Marginalie 110: Urlaub vs. Reisen

Reisen, das bedeutet für mich nicht, bräsig in warmen Sand in der Sonne am Meer zu liegen, oder ergriffen von der Schönheit der Natur mächtige Berge zu erkraxeln, oder finstere Forste festen Schrittes zu durchmessen, oder sportliche Aktivitäten an mehr oder minder schönen Orten bis zum Exzess zu betreiben; reisen bedeutet für mich auch nicht, von irgendwelchen Hilfsanimateuren 24 Stunden dauerbespaßt zu werden, oder ganztägig und ganznächtig All-you-can-eat-Buffets und All-you-can-drink-Bars all inclusive zur Verfügung zu haben, oder Non-stop-Party bis zum Erbrechen – nicht im metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinne – zu machen, oder haufenweise prinzipiell paarungswillige, enthemmte Weibspersonen vor der Flinte zu haben. Das alles mag Urlaub sein, Reisen ist das nicht.

Reisen, das bedeutet für mich entweder, sich zügig irgendwohin zu begeben, gemeinsam mit ortsansässigen Menschen Geschäfte zu besorgen, vielleicht noch ein lokales Restaurant aufzusuchen und dann ebenso zügig zurückzukehren, das sind unliebsame, aber meist lukrative Geschäftsreisen.

Privat zu reisen, das ist für mich, zu fremden – oder auch bereits teilweise vertrauten – Orten zu fahren, vorzugsweise mit dem Fahrrad (Reisen, das muss nicht unbedingt Weitfortistan sein, die übernächste Stadt ist auch schon immer eine Reise wert), dem Wagen oder dem Zug – am liebsten im Cabrio –, um die langsame Veränderung der Landschaft von daheim bis in die Fremde sukzessive wahrnehmen zu können (ok, für Übersee-Reisen braucht’s nun mal diese verdammten Flugbüchsen, ich mag sie nicht, auch nicht in der Business- und der First Class, schon gar nicht in der Holzklasse), in der Fremde brauche ich ein Quartier, das muss in erster Linie pragmatisch sein, sprich sicher, sauber, mit einer gewissen Infrastruktur wie eigenem Bad, W-LAN, ordentlichem Frühstück; wenn das Quartier dann noch hübsch ist – freundliches Personal, alteingesessenes, landestypisches Haus, gemütliches Zimmer, Balkon, nette Umgebung – etwa Blick auf Berge, Meer, See oder mitten in einer belebten Altstadt oder in einer ländlichen Idylle –, Gastgarten und rustikale Gaststube, die vor allem von Einheimischen frequentiert werden und wo gut gemachte, regionale Küche serviert wird –, dann bin ich nicht nur zufrieden, sondern glücklich. Pool, Fitnessraum, hauseigener Tennisplatz, SPA, Disco, Hubschrauberlandeplatz, diesen ganzen Kram brauche ich nicht, sowas braucht man wiederum für Urlaub. In der Fremde, da will ich mich weniger erholen – wer sich von seinem tagtäglichen Leben ‚erholen‘ muss, der macht irgendetwas prinzipiell falsch mit seinem Leben (ich weiß, das ist ein sehr arroganter Satz, der Bergmann braucht gewiss seine drei Wochen und mehr Erholung im Jahr) –, in der Fremde will ich die Fremde und ihre Menschen, fremde Menschen, besser kennenlernen.

Zum Kennenlernen gibt es da zum ersten die steinernen Zeugen der Vergangenheit, Altstädte, Burgen, Kathedralen, Ruinen. Imposant, aber vergangen. Interessanter ist da schon das aktuelle Stadtbild, die Häuser von heute, ihre Architektur und Bauweise, ihre Pracht, ihr Pragmatismus oder ihre Ärmlichkeit, die Parks, die Sporteinrichtungen, die Industriegebiete, also nicht nur die touristisch aufgehübschten Innenstädte, sondern auch und vor allem die Peripherie; ich behaupte jetzt mal, in der Donaucity und in Schwechat (und vielleicht noch im 2. Bezirk) lernt man viel mehr über das heutige Wien als in der Hofburg und in Schönbrunn – Hofburg und Schönbrunn sind imposant und schön (und vergangen), Donaucity und Schwechat sind pragmatisch und hässlich (und heutig), aber sie sind das wahre Leben. Die Bay Area und ihre Menschen lernt man nicht an Fisherman’s Warf, Presido und der Market Street kennen, die Bay Area lernt man in Palo Alto und vor allem in Oakland kennen (auch wenn es für den Fremden keine sonderlich gute Idee ist, unbedarft dorthin zu gehen).

Dann gibt es die örtlichen Museen mit Sammlungen zu Kunst, Geschichte, Ethnologie. Lehrreich, oft auch schön, aber meist vergangen. Eine örtliche Galerie, die regionale, zeitgenössische Künstler ausstellt, ist da meist interessanter. Bevor ich in Mexiko Stadt unvermeidlich das – wirklich grandiose, hervorragend gemachte, sehr lehrreiche, örtliche anthropologische Museum besuchte – ein Tag reicht hier bei weitem nicht, bei so vielen Exponaten zur Geschichte nicht nur Mexikos, sondern ganz Mittelamerikas mit seinen Mayas, Azteken, Zapoteken, Olmeken, Tolteken, Huicholen … –, hatte ich örtliche Supermärkte, Geschäfte und Märkte besucht – natürlich auch den berühmt-berüchtigten Mercado La Merced mit frisch geschlachteten Hühnern in praller Sonne, gefälschten Markenklamotten, herrlichem Obst und Gemüse, Riesen-Dildos in Kinderaugen-Höhe, unbekannten Gewürzen, Snuff-Videos, lecker aussehendem, aber dubiosem Streetfood und jeder Menge Hehler-Ware, der Große Bazar in Istanbul ist mickerig (und touristisch verlaust) dagegen –, war durch die Gänge und Gassen geschlendert, hatte mir die Waren und Menschen angeschaut, was wird hier angeboten, womit kochen die Einheimischen, was gibt es frisch, was abgepackt, was als Convenience, was kostet ein Liter Milch umgerechnet auf den örtlichen Durchschnittsverdienst, womit spielen die Kinder hier, was gibt es am Zeitschriftenstand, mit welchen Möbeln richten die Leute ihre Wohnungen ein, welchen Alc gibt es, wie groß ist die Auswahl und wie teuer ist er … solche Sachen halt. Dabei habe ich sehr, sehr viel über das heutige Leben und die heutigen Menschen in Mexiko gelernt. (Eine Marginalie am Rande: mit am meisten beeindruckt hat mich bei diesen Marktbesuchen in der Fremde wirklich das Bad Reichenhaller Marken Salz, das in zwei Supermärkten in Shanghai wie selbstverständlich dort im Regal stand.) Nach den Märkten kam dann das grandiose anthropologische Museum, aber dort habe ich nur etwas über die Vergangenheit gelernt – und dass die Mexikaner heute ihre Vergangenheit hochhalten und stolz darauf sind. Ein Land lernt man nicht in seinen Museen kennen, auch nicht an seinen Stränden und Bergen und Discos, sondern auf seinen Märkten, in seinen Supermärkten und Geschäften, nicht die an den Touristenmeilen, sondern die, wo die Einheimischen ihre täglichen Besorgungen machen, in den Kneipen und Restaurants mit maximal zehn Prozent Fremden, in seinen Gottesdiensten (ich erinnere mich an einen Ostergottesdienst im portugiesischen Städtchen Évora, proppenvolle Kirche, verstanden habe ich kein Wort, aber man kennt ja zum Glück die prinzipielle Liturgie, über zwei Stunden, viel Live-Musik, Gitarre, Geige, Chor- und Solo-Gesang, samt zwei Taufen und einer Trauung, ergriffene, mal andächtige, mal fröhlich mitsingende Gläubige, und das alles in einer Messe, da war ich dann auch wieder katholisch), in den Stadtvierteln, die nicht so hübsch sind, wo kaum Touristen hingehen (weil sie eben nicht so hübsch sind), wo die Einheimischen quasi gezwungenermaßen wohnen und leben, alldieweil die hübschen Viertel fest in Touristenhand sind und damit unbezahlbar und -erträglich (ein gutes Beispiel ist hier Bozen, die Altstadt ist zugegebenermaßen sehr nett, die Gastronomie selten gut, aber fast durchweg teuer, hier drängen sich die Touristenheerscharen Arsch an Arsch und kaufen an den hübschen Marktständen völlig überteuerten südtiroler Speck, getrocknete Steinpilze und Tomaten; geht man nach Westen über den Talferbach, findet man kühle, monotone, viergeschossige Wohnbebauung aus faschistischer Zeit, alles andere als nett, sogar ein – umstrittenes – Mussolini-Denkmal gibt es dort noch, die Kneipen und Restaurants westlich des Talferbachs sind nicht schick, selten urig, eher pragmatisch, doch immer freundlich, gut, regional und wohlfeil, es sind die Kneipen und Restaurants, wo die einheimischen Bozener hingehen und weitgehend unter sich sind; am Samstag gibt es dort einen Wochenmarkt, keine hübschen Marktstände, sondern einfache Bretter auf Böcken, die Qualität der Waren ist hervorragend und – guess what – die Preise sind durchweg noch nicht einmal halb so hoch wie in der netten, aber touristisch verlausten Altstadt), an diesen Orten findet das „richtige“, das authentische Leben der Einheimischen statt.

In der Fremde brauche ich kein „Essen wie zuhause“ – das verfluchte Wiener Schnitzel an der Algarve –, keine künstlich erschaffenen Erlebniswelten – Disneyland & Co., aber von mir aus auch Palm Islands –, keine touristischen Attraktionen – das London Eye (und fast bin ich versucht, auch den Eifelturm hier zu nennen, völlig überbewertet) –, keine hippen Party-Locations – natürlich, Ballermann, oder das Privilege auf Ibiza; gerate ich allerdings durch Zufall in ein Volksfest auf dem niederbayrischen Dorfe oder in das Straßenfest an Heilig Abend in Dubrovnik, da bin ich dabei, das ist wieder authentische Fremde –, keinen gesichtslosen, weltweit fast identischen, ausufernden Standard-Luxus, den sich fast eh nur Auswärtige leisten können – das unsägliche Oberoi in Bombay (sowas ist gut für Business-Reisen, man bekommt noch nicht einmal richtig mit, dass man in der Fremde ist), dann schon lieber das deutlich in die Jahre gekommene Taj –, keine internationalen Sterne-Restaurants – der Pseudo-Italiener Il Ristorante-Niko Romito im Bulgari Resort in Dubai, oder von mir aus auch Gordon Ramsay Burgers in Las Vegas (das Futter im Stammhaus in Chelsea ist schon schlecht genug, trotz seiner drei Sterne, wie mag es da erst in der Fleischklops-Braterei-Filiale der Restaurantkette zugehen?) – … sowas brauche ich alles nicht, wenn ich in die Fremde reise, um die Fremde und die Fremden besser kennen und verstehen zulernen. Nun gut, ein gewisser Standard sollte für mich da sein, was Sicherheit, Sauberkeit, eigenes Bad, trinkbares Wasser anbelangt, aber dann bin ich offen. Ich gestehe ein, auf dem Schlafplatz eines chinesischen Wanderarbeiters würde man weitaus mehr über China lernen als in einer Nacht im Sunrise Kempinski zwischen Peking, Mauer und Ming-Gräbern, auch in einem 5 US-Dollar Hostel in Thailand wäre man näher an den fremden Menschen, aber man will ja nicht übertreiben.

In der „fremden Fremde“, speziell in Übersee, das gehe ich schon lieber – und vorsichtshalber – in Hotels internationaler Ketten, auch wenn sie alles andere als „landestypisch“ sind, aber einen gewissen Standard hätte ich dann schon gerne, das braucht kein Infinity-Pool im 107. Stockwerk zu sein, wie gesagt, Sicherheit, Sauberkeit, eigenes Bad, trinkbares Wasser genügen mir; durchgelegene Matratzen, zerschlissene Handtücher, klapprige Klimaanlagen (wenn überhaupt), nehme ich fluchend, aber so doch hin. Kobra sollte halt keine im Zimmer sein, oder Überfälle auf dem Weg zum Hotel, oder Diebstähle, oder Brechdurchfall nach dem Frühstück. In Europa hingegen (nehmen wir Moldawien, den südlichen Balkan und die europäischen Teile Russlands und der Türkei, Weißrussland, aus gegebenem Anlass die Ukraine, vielleicht auch noch – sorry to say – das Baltikum einmal aus) stapfe ich munter und vertrauensvoll in jedes Dorfgasthaus und örtliche Stadthotel, das sich mir bietet, ebenso in Nordamerika, obwohl, dort sind es meist Motels. Nach langen Jahren des Reisens auf diese Art und Weise sage ich heute, 20% – jedes Fünfte – der besuchten regionalen Gasthäuser und Hotels waren scheiße, richtig scheiße, verschimmeltes Toastbrot auf dem Frühstücksbuffet, Speisekarte komplett nur mit Convenience, aufgebrochenes Auto auf dem angeblich bewachten Hotelparkplatz, Schimmelorgien in der Dusche, Vermittlung eines betrügerischen Autovermieters durch den Concierge, solche Sachen, da hat für mich der Spaß ein Loch. 50% waren – mehr oder minder – ok, einiger Tadel, einiges Lob, aber in Summe passte es schon. Immerhin 30% – knapp jedes Dritte – waren irgendwie richtig gut, und ich fahre wieder – wieder und wieder – hin – The Warwick in Manhattan, die Krone in Großheubach, das Helvetia in Zürich, das Regina in Wien –, da fängt die Fremde dann an, so etwas wie fremde Heimat zu werden, das ist schön.

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