Summa summarum: Authentisches Essen wie früher, plump, fett, unkreativ, altmodisch, gestrig, ein kulinarisches Museum, in dem die Zeit stehen geblieben ist, in verstaubter Umgebung mit Bedienungen auf dem schmalen Grat zwischen Lässigkeit und Frechheit
Als ich 1980 mit frisch gebrochenem Herzen das Studieren in München begann, war die Welt – mit Ausnahme des jähen Endes der Beziehung zu meiner Oberstufen-Liebe, die mich mit ihrem siebzigjährigen Reitlehrer betrogen hatte (aus heutiger Sicht kann ich da nur „Chapeau“ sagen, nicht zu der Buhle, sondern zu dem den rüstigen, rolligen Rentner-Reit-Rammler) – noch in Ordnung. Franz Josef Strauß sollte noch fast acht Jahre uneingeschränkter Souverän in Bayern sein, der Warschauer Pakt war böse, die NATO gut, die Mauer dicht, in beide Richtungen, Honecker berechenbar, hunderttausende Besatzungssoldaten drangsalierten Deutschland im Inneren (heute kommt die Drangsal diskreter von außen), man zahlte mit D-Mark und an der Grenze wechselte man 1 Mark gegen 1.000 Lire, in dem Witzkaff Bonn regierte mit Helmut Schmidt der wohl beste Kanzler, den die CDU je hatte, die Türken waren noch weitestgehend in der Türkei, und Moscheen kannte man nur aus Karl-May-Filmen, an den Unis spukten die letzten unverbesserlichen Altkommunisten, Marxisten. Leninisten, Stalinisten, Maoisten, Anarchisten und wie sich das Gesindel sonst noch nannte, in Hessen wollte der wackere Soze Holger Börner („Ich heiße Börner, wiege 250 Pfund und wenn ich Zorn habe das Doppelte“) das sich neu formierende grüne Gesindel mit Dachlatten aus dem Parlament prügeln, dazu die ganze Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft mit Graeter und „Extrablatt“, der widerliche Moshammer mit blauhaariger Mutter und chronisch auf dem Bürgersteig parkendem Rolls Royce, nebenan versuchte Dieter Dorn, internationales Theater zu machen, Sperrbezirk, Gauweiler, Spider Murphy Gang, der unglücklich verliebte Freddy Mercury zusammen mit Barbara Valentin als Dauergäste im „Frisco“, dort die Travestieshows von Miss Piggy und Alban, Fassbinder schwadronierend oder trunken, meist aber beides in der „Deutschen Eiche“, der Streit von William Deck (Karl Georg „Charles“ Schumann arbeitete damals noch als Keeper bei Deck, bevor er 1982 seine „Schumann’s American Bar“ in der Maximilianstraße 36 eröffnete) um das Markenrecht an „Harry’s Bar“ (heute heißt seine Bar „Pusser’s“ und braucht längst keinen Harry mehr), plötzliche Koks-Schwemme, Witzigmanns „Aubergine“ das erste Drei-Sterne-Restaurant in Deutschland, und im Glockenbachviertel fing Ederer ganz klein und leise an, so völlig anders, faszinierend, leicht, regional zu kochen, Schuhbeck war noch in Waging und legte gerade seinen zweiten Konkurs hin (tröstete sich aber dem Vernehmen nach mit dem frisch eingetroffenen Koks trefflich), Fleischbeschau im „P1“ und „Sugarcheck“, und die Überreste der ganzen Mischpoke trafen sich dann um 5 Uhr morgens bei Marietta im verrauchten „My Lord“ oder in der „Schmalznudel“ am Viktualienmarkt, unvermittelt, wie ein Schlag ins geile, ungeschützte Leben die ersten AIDS-Toten in Deutschland … das war eine andere Zeit, ja eine andere Welt.
Auch kulinarisch war das eine andere Welt, wenngleich sich das dräuende Unheil mit den ersten McKotz-Filialen und Schabefleisch-Spießbratereien schon am Horizont abzeichnete. Die Zeitschrift „Menü“ – ein erster journalistischer Versuch, Esskultur in’s krautdampfige Deutschland zu bringen – war irgendwie vom Markt verschwunden, statt dessen waren der „Feinschmecker“ aus dem Jahreszeiten Verlag und „esssen&trinken“ von Gruner + Jahr daran gegangen, Post-Wirtschaftswunder-Deutschland mit gedruckter Esskultur zu versorgen, in der „Zeit“ belehrte und grantelte – mit zunehmendem Alter auch zunehmend grantelnd – Altmeister Siebeck unbehelligt von Theo Sommer vor sich hin, wer’s sich leisten konnte, pilgerte zu den Haeberleins und berichtete den staunenden Direktions-Kollegen am Kamin bei Hennessy Cognac von Schnecken und Foie Gras, Italienische und Chinesische Restaurants und Fast-Food-Buden vermehrten sich mit einem Male wie die Karnickel, „Bella Italia“ war damals die erste Italienische Restaurantkette mit ordentlichen Pizzen für 4,90 DM und einem offenen Lambrusco, der einem am nächsten Morgen die Schädeldecke wegsprengte (liebliche Weine waren durchaus noch en vogue, und der Unterschied zwischen lieblich und Glykol war noch nicht explizit thematisiert worden), mit den Jahren hielt der Sterne-Zirkus auch vermehrt in Deutschen Restaurants Einzug, einerseits sicherlich zum Guten und weg von der Knödel-mit-Kraut-Dominanz, andererseits zum Schlechten mit der unkritischen Unterwerfung unter das anonyme Diktat anonymer Rumkrittler und ihrer vermeintlichen Kriterien und Erwartungen sowie dem Trend nicht zur Verfeinerung, sondern zum Chichi. Bei den Italienischen Restaurants war zu dieser Zeit in München sicherlich die „Osteria Italiana“ in der Schellingstraße die prima inter pares, bereits 1890 als „Osteria Bavaria“ als kulinarisches Kontrastprogramm zu Haxe und Bier vom italophilen Gastronomen Josef Deutelmoser eröffnet, nach dem Zweiten Weltkrieg dann von Clotilde Salvatori übernommen und in „Osteria Italiana“ umbenannt, bekannt auch aus der bedrückenden Hochzeitsfeier-Szene von Emmi Kurowski (Brigitte Mira) und Ali (dem späteren Juwelenräuber El Hedi ben Salem) in Fassbinders Melodram „Angst essen Seele“ auf. Nobleres Italienisches Essen gab es im „Canale Grande“ in Nymphenburg, und wem nach derber Italienischer Hausmannskost war, der ging zu „Mario“ in der Adalbertstraße, wo angeblich in den sechziger Jahren die erste Pizza Münchens serviert wurde. Franz Josef Strauß war Stammgast dort, bis heute gibt es den Tisch seines Stammplatzes, bei dem ein großes Stück aus der dem Tischfuß herausgeschnitten ist, weil FJS angeblich nach Beinfreiheit verlangte. Als Student, zumal als BAFöG-Student konnte ich mir das „Mario“ damals kaum leisten, schleppte aber meine zahlenden Eltern gerne dahin, wenn sie mich in München besuchten, und sie ließen sich, wenn ich mich recht entsinne, gerne schleppen. Der Gründer und Patron, Mario Gargiulo, starb vor zwei Jahren, heute leitet seine Tochter Marie-Lisa, eine gelernte Köchin die Geschäfte. Auch wenn sie nebenbei werbeträchtig als medial gehypter Kochclown durch die Privatfernseh-Deppen-Sender tingelt, dabei allerlei überflüssige Allerweltplätze über richtige Nudeln und Tomatensaucen zum Besten gibt oder Pizza-Bäcker-Wettstreite entscheidet, die Küche bei „Mario“ ist heute nach wie vor altbacken, plump, fett, schwer, Innovations-frei, unkreativ, schlichtweg gestrig, ebenso wie die Einrichtung des Lokals, Sitznischen von dunklen Holzwänden eingerahmt, kitschige Italien-Malereien, Folklore-Lampen spenden düsteres Licht, bunter Fliesenboden, überall volle, stehende Weinflaschen, das Einzige, was noch für das Original-Siebziger-Jahre-Feeling fehlt sind eigentlich die 1,5 Liter Chianti-Korbflaschen mit Kerzen und viel zerlaufenem Wachs, je mehr desto imposanter.
Das klingt jetzt alles sehr böse, ist es aber nur zum Teil. „Bei Mario“ in der Adalbertstraße ist einer dieser seltenen Orte, in denen die (kulinarische) Zeit stehen geblieben ist. Das „Boettner“ am Platzl war solch ein magischer Ort, bis Schuhbeck es 2016 okkupiert und getötet hat, auch der „Alte Wirt“ in Obermenzing war eine solche Institution, solange die Sterns drauf waren, dem „Atziger“ hat der letzte Umbau und Pächterwechsel den Todesstoß versetzt, zum Glück verteidigt Evelin Mehr die Authentizität des „Schelling Salons“ bis heute wacker und erfolgreich gegen jedwede Modernismen. Die einen mögen jetzt sagen, kulinarische Entwicklung ist normal, wichtig, positiv, wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit, heute ist alles besser, leichter, frischer, gesünder, unseren geänderten Lebensweisen angepasster als früher, … und so weiter, und so fort. Stimmt … zum Teil. Zuweilen aber ist das Alte auch gut, sicherlich nur zuweilen, aber auch die kulinarische Tradition hat ihr Recht, Hummer Thermidor, Crêpe Suzette oder Steckrüben sind ja nicht per se schlecht, nur weil sie sich heute auf keiner Speisekarte mehr finden (obwohl, Steckrüben sieht man jetzt vereinzelt sogar wieder). Nun gut, Hummer Thermidor gibt es „Bei Mario“ gewiss nicht. Aber die Küche ist einfach in den siebziger, achtziger Jahren stehen geblieben. Vitello tonnato durchaus akzeptabel, gutes, zartes Kalbsfleisch, aber eine zwar wohlschmeckende, aber unendlich dicke Thunfischsauce mit Fertig-Mayonnaise. Die Tomaten auf der Bruschetta sind lieblos geschnippelte, geschmacklose, kaum gewürzte Allerwelts-Tomaten, das Brot darunter labbrig verpappt, dazu vorkonfektionierte, zähe, geschmacklose Billig-Mozzarella-Kügelchen . Bohnensuppe aus weißen Cannellini-Bohnen aus der Dose, wahrscheinlich samt der Dosenflüssigkeit und wenig Tomatenmarkt aufgekocht, weitgehend ungewürzt, geschmacksfrei und Mikrowellen-heiß, gewiss keine Glanzleistung. Aber die Pizza Pane dazu frisch aus dem Ofen, knusprig, heiß, frischer Rosmarin und gutes Olivenöl darauf, neidlos eines der besten Pizzabrote, das ich in meinem ganzen Leben gegessen habe. Gemischter Salat ordentlich geputzt, frisch, knackig, aber geschmackloses Grünzeugs aus Massen-Salat-Haltung, unangemacht, Essig und Öl bei Tisch akzeptabel. Die Lasagne kommt daher als Hand-großes Stück aus dem großen Reindl, tatsächlich mit Béchamel-Sauce (wird heutzutage immer öfters ersatzlos einfach weggelassen oder durch Billig-Mozzarella ersetzt) und mit ordentlichem Fleischragout, die Nudelplatten relativ dick, vielleicht sogar selbst gemacht, darauf viel dicker, zäher, fetter, kaum schmeckender Käse, alles nochmals mit Ragout-Sauce umgossen und erwärmt. Man braucht schon einen extrem hohen Kaloriendurchsatz, um sowas essen zu können. Die Spaghetti Carbonara große Portion, al dente, guter Speck, aber Sahne in der Sauce statt nur Eigelb, eigentlich ein Grund, ein Lokal gar nicht erst zu betreten. Der Pizzaboden und –rand tadellos, aus dem Holzofen, knusprig, nicht durchgeweicht, ordentliche Tomatensauce, qualitativ-geschmacklich sehr gute eingelegte Paprika und Kapern, aber 08/15-Wurst aus der Großpackung, und wieder Tonnen von fettem, zerlaufenem, zähem, kaum schmeckendem Käse, den kein Mensch heute mehr braucht. Der Seeteufel von der Tageskarte so lange gegart, bis er zäh und ledern werden musste, was wahrscheinlich recht gut war, da der Fisch keinesfalls wirklich frisch mehr war, das Gemüse dazu wohl nicht aus dem Convenience-Beutel, sondern selbst gemacht, aber total verkocht, breiig, aufgewärmt. Tiramisu als Dessert nicht zu beanstanden, Panna Cotta gänzlich Vanille-frei, zu viel Gelatine, die Erdbeersauce trotz Erdbeer-Saison aus der Fertig-Flasche. Die Bedienungen dazu sind meist schnell, ergehen sich in gespielter südländischer Heiterkeit und Lässigkeit bis zur Aufdringlichkeit und Frechheit (ein nach eigener Aussage Kellner aus Griechenland, aber mit bewusst italisierendem Idiom, der sein Gastland Deutschland gegenüber Restaurantgästen wüst beschimpft – O-Ton: „Alles Scheiße hier.“ – und seinen Betrügerstaat als schönstes Land der Welt preist), das Publikum ist ein gesichtsloser Durchschnitt aus Schwabings Straßen mit hohem Senioren-Anteil.
Tja, ich muss sagen, wenn man sich „Canale Grande“ und „Osteria Italiana“ nicht leisten konnte, dann hat man exakt so in den Siebziger und Achtziger Jahren Italienisch gegessen und meinte dabei, das sei authentische Italienische Küche, genauso wie jenseits des Brenners … was sie zu der Zeit wahrscheinlich sogar war. Heute sind das Reminiszenzen, Erinnerungsstücke, Stoff, mit dem man seinen Kindern praktisch vorführen kann, wie karg und schwer man selber es früher hatte, unter welchen Umständen man sein hartes Leben fristen musste … Das ist museale Küche.
Bei Mario
Italienisches Spezialitäten-Ristorante
Marie-Lisa Gargiulo
Adalbertstraße 15
80799 München
Tel.: +49 (89) 2 80 04 60
Mail: beimario1966@web.de:
Internet: www. ristorante-bei-mario.de
Hauptgerichte von 6,80 € (Spaghetti Aglio e Olio) bis 21,90 € (Gemischte Grillplatte), Drei-Gänge-Menue von 15,20 € bis 39,10 €
Das sagen die Anderen:
Guide Michelin (Booktable) Inspektoren: n.a.
Guide Michelin (Booktable) Gästebewertungen: n.a.
Gault Millau: n.a.
Gusto: n.a.
Schlemmer Atlas: n.a.
Feinschmecker: n.a.
Varta: n.a.
Yelp: 3 von 5 Sternen (bei 85 Bewertungen)
Tripadvisor: 3,5 von 5 Punkten (bei 174 Bewertungen)
Google: 4,1 von 5 Sternen (bei 359 Bewertungen)
Facebook: 4,5 von 5 (bei 98 Abstimmungen)
Bildquellen – Strauß / Honecker: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0226-315 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0; Witzigmann: Von Dreamworlds – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19173300