New economy success story mit Viral-Marketing und Gin

Seit Wochen will ich davon schreiben, dass ich Deutschen Rheinland Dry Gin namens Siegfried getrunken habe; und ich will schreiben, dass kein Mensch diesen Siegfried-Gin braucht (Entschuldigung, R.W. aus K.), ein weiteres gesichts- und charakterloses Wässerchen, das auf der nicht verebben wollenden lukrativen Modewelle des Gin-Hypes erfolgreich mitreitet. Aber irgendwie komme ich so nicht weiter.

Denn all das ist nur der Auslöser, und nicht die Geschichte, um die es hier eigentlich geht. Die wirkliche Geschichte muss von den Vätern dieser Mode-Spirituose handeln, das ist das eigentlich Interessante. Für den teutonischen Siegfried-Gin aus Bonn, Rheinland Dry Gin steht auf dem Etikett, 41 Umdrehungen, neben Wacholder schmeckt man Lindenblüten (klar, Siegfried, s.u.), Pfeffer, Honig, Zitrus, insgesamt 18 mystische Botanicals (in etwa das, was Miraculix in den Zaubertrank  wirft) sollen in dem Gebräu aus Bonn eine Symbiose eingehen, zeichnen Gerald Koenen, studierter Wirtschaftsrechtler sowie Raphael Vollmar, Bankkaufmann und studierter internationaler Manager verantwortlich. Wirtschaftsrechtler, Bankkaufmann, Manager, Berater, Geschäftsführer: vom Gelde und dessen Mehrung verstehen die beiden Herren gewiss viel. Seit Jahren schon wirbelt der Gin-Hype die internationale Spirituosen-Märkte durcheinander, nicht nur die Branchen-Primusse Bacardi von den Bermudas (mit Bombay, Oxley und Bosford), Diageo aus London (mit Tanqueray und Gordons) und Pernod Ricard aus Paris (mit Beefeater, Anfang des Jahres haben die Franzosen auch Monkey 47 gekauft) verdienen sehr gut an dieser nicht enden wollenden Modeerscheinung mit diesem in der Herstellung relativ einfachen und billigen, vielfältigen, vor allem gut mixbaren und hochpreisig verkaufbaren Schnaps. Abseits der big player hatten 2008 Alexander Stein und Christoph Keller bewiesen, dass man mit einer abstrusen Geschichte eines Royal Air Force Commanders namens Montgomery Collins mit einem Java-Affen namens Max (haben nicht alle Royal Air Force Commander irgendwie einen Affen?), der sich nach dem Kriege im Schwarzwald niederlies, alldorten fern der Gin-geschwängerten Britischen Heimat eine Rezeptur für einen Gin entwickelte und niederschrieb, die jedoch nach seinem Tode in Vergessenheit geriet, aber just von Stein und Keller bei Renovierungsarbeiten in einer alten Kiste wiedergefunden, sodann von den wackeren Männer mit Erfolg nachgebastelt und auf den Markt gebracht wurde, sehr viel Geld verdienen kann. Die Geburtsstunde des Schwarzwald-Gins Monkey 47 war die Geburtsstunde des (populären) Deutschen Regional-Gins (wenn sich jetzt jemand empört, dass es eine kleine Destille irgendwo gibt, die schon seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten Gin brennt: ich bin für jeden Hinweis dankbar), und seit dem folgen ihm Nachahmer wenigstens im Monatsrhythmus, keine Deutsche Region, keine Deutsche Stadt, die zwischenzeitlich nicht ihren „eigenen“ Gin hätte, selbst Kaff Augsburg hat einen „August“-Gin. In diese Riege der Mitschwimmer auf der Lokal-Gin-Hype-Welle ordnen sich 2014 Gerald Koenen und Raphael Vollmar sehr erfolgreich ein. Marketing-Sprech-technisch liest sich das dann so auf der Webpage www.siegfried.com: „Angetrieben von der puren Lust auf ehrliche und einfach gute Produkte haben wir diesen Premium Gin entwickelt. SIEGFRIED wird traditionell handwerklich aus erlesenen Zutaten, ganz ohne industrielle Hilfsmittel, künstliche Aromen oder Zusatzstoffe, mit Ruhe, Geduld und viel Liebe zum Detail für Sie in kleinen Einheiten destilliert.“ Weiter heißt es dann: „SIEGFRIED Rheinland Dry Gin ist ein regionales Destillat und ein Gin im klassischen Sinn: geschmacklich ausgereift, dennoch subtil, begeistert er mit seiner filigranen Komposition aus 18 Botanicals, seinem Charme und seinem geradlinigen Charakter!“ Und schließlich schweift das Marketing-Sprech vollends in’s Reich der Mythen und Märchen ab: „Schon in der Nibelungen Sage spielte die Linde eine große Rolle, als ein Lindenblatt Siegfried auf den Rücken fiel, während er im Drachenblut badete. Ähnlich wie in der Sage macht die Linde auch den Unterschied in der Rezeptur von SIEGFRIED Rheinland Dry Gin – oder kurz Siggi. Lindenblüte ist das Leit-Botanical und schafft so die symbiotische Verbindung zwischen Marke und Destillat.“ Bonn – Rhein – Drachenfelsen – Nibelungen –  Siegfried – Lindenblatt: flacher könnte eine Assoziationskette wohl gar nicht daher kommen.  Tatsächlich wird der Schnaps aber nicht am Rhein gebraut, sondern an der Ahr in der Eifel, genau genommen in Ahrweiler, vom Brenner Peter-Josef Schütz, und der ist vor allem bekannt als Vater des grässlichen (sorry, ist aber so) „Flöck“, eines wohlfeilen Minzschnapses zum Bier für knapp 23 € den Liter (nochmals unsäglicher als der ohnehin unsägliche „Pfeffi“ aus der Zone, aber dafür wenigstes nicht grün). Der Siegfried kommt hingegen nicht so wohlfeil daher, je nach Bezugsquelle kostet der Liter zwischen 50 und 70 €, selbst für Hype-Gin-Verhältnisse ein stolzer Preis.

Wer aber sind diese Tausendsassas, die dieses „edle Destillat“ geschaffen haben, das „in der internationalen Fachwelt bereits höchste Anerkennung gewonnen“ hat (Presseinformation der Rheinland Distillers UG (haftungsbeschränkt) vom 20. März 2015)? Der Eine ist Raphael Vollmar, Spross der angesehenen Bonner Kaufmannsfamilie Vollmar; heute leitet er in vierter Generation die auf Luxusgüter spezialisierten Einzelhandelsgeschäfte der Sippe. Zuvor hat er eine solide Ausbildung an der Sparkasse Köln/Bonn absolviert und an den Universitäten Maastricht und California Los Angeles studiert; danach hat sich Vollmer jun. als Gründ. mult. betätigt, also alle paar Jahre ein neues Internet-Start-Up hochgezogen, u.a. www.dontsleep.de, www.maaster.info, www.honigmond.net, www.hohenmoorer-shop.de, www.passionfrance-shop.de, www.lampenberger-boutique.de, www.linari-shop.de und eben www.siegfriedgin.com, ein wirklich beachtliches Portfolio an Firmen-Neugründungen. Folgt man dem von ihm selbst angelegten Profil des Herrn Vollmer auf LinkedIn, so verfügt er dadurch über folgende Kenntnisse: „Entrepreneurship, Marketing Strategy, Business Development, Business Strategy, Marketing Management, Marketing Communications, Strategy, Online Advertising, Retail, E-commerce, Sales Management, Advertising, Luxury Goods, Niche Marketing, Handmade Jewelry, Fashion Jewelry, Porcelain, Diamonds, Diamond Jewelry, Silver”. Das ist gewiss eine beachtliche Anzahl an Fähigkeiten, und um ehrlich zu sein, ich glaube ihm jede einzelne davon unbesehen und ich neide ihm keine; nur „Schnaps herstellen“, „Umgang mit Lebens- und Genussmitteln“, „Ausbildung zum Brauer, Winzer, Brenner, Barkeeper, Sommelier“ zählen offensichtlich nicht zu seinen erwähnenswerten Fähigkeiten.

Der andere Tausendsassa ist Gerald Koenen, kein Spross einer alten Geld-Dynastie und auch kein Gründ. mult., sondern eher auf der lohnabhängigen Seite der new economy unterwegs, ausgebildeter Barista, studierte an der Rheinischen Fachhochschule Köln und der Royal Docks Business School, die von ihm 2000 gegründete KOENEN webmedia ist wieder von der Bildfläche verschwunden, statt dessen verdingte er sich Head of Product Development bei der Hobnox AG, als Projekt Manager Health Care/ Pharma bei der MCP Wolff GmbH, als Senior Consultant bei der dimensional GmbH, als Head of Project Management bei der sevenload GmbH, als Interims-COO bei der oneview GmbH, als COO bei der Hivemind Technologies AG, als Chief Platform Officer bei der itravel GmbH und seit gut 5 Jahren als COO und Partner bei der curtis newton labs gmbh. Er selber gibt als eigene Kenntnisse auf LinkedIn an: „Digitale Medien, Start-ups, Mobile Geräte, Digitale Strategie, Unternehmensführung, Unternehmensstrategie, Product Management, Digital Strategy, User Experience, E-Commerce, Digital Media, E-commerce, Business Strategy, Produktmanagement, Coffee, Designmanagement, Management, Marketingstrategie, Gin.“ Gerade mal drei seiner „Social Media Freunde“ bestätigen seine Kenntnisse bei Kaffee, und exakt einer (1) bestätigt seine Kenntnisse bei Gin.

Warum ich die Vitae der beiden jungen, erfolgreichen Unternehmer so akribisch wiedergebe? Nein, ich bin weder neidisch noch will ich deren Gin schlecht machen um etwa meinen zu verkaufen (ich produziere ja auch keinen Gin, trage mich aber mit dem Gedanken, selbiges zu tun, da man ja offensichtlich keinerlei besondere Ausbildung braucht, um solch ein profitables Hype-Schnäpschen zusammenzustoppeln). In Sachen Produktentwicklung, Vermarktung, Internet, Start-up haben beide bestimmt toll was drauf, sind – unumwunden zugegeben – viel besser und auch erfolgreicher als ich. Nur ich behaupte auch einfach mal, basierend auf meiner Erfahrung mit ihrem Siegfried-Gin, haben die beiden aus meiner Sicht keinerlei Ahnung von Schnaps allgemein und Gin speziell, außer vielleicht selber erfahrene Genießer zu sein.

Siegfried-Gin ist ein ganz typisches Kunstprodukt unserer Tage, wo ein paar betriebswirtschaftlich und marketingmäßig schlaue Köpfe den Trend der Zeit erkannt haben und mal wieder eine new economy Erfolgsstory hinlegen. Da haben ein paar junge Leute, die offensichtlich keinerlei Erfahrung im Brennen und keine Ausbildung im Getränke-Bereich haben, eine Idee und unterfüttern sie mit einer frei erfundenen „Story“, gehen damit zu einem Dorfbrennmeister, experimentieren ein wenig herum, rufen guru-guru, spielen virtuos virales Bullshit-Bingo, kaum ein populäres Buzz-Word fehlt in ihrem Marketing-Sprech („micro batch, handcrafted, regional, traditionell, ehrlich, handwerklich, botanical, symbiotisch, ohne industrielle Hilfsmittel und künstliche Aromen, hochwertigste Qualität, …“), werfen die virale Marketing-Maschinerie an, die ersten 120 Siegfried Flaschen werden über Facebook vertrieben (wie cool), und plötzlich flutscht’s, 40.000 Flaschen in nicht mal zwei Jahren, das ist schon mal eine Hausnummer für einen New-Comer. Und jetzt gibt es auch noch – wie originell und neu – eine Sonder-Edition, Distiller’s Cut #1 geheißen, mehr Alkohol, leicht veränderter Geschmack, auf 980 Flaschen limitiert, deutlich höherer Preis, die üblichen Tricks also, um aus einer funktionierenden Marke noch mehr Kohle rauszuholen, Tanqueray’s hat das mit seinen diversen Limited Editions und teilweise absurden Preisen ja bereits sehr erfolgreich vor-exerziert und in Gerald Koenen und Raphael Vollmar offenbar gelehrige Schüler gefunden.

Ob jemand das Rheinland braucht (provozier, provozier …), sei einmal dahingestellt, dass niemand diesen Rheinland-Gin braucht, ist zumindest für mich sicher.

 

P.S. Ach ja, das mit dem Belsazar Vermouth, auch wieder aus Deutschland, auch wieder von ein paar jungen Leuten aus dem Nichts kreiert, diesmal muss ein Babylonischer Kronprinz aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, der von seiner eigenen Pfaffenschaft gemeuchelt wurde, mit seinem Namen herhalten, wir Christenmenschen kennen ihn alle hinlänglich aus Dan 5, 1-31, Rembrandt hat das Menetekel – The Writing on the Wall – unsterblich gemacht,  Händel, Rossini, Heine, Schumann, Sir Walton, Kirchner, Telemann, sogar Johnny Cash setzten sich mit dem Thema auseinander, und jetzt dient er – was wäre nicht naheliegender? – als Namensgeber für einen Wermutwein, ist ja eigentlich logisch. Aber dazu ein andern mal mehr …

Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Back to Top