Marginalie 18: Machen Sie 9,90

Scheidungen sind teuer, und so habe ich den Porsche gegen ein preiswerteres Gefährt eingetauscht, gegen einen Geländewagen, einen Jeep Wrangler,  sehr rustikal, aber auch sehr robust, mit seinem Urgroßvater wurde Nazi-Deutschland platt gemacht, sein Großvater war in Korea und Vietnam hundertausendfach unterwegs, wenig elektronischer Schnick-Schnack, der kaputt gehen könnte, keine luxuriösen Sonderausstattungen, im Sommer echtes Cabrio, im Winter echtes Hardtop, geländegängig bis zum Geht-Nicht-Mehr, angenehm auf Landstraßen, pain in the ass auf Autobahnen, schwerfälliger 3,6-Liter Motor mit verträumten 284 PS, bei 184 km/h abgeriegelt, aber schneller als 120, 140 will man mit der Karosserie und dem Fahrwerk eh‘ nicht fahren … und Fahrspaß bis zum Abwinken. Aber halt stopp, Fiat-Chrysler hat den angebotenen PR-Artikel ja nicht zahlen wollen, also Schluss mit der Lobhudelei (aber ich mag mein Auto wirklich …).  Mit diesem Geländewagen habe ich eine völlig neue Art des Reisens für mich entdeckt, das Fahren nach Kompass.  Man nimmt sich eine beliebige Himmelsrichtung vor, vorzugsweise nach dort, wo man es schön / interessant / frugal wähnt, und sodann fahre man stur in diese Richtung, soweit es irgendwie legal und technisch machbar ist. Zuweilen wird man ein wenig nach rechts und links abweichen müssen, aber irgendwie kann man zumeist die große Himmelsrichtung einhalten. Nicht nur ein Heidenspaß und eine Herausforderung an Orientierungsvermögen und Fahrkünste, sondern vor allem extrem interessant, alldieweil man quasi per Zufallsprinzip an Orte gelangt, die man sonst nie sehen würde, die in keinem Reiseführer stehen, die an keiner Hauptverkehrsader liegen, die zu keinem Ballungszentrum gehören. Eines schönen Sonntagsmorgens fuhr ich auf der B2 / B25 zügig nach Nordwesten, kurz vor Harburg dann auf Seitensträßchen und Feldwege einschwenkend stur nach Norden, Richtung Franken, irgendwo zwischen Altmühl- und Brombachsee durch, am Straßenrand kaufte ich bei einem Bauern einen Sack der ersten fränkischen Frühkartoffeln (spottbillig und köstlich), immer weiter nach Norden, bis in’s fränkischste Franken, das man sich vorstellen kann. Dort fand ich gegen Mittag ein kleines Städtchen, Wolframs-Eschenbach, , Parzival-Dichter, Deutschorden, vollständig erhaltene mittelalterliche Stadtmauer, Kopfsteinpflaster auf den Straßen, alte geduckte Häuser, leerstehende Geschäfte … aber mitten in der Stadt ein kleines Fränkisches Lokal mit Metzgerei, niedrige, kleine Gaststube, 50er Jahre Schanktresen, grobe Brauereimöbel, Dielenboden, offene Durchreiche in die Küche, an der hinteren Wand weist ein Schild auf den „Abort“ hin, daneben der Eingang zum Saal, in dem Taufen, Hochzeiten, Geburtstage und Leichenschmäuse gleicher Maßen gefeiert werden, dem Saal ist das egal, der ältere Herr Wirt bedient alleine die wenigen Gäste, seine Frau scheint hinter der Durchreiche in der Küche zu wuseln. Ich esse 3 exzellente grobe Fränkische Bratwürste mit selbstgemachtem Kartoffelsalat für 5 EURO oder so, dazu trinke ich ein Radler.

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Am Nachbartisch sitzt ein altes Ehepaar, sie haben das Sonntagsmenue, das auf einer handgeschriebenen Schiefertafel angepriesen wird: Tagessuppe, Schäufele mit Kloß, kleines Getränk für … 4,90 EURO!!! Das Preisniveau schafft keine Kantine und keine subventionierte Mensa. Aber es kommt noch besser. Als die Alten mit dem Essen – im Zeitlupentempo, mit Bedacht, mit Genuss, die Inkarnation von Anti-Fast-Food, schön das – fertig sind, begehrt die Frau die Rechnung. Völlig richtig sagt der Wirt: „Zwei Menue zu 4,90 macht 9,80.“ Die alte Dame zückt einen Zehn-Euro-Schein, legt ihn auf den Tisch und sagt „Machen Sie 9,90.“ Artig sagt der Wirt Danke, nimmt den Zehn-Euro-Schein, legt 10 Cent Wechselgeld auf den Tisch, verabschiedet sich manierlich und räumt den Tisch vollends ab, während sich die alten Herrschaften zum Aufbruch fertig machen. Komplettes, ordentliches Mittagessen unter 5 EURO, 1% Trinkgeld, ein artiges Danke und Wechselgeld, für das sich manche junge Leute noch nicht einmal bücken. Irgendwie ticken in Franken die Uhren noch anders …

 

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