Tschin aus der Schweiz: Ich bin um 60 EURO ärmer und um eine Erfahrung reicher, die gewiss keine 60 EURO wert ist.

Im Schweizer Kanton Aarau liegt im oberen Fricktal das Dörfchen Elfingen, abgelegen, idyllisch, ursprünglich, alles andere als überlaufen. Dort hat die Familie Käser ihren Bauernhof, den sie – je nach Sichtweise selbstbewusst oder hochtrabend – Käsers Schloss nennen. Seit fünf Generationen wird hier nachhaltige Landwirtschaft betrieben mit besonderem Augenmerk auf alte Sorten. Und seit 1995 gibt es auch eine Destilliere, ursprünglich um das eigene Obst zu Schnaps zu veredeln. Heute brennen die Söhne Michael und Raphael, beides ausgebildete Winzer mit einer beachtlichen Anzahl an Praktika quer über den Erdball, in einem alten Carl Destillierapparat neben Schnäpsen seit 2001 zusätzlich viel beachtete Schweizer Whiskys unter der Marke „The Castle“ und nun auch Gins. Angefangen haben sie mit dem „Castle Gin – The First“, einem klassischen London Dry mit 40% Alkohol sowie dominanten Wacholderbeeren-, Orangen- und Zimtnoten. Damit nahmen die Käsers noch an der peinlichen Bezahl-Prämierungs-Veranstaltung World Spirit Awards teil, wo man seine Spirituosen gegen eine Gebühr einreichen und begutachten lassen kann, und danach bekommen weit über 90% aller eingereichten Spirituosen eine Auszeichnung, weit über 50% sogar eine Goldmedaille; will man diese Prämierung als Spirituosen-Hersteller jedoch werblich nutzen, ja nur auf dem Produkt erwähnen, dann muss man richtig Geld an den Veranstalter des World Spirit Awards – ein gescheiterter Ski-Star aus Österreich – zahlen; soviel zur Wertigkeit einer Prämierung beim World Spirit Award. Nachdem man in der Schweiz offensichtlich einen mittelprächtigen Gin für 53 EURO pro Liter problemlos an die Problemleber bringen kann, positionierten die Käsers 2015 einen weiteren Gin unter dem originellen Namen „Tschin“ im Premium-Segment für 80 EURO den Liter ab Hof, im Fachhandel in der Stadt zuweilen auch für 100, 120 EURO zu haben. Das wieder nur 40-prozentige Schnäpschen mit der an Monkey 47 gemahnenden Flasche (allerdings nicht in Braun- sondern in Weißglas) hat neben dem Preis und der Story vom ökologischen Familienhof mit alten Sorten und so zwei ganz klare Alleinstellungsmerkmale: Zum ersten kommt der Tschin mit nur vier Botanicals, natürlich heimischen, aus, und wo andere ein Riesen-Geheimnis und Tam-Tam um ihre streng gehüteten, zahllosen, exotischen Bonaticals machen, nennen die Käsers die vier Geschmackszutaten ihres Tschins ganz offen: Wacholder, Kirschenblüten, Waldmeister und Walderdbeeren. Das zweite Alleinstellungsmerkmal ist das Etikett aus handgeschöpftem Papier, jedes ein Unikat, das von Vatter Käser Stück für Stück von Hand gemalt wird, der Schriftzug Tschin in Blockschrift, darunter zwei rote, zwei grüne, ein blauer und ein goldener Farbklecks. So weit, so gut. Wo dieser Gin sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal besitzt, das ist der Geschmack. Ich habe Tasting-Berichte des Tschin gelesen, in denen sich die werten Taster vor Begeisterung fast überschlugen, damit sei der Beweis erbracht, dass Gin nicht die geschmackliche Komplexität Dutzender von Botanicals brauche, um in der Nase, dem Mund und im Abgang runde, nuancierte Geschmackserlebnisse hervorzurufen, wobei der Wachholder immer im Vordergrund stünde und durch die anderen drei Komponenten nur noch verfeinert und verstärkt werde. Soweit dazu. Ich finde den Tschin dünn, ein paar Prozent mehr Alkohol würden gewiss nicht schaden, der Geschmack ist flach, tatsächlich von einer harzigen Note, die aber für sich allein stehen bleibt, ansonsten erinnern Nase und Mund eher an einen derben Obstler, der Abgang brennt im Rachen und überhaupt hinterlässt der Tschin pur gekostet ein kribbelndes, brennendes Gefühl im Maule. Lassen Sie es mich so ausdrücken: ich bin um 60 EURO ärmer und um eine Erfahrung reicher, die gewiss keine 60 EURO wert ist.

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