Marginalie 38: Chuzpe nennen es die Juden …

… und Wikipedia definiert: „aus dem jiddischen חוצפה [chùtzpe] von hebräisch חֻצְפָּה [chuzpà] für ‚Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit, Unverschämtheit‘ entlehnt, ist eine Mischung aus zielgerichteter, intelligenter Unverschämtheit, charmanter Penetranz und unwiderstehlicher Dreistigkeit.“ So erlebt jüngst in einem Restaurant auf dem Lande, vom Guide Michelin immerhin mit einem Tellerchen lobend erwähnt, 5 Pfannen und 2 Bestecke vom Gusto, 2 Diamanten vom Varta, 4 von 5 Dingsda auf tripadvisor, aber man will ja diskret sein, also keine Namen. Um dies vorwegzunehmen: insgesamt war das Essen sehr, sehr ordentlich, teilweise sogar mit gelungen Ambitionen zu Höherem, die Weinkarte eher lausig, hier spürt man, dass kein Fachmann am Werke ist, sondern ein dilettierender Laie, der einfach ein paar Winzer seiner Heimat puschen will, das Ambiente ländlich-rustikal mit staubfangender Schnick-Schnack-Deko, die Bedienung mit drei Servicekräften für vielleicht 9 besetzte Tische eher üppig bemessen, jungen Leute freundlich flott, bemüht, nicht immer perfekt, aber immer bemüht. Soweit alles gut …

… bis sich sodann Folgendes begab. Gerade waren die Vorspeisen serviert worden, Suppe – eine gute Suppe! – für den einen von uns, ein Spargelsalat mit perfekt geschältem, knackigem, Bio-Spargel in genialem Dressing für den anderen, für mich ein Tatar vom Jungbullen mit Wachtelspiegel. Ich hatte just die ersten beiden Bissen vom Tatar genommen und sinnierte nach über den Geschmack, der sich mir da offenbarte. Genau in dieser Phase des schmeckenden Sinnierens kam die Bedienung vorbei und fragte höflich-fröhlich-routinemäßig, ob denn alles in Ordnung sei. „Ja, ja.“; antwortete ich eher gedankenlos, noch ganz mit der Ergründung der sich mir offenbarenden Geschmackserlebnisse beschäftigt und noch längst nicht in der Lage, mich mit der Servicekraft dezidiert über die Qualität des Dargebotenen auseinanderzusetzen. Nach dem dritten Bissen schließlich war ich mit sicher: das Tatar schmeckte penetrant nach … Badezusatz. Nicht irgendwie eine dominante Rosmarin-, Lavendel- oder Thymian-Geschmacksnote, nein, volle Kanone Badezusatz. Ungläubig hieß ich meine Söhne zu kosten, beide kosteten, und ihr Urteil war einhellig: Badezusatz. Damit ließ ich die Vorspeise mit dem Jungbullen-Tatar auf sich beruhen und die halbe Portion unberührt stehen, denn ich war an dem Abend bereits gewaschen und bedurfte keines weiteren Badezusatzes. Beim Abräumen fragte die Bedienung, was denn los sei, warum ich das halbe Tatar zurückgehen ließe, und ich entgegnete arglos, das Zeugs schmecke nach Badezusatz, nicht nur ich, auch meine Begleitungen seien der Auffassung, dass das Zeugs penetrant nach Badezusatz schmecke. Haste nicht gesehen, da ging es richtig los. Statt eines „Entschuldigung!“ oder „Möchten Sie etwas anderes?“ oder „Natürlich nehme ich es von der Rechnung.“ oder auch nur „Oh, das tut mir leid, dass es Ihnen nicht geschmeckt hat.“ oder was auch immer fing die Person an, mit mir zu schimpfen: sie sei doch, so die Person, bei uns am Tisch gewesen, habe gefragt, ob alles in Ordnung sei und ich habe „“Ja“ – genau genommen hatte ich gedankenlos „Ja, ja“ – gesagt, und nun ließe ich da halbe Tatar zurückgehen, ich hätte doch gefälligst früher was sagen sollen und ihr nicht vorgaukeln, dass alles in Ordnung sein, usw. usf. Die Tusse hat mich voll angemacht, alldieweil ich „Ja, ja“ gesagt hatte, kein Wort des Bedauerns oder so, nur volle Möhre Gegenangriff, keine eigene Angriffsfläche zeigen, gleich zurückschießen. Chuzpe ist hier der richtige Ausdruck.

Dann die Hollandaise zum Spargel (alles andere, Spargel, Schnitzelchen, Kartoffeln tadellos), tatsächlich hausgemacht, aber eine säuerliche (nicht etwa dezent Wein-sauer, sondern penetrant Zitronen-sauer), aufgewärmte breiige Creme mit flüssigem Kern in einem kleinen Einmachglas. Als bei diesem Gang die Servicekraft fragte, ob alles in Ordnung sei, beeilte ich mich zu sagen, dass die Hollandaise eine säuerliche (nicht etwa dezent Wein-sauer, sondern penetrant Zitronen-sauer), aufgewärmte breiige Creme mit flüssigem Kern in einem kleinen Einmachglas sei. Verständnislos – wohl solcherlei Kritik nicht gewohnt – glotze mich der junge Kellner an, schnappte sich das kleine Einmachglas mit der säuerlichen (nicht etwa dezent Wein-sauren, sondern penetrant Zitronen-sauren), aufgewärmten breiigen Creme mit flüssigem Kern und verschwand in Richtung Küche. Von dort zurückkehrend belehrte er mich, dies sei hier so üblich, die Hollandaise in kleinen Einmachgläsern vorzubereiten und nur noch zu erwärmen, und dass die Hollandaise eine säuerliche (nicht etwa dezent Wein-saure, sondern penetrant Zitronen-saure), breiige Creme mit flüssigem Kern sei, das sei eben der Stil des Hauses. Und dann machte mich der Tusserich wieder voll an, nur wegen mir – ich fühlte mich so schuldig – werde jetzt eine frische Hollandaise in der Küche aufgeschlagen, und das, obwohl der Laden proppevoll sei. Wieder statt Entschuldigung oder wenigstens Beschwichtigung volle Möhre Gegenangriff und Schuldzuweisung. Chuzpe halt. Ach, übrigens, was da aus der Küche kam, war eine lauwarme, flüssige Eigelb-Butter-Emulsion … sauer.

Kommentar meiner Söhne: die beiden Servicekräfte mit ihrer aggressiven Attitüde würden sie sofort für fast jeden Job einstellen. Wahrscheinlich eine gute Wahl in Zeiten des Raubtierkapitalismus …

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