfolglos. Ein Koch, der seinen kulinarischen Fußabdruck mit einer Maultasche hinterlassen will, und zwar einer Maultasche ohne Hummer und nicht nach den Mondphasen gewickelt, der ist entweder kreativ wie ein Stück trocken Toastbrot und naiv wie eine Jungfer vor einer Massenvergewaltigung … oder er ist richtig gut und weiß, dass nicht verschissener Hummer den Unterschied macht, sondern Nachbars glückliches Kalb schlachtwarm verarbeitet mit frischen Kräutern vom Beet vor’m Haus, und wenn das einer kann, dann wird aus der Maultasche ein signature dish mit mächtigem Potential nach oben. Aber sind diese Maultaschen so wichtig für Sie, dass Sie das Leben als Koch in Deutschland des Jahres 2023 deswegen gleich globalgalaktisch scheiße finden?“

„Um ehrlich zu sein, um die Maultaschen geht es hier gar nicht, doch geht es auch schon irgendwie, aber eben nicht vordergründig, sie sind nur sozusagen das Bild für eine ganze Branche, … nein, lassen Sie mich lieber sagen, für eine ganze Profession. Als Koch bist du heute fast immer am Arsch. Als ich vor 30 Jahren gelernt habe, da waren der Koch und der Wirt, der Wirt und seine kochende Mutter oder sein kochender Schwiegersohn, der Koch und der honorige Hotelier, oft war der Wirt auch gleich der Koch in einer Person, die – das ist jetzt ein ganz großes Wort – die Zeremonienmeister einer ganzen Gegend. Zur Schlachteschüssel ging man da-und-da hin, weil sie ganz einfach die Beste weit und breit war, keiner machte die Hochzeitsessen so gut wie der-und-der, und die Ofenschlupfer von der alten so-und-so mit den Falläpfeln von ihrer alten Obststreuwiese waren nicht zu übertreffen. In dieser Liga wollte ich eigentlich immer mit meinen Maultaschen mitspielen: sehr solides Handwerk mit ein paar Ausreißern nach oben, nicht nach ganz oben, aber doch ziemlich nach oben, mit ein paar typischen Gerichten, die es halt vor allem in dieser Gegend gibt, die charakteristisch, prägend für die Gegend sind, da wollte ich in der Oberliga mitspielen, in meiner Küche, ich wollte nie durch Fernsehstudios tingeln und dort die allgemeine gemeine Kochhure geben, ich wollte kochen, richtig kochen, Gäste nicht nur satt, sondern glücklich machen, ein paar junge Leute nicht nur ausbilden – wie man richtig und flott Zwiebeln schneidet, das kann jeder beibringen –, ich wolle wenigstens ein paar meiner jungen Leute zum Brennen bringen für unseren Beruf, ihnen nicht nur Handwerk beibringen, sondern das Feuer in ihnen entfachen, die Liebe zum Kochen, vielleicht, wenn ich älter bin, in aller Ruhe ein schönes Kochbuch schreiben, quasi als Vermächtnis. Und dann kommt der Chef mit seiner Betriebswirtschaft und streicht mir die Maultaschen von der Karte, ersetzt sie durch zugekauftes Glump, das rein gar nichts mehr mit mir als Koch zu tun hat. Ich bin doch nicht Koch geworden, um mir in Excel einen runterzuholen. Ich weiß, das ist auch das Problem von uns Köchen, deswegen gehen die meisten Köche, die sich frustriert selbstständig gemacht haben, ja auch ruck-zuck wieder mit Pauken und Trompeten pleite, die Wahrheit ist wohl irgendwo zwischen Excel-Sheet und Kochtopf. Aber will ich nahezu exakt ausrechnen können, wieviel Kilo Lachs eine durchschnittliche Passagierladung eines Kreuzfahrtschiffs an einem Abend wegfrisst? Nein, will ich nicht. Ich will guten Lachs bestellen, und ich will zu viel Lachs bestellen, und ich will meinen Gästen guten Lachs bis zum Abwinken servieren können. Und aus den Resten will ich am nächsten Tag Lachsterrinen, Lachsnudeln, Lachs-Canapés, Lachsstrudel, Lachs-Ballottinen … you name it … zaubern dürfen, spontaner Kochspaß fast zu Eh-da-Kosten für mich, spontaner kulinarischer Spaß zu fast Eh-da-Kosten für meine Gäste. Aber heute sind die Restaurantbetreiber – die meisten verdienen nicht den Ehrentitel ‚Wirt‘ – zuallererst eiskalte Betriebswirtschaftler. Die geben sehr viel Gehirnschmalz und Marktforschungsbudget aus, um den Zeitgeist und die Besucherströme zu analysieren und bis auf das letzte Hühnerfleischfitzelchen auseinanderzunehmen. Diese Zeitgeiste und Besucherströme werden dann durch Wareneinsatz und Personalkosten dividiert, subtrahiert werden Designerkosten für ein ‚absolut uniques, authentisches, einmaliges, hippes, angesagtes‘ Ambiente und meist viel zu teure 1a-Lagen-Mieten, was übrig bleibt, wird dann die innovativste Speisekarte jenseits von Stockholm und Singapore, der Fraß hat gigantische Namen und Preise, der Trick ist es, die letzte 08/15 Convenience so zu veredeln, dass es schwierig ist, sie zu erkennen und sie nachzukochen, fermentierte Shiso-Kresse ist hier gerade so’ne Nummer, die aktuell gerne durch’s kulinarische Dorf getrieben wird, dann noch genügend Geld in Influencer, Schnorrer, angeblich etablierte Food-Journaille investiert, die meisten von denen sind käuflich, mal sind es die Schreiberlinge selber, meist sind es die Verlagshäuser, die Dir All-inclusive-Wohlfühlpakte zum Ruhm anbieten, im Gegenzug für genügend Werbeschaltungen und gelegentliche Exklusiv-Storys. Sag mal, Du“ – jetzt duzt es mich wieder, rin in de Kartoffeln, raus aus de Kartoffeln – „kennst doch diesen ganzen künstlichen ‚Ich designe mir jetzt ein Restaurant aus der Retorte‘ – Scheiß: sind die Leute wirklich so blöd, dass sie das glauben und schlucken?“ „Ja, sind sie, so sicher wie das Amen in der Kirche. Und zahlen tun sie’s auch, ohne Murren und Knurren, solange es nur hipp ist.“ „Armes Deutschland!“ entgegnet Rainer. „Nochmals schlimmer als diese ganzen geldscheffelnden Location- und Food-Designer sind dann diese kriminellen Geldwäscher-Veranstaltungen. Da ist ein Viertel schon auf den Hund gekommen, nur noch Döner-, Pizza- und Asia-Buden, selbst der letzte ehrliche Frittenstand und die gemütliche Eckkneipe haben längst aufgegeben, und dann kommt der tausendundeinste Dönerladen dazu, wieder so ein zweifelhaft gekühlter Klops von Separatorenfleisch vor dem Grill, wieder Bottiche von Fertigsaucen und industriell geschnippeltem Grünzeugs, was hat das denn mit Kochen zu tun, und vor allem, wer frisst den Dreck? Das ist doch eh meist nur Geldwäsche, und ob da ein manipulierter Geldspielautomat oder ein dubioser Dönerspieß an der Wand hängen, Betrug ist’s allemal. Aber versuch‘ mal, als ehrlicher Koch gegen einen Fünf-Euro-Döner ‚mit Alles und scharf‘ ankochen zu wollen, G’schissen.“ Rainer ist sichtlich in Rage.

Ich versuche es mal andersherum und krame meine Marketing Basics heraus. „Kannst Du“ – das Imperium duzt jetzt zurück! – „mir mal Deine Zielgruppe beschreiben?“ „Meine was?“ „Nur so interessehalber, was weißt Du über die Leute, die so zu Dir zum Essen kommen?“ Rainer brummt und denkt kurz nach. „Habe ich mich noch nie so gefragt. Welche Leute kommen zu mir zum Essen? Meist älter, junge Leute kommen ganz selten zu uns in’s Lokal, und wenn, dann eingeladen zu Omas Geburtstag oder zum Sonntagsmahl mit Mamma und Papa, aber dass da mal ein junges Pärchen oder von mir aus eine ausgelassene Studenten-Runde bei uns wären, das ist die absolute Ausnahme. Die älteren Herrschaften sind fast immer gut gekleidet und sehen mehr oder minder geldig aus, müssen sie ja auch sein, wenn sie bei uns essen, unter 100 EURO gehen zwei Leute bei uns schwerlich raus. Dann sind da noch Geschäftsleute, meist im feinen Zwirn, die ihre Spesen beim Geschäftsessen bei uns lassen, manchmal auch Militärs in Uniform, wahrscheinlich hohe Tiere, teilweise sogar mit ziemlich ruppigen Bodyguards mit zweifelhaften Manieren für ein Haus wie das unsere. Und natürlich immer wieder Touristentrauben, meist Asiaten, keine Ahnung, aus welchen Ländern, wir stehen wohl in irgendwelchen asiatischen Reiseführern als typisch regionaler kulinarischer Geheimtipp. Aber das war’s dann auch schon. Handwerker im Blaumann, den sehe ich zwar öfters bei mir in der Küche, um irgendwas zu richten, im Lokal an einem Tisch sitzen habe ich noch nie einen gesehen. Jetzt fällt mir erst auf: auch keine Rettungssanitäter, keine Feuerwehrleute, solche Leute würde man ja an ihrer Arbeitskleidung erkennen, wenn sie während ihres Dienstes zu Mittag essen, Neubürger habe ich auch noch nie wahrgenommen, während wir im Rahmen der kulinarischen Völkerverständigung und Integration jährlich Milliarden in Dönerbuden und Restaurants aus aller Herren Länder schleppen, außer den Touristen sind alle unsere Gäste vom – wie heißt es doch politisch korrekt? –mitteleuropäischen Phänotyp. Versteh‘ das jetzt bitte nicht als rassistisch, ich habe überhaupt nichts gegen andere Phänotypen, man sieht halt aus, wie man aussieht. Aber das fällt mir gerade jetzt erst in unserem Gespräch auf, dass offensichtlich nur Mitteleuropäer zu uns zum Essen kommen. Es muss doch auch wohlhabende – keine Ahnung – Inder, Araber, Neger …“ (er hat tatsächlich ganz unbekümmert das N-Wort gesagt) „… in der Gegend geben, in unserem Lokal habe ich noch keinen davon wahrgenommen. Ein Mitteleuropäer in einem indischen Lokal ist die größte Selbstverständlichkeit auf der Welt, da freut man sich als Gast eher, wenn auch ein paar Inder dort essen, das ist meist ein Zeichen dafür, dass die Küche halbwegs authentisch und gut ist. Aber ein Inder in einem mitteleuropäischen Lokal in Mitteleuropa? Ich würde mich an keinen erinnern, zumindest an keinen, der irgendwie als Inder erkennbar war. Ich muss jetzt aufpassen, dass ich mich hier nicht um Kopf und Kragen rede. Ganz klar, mir ist ein indischer Gast, der sich benehmen kann, genauso lieb wie ein deutscher Gast, der sich benehmen kann; und mir ist ein indischer Gast, der sich nicht benehmen kann, genauso unlieb wie ein deutscher Gast, der sich nicht benehmen kann. Die Nationalität meiner Gäste ist mir sowas von egal, ich bekoche jeden gerne, der Hunger hat, gutes Essen zu schätzen weiß und sich benehmen kann. Und der natürlich zahlen kann. Was mich vielmehr umtreibt, ist die Frage, warum kommen die nicht-mitteleuropäischen Phänotypen offensichtlich nicht zu uns zum Essen? Sind wir daran schuld? Haben wir am Restaurant-Eingang irgendeine unsichtbare Barriere aufgebaut, Schwellenangst, dass sie sich nicht trauen oder nicht mögen? Machen wir irgendwas falsch, mangelnde oder falsche Höflichkeit beim Service, falsche Einrichtung, falscher Blumenschmuck? OK, wir haben ein Kruzifix im Gastraum hängen. Manche mögen auch Angst haben, dass ihr Zwiebelrostbraten in einer Pfanne gebraten wird, in der vorher ein Schweineschnitzel lag. Religiöse Gründe, sowas muss man respektieren, aber das können doch nicht alle sein. Oder mögen sie unser Essen einfach nicht? Sind der statistisch repräsentative Inder und die typische schwäbische Maultasche einfach kulinarisch inkompatibel? Wäre eine Möglichkeit. Aber warum sind dann der statistisch repräsentative Deutsche und die typisch indische Samosa durchaus kulinarisch kompatibel? Fragen über Fragen. Über sowas habe ich noch nie nachgedacht. Dabei würde ich – bleiben wir dabei – einem Inder auch sehr gerne die Highlights unserer Küche zeigen, und das auf einem guten Niveau. Und mich würde seine Reaktion, sein Feed-Back ehrlich interessieren. Was ich allerdings niemals machen würde, wäre Samosas und Tandoori Chicken auf die Speisekarte zu nehmen, nur um den statistisch repräsentativen Inder als Stammgast zu gewinnen. Dabei könnte ich’s sogar kochen, habe ich auf dem Schiff gelernt, wahrscheinlich längst nicht so gut, wie ein echter indischer Koch, aber hinkriegen würd‘ ich’s … zumindest irgendwie. Aber Samosas und Maultaschen nebeneinander auf der Speisekarte, das würde das Restaurant seiner kulinarischen Seele berauben, dann wären wir ein weiterer pseudo-internationaler Schuppen mit krampfhaft zusammengestoppelten und schlecht, zumindest nicht perfekt gemachten Gerichten aus aller Herren Länder, wahrscheinlich das meiste eh‘ Convenience, um Herren aus allen Ländern anzuziehen und sie so zu füttern, wie sie’s von daheim gewohnt sind. Das wäre wie das Wiener Schnitzel im Hotel auf Bali. Grässlich.“ Rainer hält in seinem Redefluss inne, er scheint nachzudenken, ich lasse ihn denken. „Aber Moment mal, das bringt mich auf eine Idee.“ fährt er unvermittelt fort. „Mandu aus Korea, Baozi aus China, Pelmeni aus Russland, Pierogi aus Polen, Gyozas aus Japan, Schlutzer aus Südtirol, natürlich Ravioli und Tortellini aus Italien … da gibt es sicherlich noch viel mehr, wenn man ein bisschen sucht, die habe ich zwar noch nicht alle selber gekocht, aber garantiert zumindest schon mal gesehen auf dem Schiff. Das wäre doch eine Idee: irgendwie sind das doch alle genau wie unsere Maultaschen Nudelteig mit einer Füllung aus Hack und sonst irgendwas, zu einer Teigtasche geformt, abgekocht und mit irgendeinem Topping heiß serviert. Ob ich das dem Chef mal vorschlage: ‚Großer internationaler Nudelteigtaschen-Contest im Restaurant ***‘ – wie klingt das?“ „Sehr gut!“ antworte ich, fürbass erstaunt und erfreut über diesen unmittelbaren Kreativitätsausbruch. Auch wenn der Kerl gerade stocksauer und angepisst wegen seiner Maultaschen ist, als Koch brennt er noch immer. Rainer spinnt seine Idee weiter: „‘Ein Dutzend verschiedene Nudelteigtaschen aus allen Kontinenten im Wettbewerb mit unseren Maultaschen auf einer Speisekarte! Kleine Portionen erhältlich, um alle probieren zu können! Unser Chefkoch hat auf Kreuzfahrtschiffen die sieben Weltmeere befahren und von allen Kontinenten originale Nudelteigtaschen-Rezepte mitgebracht!‘ – eine Geschichte muss ja nicht ganz stimmen, Hauptsache, sie klingt gut! – ‚Und jetzt bietet Chefkoch Rainer die zwölf besten Nudelteigtaschen auf einmal im Restaurant ***‘“ Ich bin beindruckt, wie Rainer aus dem Stand von Nörgel-Genöle in perfektes Marketing-Sprech verfallen kann. „’15-gängiges Menue mit 13 verschiedenen Nudelteigtaschen, Vor- und Nachspeise 139 EURO, ohne korrespondierende Weine.‘ Mensch, die meisten Dinger sind im Gegensatz zu unseren aufwändigen Maultaschen Streetfood mit einfachsten, billigsten Zutaten und einfachster Zubereitung, das kannst du am Straßenrand auf’nem wackligen Campingtisch machen. Und vorbereiten kann man die Teile auch. Sollte mich stark wundern, wenn mir die Betriebswirtschaft von Chef da reingrätschen könnte.“ Rainer wirkt unkonzentriert, ich glaube, er blättert bereits in Kochbüchern, und das Gespräch franst ohnehin aus. „Weißt Du, was das Problem wird?“ fragt er mich. „Die richtigen Zutaten zu beschaffen? Deinen Chef davon zu überzeugen?“ rate ich. „Quatsch, das kriege ich hin. Die Amis werden das Problem. Mir fällt um‘s Verrecken keine US-Nudelteigtasche ein, außer den geklauten Ravioli. Kulinarisch sehr kreativ waren die Amis ja noch nie, außer immer größere Fleischstücke auf überdimensionierte Grills zu werfen und das Kochen mit immer mehr künstlichen Fertigprodukten mit möglichst viel Zucker zu vereinfachen. Aber vielleicht finde ich ja was bei den Kanadiern oder den Mexikanern – Mexiko ist doch noch Nordamerika, oder? –, die Mexikaner haben super-tolle, kreative Regionalküchen, die Küchen der indigenen Ureinwohner, Mayas, Zapoteken, Olmeken und wie sie alle hießen, dann die Spanier, ein wenig Habsburg, eine kolossale kulinarische Melange, da finde ich bestimmt auch eine heimische gekochte Nudelteigtasche.“ Ich merke, dass Rainer nicht mehr bei mir und unserem Gespräch ist, sondern beim Planen. Also bedanke ich mich artig und beende das Telephonat.

Vier Monate später erhalte ich eine Einladung in’s Restaurant*** zum „Grand Opening des Großen Internationalen Nudelteigtaschen-Contests – vier Wochen lang kulinarische Highlights rund um die Nudelteigtasche aus aller Welt“; fast zeitgleich kommt eine kurze Mail von Rainer, er hat mich auf die offizielle Einladungsliste geschmuggelt, wir kennen uns nicht, haben nie gesprochen und ich solle bloß meine Klappe halten. Ehrensache, Rainer. Der Eröffnungsabend ist denkwürdig. Über drei Monate hatte Rainer, meist in seiner Freizeit, Rezepte gesucht, studiert, ausprobiert, modifiziert, ratsuchend mit alten Kollegen vom Schiff telephoniert, auch mal verstohlen Essen gegangen, wenn sich die Gelegenheit ergab, wie die Kollegen am Ort das so machen, schließlich verworfen oder für gut befunden, bis er seine „Kombattanten“ beisammenhatte. Und nun war es so weit: das Restaurant gerammelt voll, viele der örtlichen Honoratioren, Lokalpresse, Stammgäste, Lieferanten, Polit-Schnorrer. Rainer hatte ja ursprünglich zwölf internationale Nudelteigtaschen plus Maultaschen geplant, ausgerechnet hier war ihm sein Chef reingegrätscht, alldieweil er abergläubisch ist, 13 Gerichte waren ihm suspekt, also nur elf internationale Nudelteigtaschen plus Maultaschen, dazu Vor- und Nachspeise. Diese 14 Gänge wurden – welch Wahnsinn – als gesetztes Menue serviert, und das bei vollem Haus. Der Wirt muss für diesen Abend alles an Personal mobilisiert haben, was ein Tablett halten kann. Ich hätte ein pragmatisches Buffet erwartet, mit Bain Maries voller unterschiedlicher Nudelteigtaschen, aber nein, Rainer hatte ganz andere Pläne. Zuerst hielt der Restaurantbesitzer eine kurze Begrüßungsrede über Tradition und Internationalität in seinem Haus, dann der Geschäftsführer der örtlichen Brauerei über die landes-, ja bundesweite kulinarische Leuchtturm-Funktion des Restaurants, zum Schluss auch noch der Polit-Schnorrer, irgendein stellvertretender Nirgendwer, der sagte vor allem, dass er gerne wiedergewählt würde. Dann begann Rainers Feuerwerk. Als Vorspeise – wer hätte es gedacht – Carpaccio von der Kalbsmaultasche mit der originalen Cipriani-Sauce (das Carpaccio wurde in den dreißiger Jahren von Giuseppe Cipriani erfunden, um die anämische Gräfin von Carpaccio augzupäppeln; als Dressing dazu reichte er nicht – wie heute meist üblich – Zitrone und Öl, sondern eine mit Milch oder Sahne und viel Worcestershiresauce verlängerte Senfmayonnaise auf Olivenöl-Basis). Dann folgte ein Stakkato aus zwölf verschiedenen Nudelteigtaschen-Gerichten, jede Teigtasche anders geformt und gefüllt, Nudelteige von unterschiedlicher Textur, Dicke und unterschiedlichem Geschmack, und jeder Teller unterschiedlich mit ganz verschiedenen Toppings oder Beilagen angerichtet – und das für geschätzt 100 Leute gleichzeitig, eine Herkulesaufgabe für Küche und Service. Diese Effekte der unterschiedlichen Teller und Beilagen wären bei einem profanen Buffet verpufft bzw. gar nicht erst entstanden. Hier präsentierte Rainer jede einzelne Teigtasche als individuelles, für sich stehendes Gericht, und jeder Teller schmeckte wirklich anders. Die Maultaschen hatte er sich für den Schluss, quasi als krönenden Abschluss aufgehoben: die armen Kerlchen waren gewiss gut, aber sie hätten von mir aus auch mit Trüffel und Kaviar gefüllt und in Goldfolie eingewickelt sein können, fast alle Gäste waren so voll, dass sie nur noch einen Höflichkeits-Bissen nahmen. Natürlich musste Rainer zum Dessert noch Eins draufsetzen: Trilogie von süßen Teigtaschen mit Piroggen mit einer Nussfüllung, Baozi mit eine undefinierbaren süßen Fruchtfüllung und eine Art Ravioli mit einer Ricotta-Vanillefüllung, alles in reichlich flüssiger Butter schwimmend und mit frischen Beeren und kleinen Tupfern irgendwelcher Cremes verziert. So geht Menue, würde ich sagen, nur an der Größe – besser an der Kleine – der einzelnen Portionen sollte Rainer noch arbeiten. Das Ende vom Lied? Der Abend war ein voller Erfolg, die Lokalpresse überschlug sich in Lobhudeleien, endlich kulinarisch wirklich mal wieder was los in dem Kaff, selbst die überregionale und die Freßpresse griffen das Thema auf, das Restaurant vier Wochen fast jeden Tag ausgebucht, der Chef hochzufrieden, jetzt gibt es dreimal im Jahr für jeweils einen Monat solch einen Contest, immer ein einheimisches Gericht gegen seine internationalen Vettern und Basen, aber daneben bleibt die Speisekarte geradezu stur traditionell-schwäbisch, gehoben gut-bürgerlich mit einzelnen, vorsichtigen klassischen Hochküchen-Einsprengseln. Rainer hat jeweils drei Monate Zeit, ein neues Thema für den nächsten Contest zu finden, eine Speisekarte zu entwerfen und auszuprobieren und seine Brigade dafür zu schulen. Einen richtigen Sous-Chef hat er auch bekommen, der ihn echt entlastet. Und das Wichtigste: Rainer darf wieder selber Maultaschen machen.

P.S.: Wer jetzt neugierig frohlockt und meint, Bayrisch Schwaben, Maultaschen, überregional beachteter Nudelteigtaschen-Contest, denkmalsgeschütztes Fachwerkgebäude seit 350 Jahren im Familienbesitz — das muss sich doch einfach recherchieren lassen, um welches Restaurant und welchen Koch es hier geht, den muss ich jetzt bitter enttäuschen: Bayrisch Schwaben, Maultaschen, Nudelteigtaschen-Contest, das ist alles – wenn man böse sein will – erstunken und erlogen, man könnte es auch zum Quellenschutz „verfremdet“ nennen. Die Erzählungen sind von der Sache her 1:1 von ‚meinem‘ Koch, aber vielleicht waren es ja eingelegte Heringe oder Rouladen statt Maultaschen, vielleicht war es Meck-Pomm oder Tirol statt Bayrisch Schwaben. Viel Spaß beim Suchen.

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