Dick eingemummelt und schweigend stapfen wir die Josefstädter runter bis zur Strozzigasse, gleich das zweite Haus rechts ist Das Torberg. Irgendwann um 2010, der Gin-Hype war schon lange am Brodeln und erreichte dann auch mal das in Lifestyle-Sachen oft schnarchige Wien, setzte sich Gerald Alexander Gsöls das Ziel, im Torberg die Kneipe mit der größten Ginauswahl der Welt zu etablieren; ich glaube, der Schuppen war tatsächlich auch mal im Guiness Buch der Idioten, heute hält ausgerechnet der Stollen 1930 in Kufstein den Titel der World‘s Greatest Gin Bar, wobei sowohl das Torberg Gsöls‘ als auch der Stollen 1930 der Familie Hirschhuber geradezu idealtypische Beweise dafür sind, dass Quantität – Anzahl der verschiedenen Gin-Sorten im Regal – nichts, aber auch rein gar nichts mit Qualität – Barleistung, Qualität der Drinks, Professionalität, Schnelligkeit und Höflichkeit des Personals – zu tun haben muss. Wenn man das Torberg betritt ist es so, wie wenn man vor eine massive Nikotin-Wand läuft, und zwar volle Möhre mit der Fresse voran. In Deutschland sind wir solcherlei olfaktorische Erlebnisse schon länger verlustig, in Wien gibt es sie zuweilen noch. Der Raum ist hoffnungslos überheizt, und es stinkt nach Rauch, die verbliebene Luft ist verbraucht und leicht säuerlich, es ist brechend voll. Wir schälen uns rasch aus unseren Winterklamotten, bevor uns der Hitzschlag ereilt. Wir ergattern ein paar Stehplätze gleich links hinter dem Eingang an der Bar, das hat den Nachteil, dass es ständig kalt zieht, wenn die Tür aufgeht, das hat den Vorteil, dass man zumindest dann und wann einen Hauch frischer Luft erhascht, wenn die Türe aufgeht. Innenarchitektonisch ist Das Torberg sicherlich eine Klasse für sich. Die Bar sieht aus wie selbstgezimmert mit Bauhaus-Material im Partykeller eines Einfamilienhauses, die Möbel sind schmucklose, unkaputtbare Wirtshaus-Tische und –Stühle, dazu offensichtlich Weihnachtskugeln oder so etwas ähnliches als durchgängiges Dekor-Motiv, alles ist etwas Nikotin-gelb-schmuddelig-kleberig, die Wände, die Tische, die Lampenschirme, selbst im Nichtraucherbereich, dazu Tinneff, Wirtshaus-Schildchen, Bilder von Gästen und billige Möbelmarkt-Kunstdrucke mit billigen Möbelmarkt-Leuchten an den Wänden, und so sehr ich mich auch bemühe, ich zähle hinter der Theke beileibe keine 300 oder 400 verschiedene Gins, mit denen Das Torberg immer Werbung macht. Das Publikum erinnert mich ein wenig an den guten alten Roten Engel im alten Bermuda-Dreieck im 1. Bezirk in den 80ern, bevor auch diese schöne Ecke Wiens für Touristenvolk wirtschaftlich erschlossen und zerstört wurde. Die quasi unvermeidlichen jungen, typischen Party-Gänger sind im Torberg zwar auch vertreten, aber deutlich in der Minderheit, selbst zu dieser späten Stunde. Manche der Gäste sehen aus, als kämen sie gerade von der letzten Schicht im Stahlwerk, quasi noch in Arbeitsklamotten, andere, als würden sie gerade die nächste Demo der MLPÖ (Marxistisch-Leninistische Partei Österreichs, die gab’s tatsächlich mal, und die waren noch abgedrehter als die Idioten der KPÖ) vorbereiten, dazwischen die unscheinbare Lehrerin von der Piaristen-Volksschule und ein paar Schauspiel-Eleven aus dem English Theatre um die Ecke. Die paarmal, die ich im Torberg war, habe ich Gsöls nie persönlich getroffen – oder erkannt, kann ja auch sein – meisten stand Sabine Torberg hinter dem Tresen und dirigierte das Geschehen, unterstützt von ein paar jungen Leuten im Service. Dabei ist Das Torberg ganz gewiss auch nicht im Entferntesten eine Cocktail-Bar – klar, es gibt ja auch keine Cocktails, außer Gin Tonic, aber das ist ein Longdrink und kein Cocktail –, es ist – und das jetzt nicht abwertend gemeint – schlichtweg eine Kneipe, eine Kneipe mit einer Menge Gins, ein paar Rums und Whiskys, dazu Champagner, Bier vom Fass und ein paar Häppchen zum Essen, nicht mehr und nicht weniger. Das Ambiente ist auch nicht gediegen, sondern eher rustikal, die Lautstärke nicht gedämpft, sondern gehoben, und es wird weniger an den Gläsern genippt als vielmehr in vollen Zügen gekippt. Ein junger Mann – eher noch Bübchen mit deutlicher Akne – fragt uns nach unseren Wünschen. Illusionslos nehme ich einen Botanist auf Eis, Mona rettet sich in Ermangelung eines Guatemaltekischen Rums Richtung Martinique, Siegrid schließt sich ihr vertrauensvoll an, nur Caro muss fragen, was der junge Mann denn so empfehlen könne. Er rattert Sprüchlein über Gins aus dem Angebot herunter, ich muss zugeben, die eine oder andere Produktbeschreibung hat er offensichtlich gut auswendig gelernt, auch ohne einen blassen Schimmer zu haben, worüber er da genau schwafelt, aber als er von der deutlichen Zitrusnote des Citadelle schwadroniert kann ich nicht anders als Caro zuzuraunzen „Lass es, Indie!“ Sie versteht die Anspielung und bestellt sich ein Bier. „Morgen um diese Zeit bin ich schon in Chișinău.“ seufzt Mona. „Schwermütig?“, frage ich verwundert. „Ich dachte, Du magst Deine Jobs?“ „Eigentlich schon“, antwortet Mona, „aber wenn man neu anfängt, ist alles immer ein wenig zäh. Es ist ja nicht so, dass ich in ein vorbereitetes Büro komme, mich dort man meinen vorbereiteten Schreibtisch setze und anfange zu arbeiten. Wenn ich da ankomme, ist nichts da, zwei Kollegen, eine aus Südkorea und einer aus Brasilien sind schon da, gestern oder heute angekommen, wir treffen uns im Radisson Blue, das wird die nächsten Monate unsere Basis. Dann erstmal orientieren, so ne Art Akkreditierung bei der Polizei, unsere Botschaften unterrichten – falls mal was schief geht und wir Unterstützung …“ Mona sagt ‚Unterstützung‘, nicht ‚Hilfe‘, finde ich ganz schön selbstbewusst-sportlich angesichts der aktuellen Entführungsrate in Moldawien … „… brauchen. Wenn das erledigt ist, noch bevor wir Kontakt aufnehmen mit den örtlichen Ansprechpartnern, Aktivisten, Oppositionellen, staatlichen Stellen, muss erstmal das Wichtige erledigt werden: wo gibt’s einen gescheiten Arzt, wo gibt’s einen Frauenarzt der Dich nicht begrapscht und Bilder von Dir in’s Internet stellt, wo eine Apotheke, wo bezahlbaren Alc, der Dich nicht blind macht, wo kann man in der Stadt hingehen, wo besser nicht, was sind generell die Do’s und die Dont’s, wo kann man essen gehen, wo gibt es trinkbares Wasser, sind Deckel auf den Kanalschächten oder sind die meist als Altmetall geklaut … damit sind in der Regel die ersten Tage und Wochen vollends ausgefüllt, je nachdem. Da ist es gut, dass uns kein knallhartes Controlling System im Nacken sitzt, das am besten nach 10 Tagen wasserdichte outcomes sehen will. Das Leben bei den NGOs ist eher gemächlich, wenn man nicht gerade an der Frontlinie eingesetzt wird, aber diesen Quatsch habe ich hinter mir, das sollen Jüngere machen und sich ihre Sporen verdienen für die Schönheiten der Etappe.“ ‚Schönheiten der Etappe‘, ich bin sprachlos, das sagt die Frau, mit der ich vor Jahrzehnten über die unausweichliche Notwendigkeit der Weltrevolution diskutiert hatte und die bereit war, ohne mit der Wimper zu zucken jeden Tropfen ihre Blutes – und des Blutes anderer – dafür zu vergießen. „Und was genau werdet Ihr dann dort machen, wenn Ihr Ärzte, Alc und Aktivisten klar gemacht habt?“, fragt Caro. „Wir werden bestimmt nicht im Granatenhagel irgendwelche Hilfsgüter verteilen oder Lazaretts für nackte Neger-Kinder hochziehen …“ – ich finde Mona ist ganz schön zynisch-abgebrüht geworden, vor Jahren hätte sie noch mit dem berühmten Feuer im Auge von Granatenhagel und Neger-Lazaretts geschwärmt – „… das ist ja diesmal eine Aufklärungsmission. Außerdem gibt’s meines Wissens kaum Neger in Moldawien.“ Mona lacht über ihren eigenen Witz, und selbst ich finde den nicht sonderlich gut; die Frau ist wirklich abgebrüht geworden … oder ob sie innerlich tot ist, frage ich mich, nach all der Scheiße, die sie gewiss in ihrem Leben gesehen hat, und sich nur noch mit beißendem Zynismus über die Runden und Einsätze retten kann? „Nein, wir werden vor allem Reden, Photographieren, Dokumentieren. Wir werden mit Regierungsvertretern sprechen, klar, mit Aktivisten, Menschenrechtsgruppen, dem Roten Kreuz, Priestern, wenn es geht mit der Polizei – aber das nur mit Begleitung aus einer Botschaft, sonst soll man ruck-zuck von der Bildfläche verschwunden sein können, heißt es, wenn man die falschen Fragen stellt; dann werden wir versuchen, Kontakt mit den Rebellen in Transnistrien aufzunehmen, keine Ahnung, wie das von Statten gehen soll. Ich jedenfalls bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht selber nach Transnistrien fahren werde. Vielleicht kann man ein Treffen irgendwie in einer neutralen Zone organisieren oder so, das wird sich alles ergeben. Und wenn es tatsächlich ein Treffen mit Vertretern der selbst ernannten Regierung in Tiraspol geben sollte, werde ich wahrscheinlich meine Tage bekommen oder so, wenn nicht wirklich ganz, ganz wasserdichte Sicherheitsgarantien gegeben werden können, am besten in Form einer Russischen Militäreskorte, die würde dort niemand angreifen, weil sie wissen, dass das Selbstmord wäre. Aber ansonsten halte ich Trasnistrien eher für eine no-go-area, besonders für westliche Frauen.“ Langsam wird die Konversation mühselig im Torberg, der Geräuschpegel steigt stetig, von der Tür drängen immer neue Gäste herein, die meisten an uns vorbei, manche drängen auch in unsere Rücken, dazu die Mischung aus verrauchter, stickiger, warmer Luft zum einen und regelmäßigen kalten Luftzügen von der Tür, gemütlich geht irgendwie anders. Siegrid schaut uns kurz wortlos an, wir alle nicken, fast unauffällig, ebenso wortlos, Siegrid schreit daraufhin über den Tresen, dass sie zu zahlen wünsche, ein Wunsch, dem das zwischenzeitlich vollkommen überforderte Bürschlein hinter der Theke nach geraumer Zeit dann auch nachkommt, Siegrid reicht ihm einen grünen Schein, macht danach mit der Hand eine abwinkende – fast schon abfällige – Geste, dass das Bürschlein den Rest behalten solle, bevor sie sich jetzt noch mit Trink- und Wechselgeldern beschäftigen müsste, man merkt ihr förmlich an, dass sie nur noch hier raus will, und wir gehen rasch.