Ein alltägliches, banales, scheinbar belangloses Bild, Fallobst verrottet massenweise unter einem Baum irgendwo am Straßenrand auf dem Lande. Früher, zu meiner Jugendzeit, vor 50 Jahren (sakra, was bin ich alt!), da war das vollkommen anders, da sah es unter Obst-Bäumen generell aus wie gefegt. Früher, da war Fallobst noch wertvoll, wurde geachtet und gehandelt. Heute sind wir nun allesamt Gutmenschen und lassen ohne schlechtes Gewissen kollektiv Lebensmittel verrotten. Früher, da ging ich jeden Herbst mit meiner Großmutter – mütterlicherseits, der nordhessischen Flickschneiderin mit badisch-elsässischen Wurzeln, die stolz darauf war, Flickschneidern zu sein, Kleidung und Wäsche konnte oder wollte sie nicht nähen, aber es gab nichts, was sie nicht professionell, meistens sogar unsichtbar flicken konnte, Blusen, Hemden, Hosen, Jacken, Bettzeug, Tischwäsche, Socken, und früher wurde noch reichlich geflickt, nicht einfach weggeworfen, so wie heute, was wohl auch an der damaligen Relation von Neukauf-Preis vs. Stundenlohn einer Flickschneiderin lag, und mit ihrer kleinen Arbeiter-Rente flickschneiderte sie offensichtlich mit großem Spaß und Erfüllung bis in’s hohe Alter, einfachere Leute brachten meiner Großmutter die Flicksachen in ihre kleine Wohnung mit der uralten Pfaff-Nähmaschine mit Fußpedal, zu besseren Leuten, Ärzte, reiche Bauern, Bremer Kaufmannsfamilien in ihren Sommerhäusern, Apotheker, solche bessere Leute halt, die damals keine Dünkel hatten, ihre Sachen flicken zu lassen und geflickte Sachen dann auch wieder zu tragen bzw. zu nutzen, ging sie halb- oder ganztags in die Häuser zum Flicken, saß dort in einem Kämmerlein oder der Küche, flickte vor sich hin, bekam eine warme Mahlzeit, redete mit dem weiland auch noch reichlich vorhandenen Hauspersonal, allerdings bei den Strobels, eine dieser Bremer Kaufmannsfamilien, durfte sie im Salon nähen und dabei mit den Herrschaften sprechen, darauf war sie immer sehr stolz, ihr absolutes Meisterstück aber war meine Jeans, meiner erste Levis 501, die ich meinem Vater beim Familieneinkauf irgendwann abgetrotzt hatte, obwohl er immer sagte, Jeans seien Negerhosen, das war damals noch politisch nicht inkorrekt, die bestand irgendwann, nach Jahren und Jahren, wirklich nur noch aus Flicken, Jeansstoff in allen Farben und Texturen, die enge Ressource war nicht die Flickschneider-Kapazität und –Kunst (Kunst!!!), die enge Ressource waren Flicken, genügend alte Jeans zum quasi Ausschlachten beizubringen, was gar nicht so einfach war, denn weggeschmissen wurde eben wenig, zweimal kaufte ich Mitschülern ihre durchgewetzten Hosen ab, damit Großmutter auch weiterhin genügend Material für meine Jeans hatte, die mein Vater abgrundtief hasste, wahrscheinlich schämte er sich auch dafür, was sollten die Leute denken, wenn sein Sohn mit solchen Flicken-Hosen herumlief, am Ende würden sie gar noch denken, schlimmste aller Vorstellungen, wir seien arm, mit der ich aber der Star in der Schule war und für die mir andere Mitschüler durchaus horrende Preise boten, aber ich behielt und trug sie stolz und eisern, bis ich irgendwann wirklich herausgewachsen war und alles Quetschen beim Zumachen nicht mehr half – etwas abseits von Stadtrand auf einer Wiese, 45 Minuten Fußmarsch hin und 45 Minuten Fußmarsch zurück, Falläpfel klauben, exakt 40 Liter, jeder zwei große Eimer voll. Diese Äpfel waren keinesfalls herrenlos, wir sammelten auch nicht heimlich oder verbrecherisch, vielmehr ging meine Oma vorher jedes Jahr zu dem Bauern, dem die Streuobstwiese gehörte, für den sie gelegentlich auch nähte, und fragte Jahr für Jahr um Erlaubnis, Falläpfel – zu Boden gefallene, meist angedätschte, angefaulte, wurmstichige Äpfel, nicht etwa die, die am Baume hingen, die waren tabu, die erntete der Bauer selber (und latschte dabei unbekümmert über die am Boden liegenden Falläpfel) – klauben zu dürfen, und der Bauer – einer der sogenannten „Schweinebauern“, die nicht etwa so hießen, weil sie Schweine züchteten, fast jeder Bauer hatte damals ein paar Schweine, sondern weil sie in den sogenannten „schlechten Jahren“ 1944 bis 1947, als Lebensmittel allseits Mangelware waren, die Produkte ihrer Höfe für horrende, völlig überteuerte Preise und vor allem Naturalien verkauften, während andere Bauern einfach zu halbwegs fairen Preisen versuchten, die Not ihrer Mitmenschen zu lindern, ließen sich die Schweinebauern von den hungrigen Städtern anbieten, was sie hatten, und da gab’s dann für eine Seidenbluse ein paar Eier oder etwas Milch, für eine Silberkette ein Stückchen Schinken oder Wurst, für einen Goldring ein mageres Huhn oder einen kleinen Sack Kartoffeln, für ein Perlencollier einen Sack Mehl, für einen echten Perserteppich ein viertel Schwein, das waren, erzählte meine Großmutter immer, so ungefähr die „Umrechnungskurse“ bei den Schweinebauern in dieses Jahren, und das hatte tatsächlich die legendären, von den meisten als vollkommen übertrieben gehaltenen Geschichten von den Perserteppichen im Stall zur Folge, besonders wild trieben’s die Schweinebauern bei den ausgebombten und ausgehungerten Bremern, die sich in ihre Sommerhäuser an der Oberweser geflüchtet hatten, Bremen und die Oberweserregion waren schon immer eng verbunden, nicht nur durch die Weser, auch dadurch, dass halb Bremen inklusive des Rolands aus Weserbergland-Sandstein gebaut wurde, das hatte wohl auch dazu geführt, dass sich reiche Bremer ihre herrschaftlichen, großen und ziemlich luxuriösen Sommerhäuser in die schönsten Lagen der Oberweser hatten setzen lassen, wie das der Familie Strobel zum Beispiel, wo meine Großmutter beim Flickschneidern im Salon sitzen und mit den Herrschaften plauderten durfte – gestattete es ihr jedes Jahr, und zwar für einen halben Tag lang Flicken (jetzt bloß das „L“ nicht vergessen) auf seinem Hof samt warmer Mahlzeit als Gegenleistung für jeweils 20 Liter Äpfel, oder zwei halbe Tage für 40 Liter, und Jahr um Jahr ging meine Großmutter diesen Handel ein, wobei der Bauer sich nicht zu blöd war, dann und wann auch mal auf die Wiese zu kommen, um nachzukontrollieren, ob wir tatsächlich nur Falläpfel geklaubt und uns nicht etwa an den ihm allein zustehenden Äpfeln am Baume vergriffen hatten, indem er die Eimer inspizierte, sogar die oberen Äpfel beiseiteschob, ob darunter nicht vielleicht noch Äpfel vom Baum versteckt sein könnten. Diese vier Eimer Äpfel schleppten wir dann 45 Minuten zurück in die kleine Wohnung meiner Großmutter, diese Metallbügel schnitten irgendwann ziemlich in die Finger, dort bekam ich ein Glas Nesquik, immer Nesquik, niemals Kaba, und durfte mich trollen, meine Großmutter machte sich daran, die Äpfel zu verwerten, zu waschen, die schlechten, verfaulten stellen wegzuschneiden, aus einer Hälfte kochte sie Apfelgelee, das war noch einfach, da wurden die geputzten Äpfel samt Schale und Kerngehäuse zu Brei verkocht, entsaftet und dann mit Gelierzucker aufgekocht, aus der anderen Hälfte machte sie Apfelbrei, dazu mussten die Äpfel geschält und entkernt werden, mit Zimt und Zucker weich gekocht, mit dem Kartoffelstampfer noch grob zerstampft und dann eingeweckt. Dieser Vorrat an Gelee und Apfelbrei reichte bis in den nächsten Sommer, und es gab kaum etwas Köstlicheres als Großmutters frische Kartoffelpuffer mit einem Glas Apfelmus dazu.
Heute aber, heute aber verfaulen diese Falläpfel unbeachtet, ohne jemandem ein schlechtes Gewissen zu machen, am Wegesrand. So ändern sich die Zeiten. Und trotzdem jammern Leute, wie schlecht es ihnen heute geht.
Besagter Schweinebauer übrigens wurde Jahre später von seinem eigenen Traktor langsam zerquetscht, die einen vermuteten eine göttliche Strafe für sein schlechtes Verhalten, die anderen munkelten, seine Frau oder sogar seine Frau und sein Sohn gemeinsam, die er beide nach Herzenslust und wohl auch mit großer Freude schlug, hätten den Traktor gelenkt, wieder andere glaubten, es sei ein Unfall im Suff gewesen, denn die erschlichenen Wertgegenstände und Gelder aus den schlechten Jahren waren irgendwann aufgebraucht, der Bauernstand verlor an Ansehen und Einkommen, die Alten hatten niemals geklebt, hatten also keine Rentenansprüche, weil der Hof ihre Rente sein sollte, ähnlich erging es nämlichem Bauern, so dass er sich dem Trunke ergeben hatte.