Sauftour in Wien: 1. Akt in der Blauen Bar

Danach kurz in’s Hotel, wohl verdienter, gleichwohl zu kurzer Mittagsschlaf, Siegrid holt uns um vier in der Blauen Bar ab, das ist generell praktisch, ein Hotel, dessen Bar bereits um 10:00 Uhr morgens öffnet. Wir warten an der Theke, in der Ecke zwei ganz offensichtlich halbseidene Herren, ich tippe auf Balkan, vielleicht Serben, mit zwei jungen, grell geschminkten Damen, die allem Anschein nach nicht von Stand sind. Ich bin nicht einmal empört, nur enttäuscht, dass zwischenzeitlich auch solche Leute hier Zutritt haben. Als ich das erste oder zweite Mal mit meinen Eltern hier war – vor etlichen Jahrzehnten, und doch entsinne ich mich genau –, saß in nämlicher Ecke Herbert von Karajan, umringt von einer Riege junger Damen, die gewiss alle keine angehenden Violinistinnen oder Klosterschülerinnen waren, und der Maestro hielt huldvoll Hof. Ich erinnere mich deswegen so genau, weil der Fiedelmeister mich ein paar Monate zuvor in Salzburg gequält hatte, meine Eltern hatten mich mitgeschleppt, ich weiß nicht mehr, in welche Oper, ehrfurchtsvoll sagten sie mir, ich hätte nun die Ehre, Karajan live zu erleben, ich war gespannt – und dann traf es mich mit voller Wucht und voll in die Fresse: Menschen in schwarzen Anzügen fiedelten und tröteten und trommelten und klimperten in einem Graben, dazu schrien darüber auf eine Bühne mit üppiger, aber kitschiger Dekoration fette Frauen und Männer in altertümliche Kostümen mit denaturierten, unmenschlichen Stimmen unverständliche Wortfetzten, noch nicht einmal die Sprache war für mich erkenntlich, in der sie sich anschrien, dazu fuchtelte der adlige Alt-Nazi vor den Fiedlern und Trötern und Trommlern und Klimperern in dem Graben unablässig mit einem Stöckchen und schien sehr wichtig zu sein, im Saal roch es penetrant nach Mottenpulver, ich tippte auf die vielen Pelzstolas und Fräcke (ja, damals noch Fräcke und Cuts), die für diesen Anlass aus der Mottenkiste geholt worden waren. Als das Fuchteln und Fiedeln und Tröten und Trommeln und Klimpern und vor allem das denaturierte Schreien der fetten Leute ein schließlich ein Ende hatte und endlich Stille war betrat der Stöckchenschwinger die Bühne, blickte steif stehend in’s Publikum, verneigte sich tief, und dann brach ein Sturm los: die feinen Herrschaften um mich herum erhoben sich von ihren Plätzen und klatschten was das Zeug hielt, dazu „Bravo, Maestro, bravo!“ – Rufe, der Stöckchenschwinger stand steif auf der Bühne, neigte den Kopf zuweilen huldvoll nach links, vorne und rechts und tat ansonsten nichts. Irgendwann winkte er, und die denaturierten Jodler in ihren albernen Kostümen erschienen aus den Kulissen, stellten sich brav in einer Reihe links und rechts vom Stöckchenschwinger auf – wohlgemerkt mit gebührendem Abstand von demselben – und verneigten sich ebenfalls, derweil der Begeisterungssturm des denkenden und besseren Teils des Volkes um mich herum unvermindert anhielt. Irgendwann verschwanden dann die Jodler in den Kulissen, der Stöckchenschwinger badete wieder alleine in den Ovationen, bis er in den Graben deutete und die Fiedler und Tröter und Trommler und Klimperer in ihren schwarzen Anzügen sich erhoben und sich ebenfalls vor dem Publikum verneigten. Nach einiger Zeit – das Publikum tobte noch immer – verließen die Fiedler und Tröter und Trommler und Klimperer ihren Graben durch zwei Ausgänge links und rechts, und Karajan stand wieder alleine auf der Bühne, ich hatte erwartet, dass der Applaus abebbte, wenn der Typ nur noch alleine da rum stünde, aber nein, der Applaus schwoll nochmals an, als wolle man ihn für sein Stöckchenschwingen förmlich in den Olymp klatschen (ich hingegen hätte ihn maximal zum Mond schießen wollen), er verneigte sich noch ein paarmal nach links, vorne, rechts, genoss sichtlich die Ovationen, aber als der erste aufhörte zu klatschen und die Huldigungen abzuebben drohten tat er das Klügste, was man in dieser Situation tun kann: er drehte sich um und verschwand endlich, und ich durfte auch aus dem überhitzten, nach Mottenkugeln und zwischenzeitlich auch Schweiß riechendenden Saal mit verbrauchter Luft. Und – bevor jemand fragt – nein, ich mag keine Opern.

Karajan ist also definitiv nicht hier, Caro und ich sitzen auf Hockern an der kleinen Theke und blicken in dieses schrankartige Gebilde mit güldenem Bilderrahmen und Rollladen, das als Spirituosenregal dient. Unter den Flaschen entdecke ich tatsächlich einen Wien-Gin, wie sinnig, im Jugendstil-Gewand, aber kein Wunder, in einer Zeit, in der nahezu wöchentlich ein neuer Gin auf den Markt geworfen wird, aber das hatten wir schon verschiedentlich. Ich sage dem netten jungen Mädchen im Kleinen Schwarzen hinter der Theke mein Sprüchlein auf: „Martini Cocktail, extra, extra, trocken und kalt, Glas gefrostet, bitte Bareis, nur gewaschen, den Wermut komplett weggießen, gerührt, nicht geschüttelt, Lemon Twist, keine Olive, Nolly Prat, und heute probiere ich mal den Wien Gin.“ Sie hört mir aufmerksam und freundlich lächelnd zu und versteht offensichtlich kaum ein Wort; eine Ausbildung zur Barkeeperin hat diese junge Dame allenfalls nicht, und falls doch, so sollte sie sich dringendst ihr Lehrgeld zurückgeben lassen. Natürlich gibt es kein Bareis, nur wässriges Zeugs aus dem Thermo-Bottich, dann will sie den Wermut nicht wegkippen, sondern den Gin draufgießen, gerade noch kann ich Schlimmeres verhindern, als nächstes greift sie mechanisch konditioniert zum Bombay, auch hier muss ich intervenieren, bis sie den Wien-Gin nimmt. Sie rührt brav den Gin auf dem Eis, greift ein Cocktailglas aus dem Regal – „Ich hatte um ein gefrostetes Glas gebeten.“, sage ich, „Ähhh, so etwas haben wir nicht.“, antwortet sie: danke, dass wir darüber geredet haben –, gießt die Flüssigkeit durch ein Barsieb in’s ungekühlte Glas, fragt höflich „Mit Zitronen-Schnitz hatten Sie gesagt?“, und fängt an, eine Schnitze aus einer Zitrone zu schneiden. „Nein“, antworte ich, „Lemon Twist, nur die äußere, gelbe Zitronenschale, ohne Weißes und ohne saures Fruchtfleisch, nur die gelbe Haut, so groß wie vielleicht die Oberfläche eines Fingers.“ Brav schält sie nun eine Zitrone, wohl ohne genau zu wissen, was sie tut. „Und nun die Schale noch bitte über dem Glas verdrehen, danach in’s Glas werfen.“ Sie stellt das Glas auf einem kleinen weißen Deckchen vor mir auf den Tresen: Seufz. „Geben Sie mir bitte ein Bier.“, knurrt Caro klug. Plötzlich eine Umarmung von hinten, ich schrecke auf, doch diese unglaublich langen, dünnen, grazilen und doch kräftigen Arme mit diesen schlanken und ebenfalls unendlich langen Fingern, die würde ich überall erkennen, auch ohne Gesicht, dazu das unverkennbare Opium-Parfum von Yves Saint Laurent, ein olfaktorisches Relikt aus den Achtzigern, aber noch immer zeitlos-gut: Siegrid hat sich wieder einmal rein- und angeschlichen. Sie ist keine Diva, die einen Raum betritt und allein durch ihr Auftreten dominiert, einnimmt; sie ist eine Katze, die sich anschleicht, die immer irgendwo ist, zuweilen versteckt, zuweilen sichtbar, aber immer gefährlich, wehrhaft, stolz. Dann beginnt ein Herzen und Drücken und Küssen und Umarmen, Siegrid, Caro, ich – wie sich alte, uralte Freunde halt begrüßen, wenn sie sich lange nicht gesehen haben aber instinktiv fühlen, dass nichts an der Freundschaft sich geändert hat, trotz der Zeit, dass die Freundschaft quasi stärker ist als die Zeit. Siegrid bestellt sich ein Glas Champagner, auch eine sicherere Bank als mein Martini. Siegrid, Mona, die wir später treffen werden und ich haben zur gleichen Zeit in Wien studiert, daher kennen wir uns. Allerdings haben wir nicht zusammen studiert, Siegrid hat Medizin gemacht, Mona BWL und ich Medienwissenschaft. Kennengelernt haben wir uns in der Studentensauna, jeden Sonntag irgendwo im 9. Bezirk, ein Saunabesitzer hatte wohl gemerkt, dass Sonntag nicht allzu viel bei ihm los war und einen Deal mit dem Studentenwerk gemacht, für sensationelle 20 Schilling (heute umgerechnet 1,50 €) konnte man als Student/in dort den ganzen Sonntag schwitzend, badend, dösend, plaudernd verbringen, das war reell. In der kalten Jahreszeit waren wir fast jeden zweiten Sonntag dort, zuerst trafen wir uns hin und wieder eher zufällig, dann verabredeten wir uns systematisch. Danach gingen wir dann meist noch was trinken, manchmal eine Pizza essen, viel Geld hatten wir nicht, aber schön war’s trotzdem. Das war der Beginn einer wundervollen Freundschaft. Siegrid ist dann in Wien geblieben, hat ihre Assistenz absolviert, in der Chirurgie im Klinikum gearbeitet und sich dann relativ schnell als Ärztin selbstständig gemacht, und das augenscheinlich mit außerordentlichem Erfolg. Langsam füllt sich die Blaue Bar mit Gästen, ältere, distinguierte Herrschaften, die hier wohl ihren Nachtmittags-Tee oder –Kaffee einzunehmen gedenken, alldieweil sie keine Lust haben auf das von Touristenpublikum aus aller Welt überlaufene Sacher Café vorne an der Kärtner Straße (vulgo: Idiotenrennmeile), wo die Leute sich zum Teil erblöden, vor bulligen Türstehern Schlange zu stehen, bis sie einen Platz an den kleinen, eng bestuhlten Tischen ergattern können, um dann bei einem chronisch gestressten Kellner oder Kellnerin ein absurd teures Stück „Original Sacher-Torte“ und eine Melange zu bestellen und derweil unablässig mit ihrer Funke photographieren, um auch ja minutiös zu dokumentieren, dass sie in diesem legendären Torten-Disney-Land tatsächlich waren. Obwohl man als Hausgast im Sacher Café problemlos einen Tisch reservieren lassen kann, in diesen Proll-Schuppen will niemand freiwillig.

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