An einem trüben, regnerischen Sonntagmorgen verließen wir Nürnberg. Karte und Navigationsgerät ungenutzt, stur folgten wir dem Kompass Richtung Westen, so gut es irgend ging, selbst über Feld- und Waldwege, nur Unterholz, Wiesen und Bachläufe mieden wir. Bei diesem Fahren nach dem Kompass sieht man die Landschaft aus völlig anderen Blickwinkeln, man lernt Ecken kennen, die man sonst niemals sehen würde, die in keinem Reisführer stehen, an denen keine große Straße vorgeht, die so unbedeutend sind, dass sie noch nicht einmal in Wikipedia verzeichnet sind, aber gleichwohl sehr oft schön, herb, faszinierend, unverfälscht, auch hässlich, belanglos, trist, aber niemals überlaufen, künstlich, touristisch vermarktet: das pralle ländliche Leben eben. Anfelden ist so ein Ort, mitten im Fränkischen Wald, die Staatstraße 2245 führt durch den Weiler,(„Staatsstraße“, kein Euphemismus, wenn dann schon eine Hyperbel, man ist versucht, an „State Highway“ zu denken, tatsächlich ist die „Staatsstraße“ eine kleine, von Dung und Kot verschissene Landstraße quer durch die Felder), dazu der Grundgraben, der sich kurz hinter Anfelden mit dem Egelbach vereint, die sich dann baldauf gemeinsam, unweit der Büttelbergstraße im Hauptort Oberdachstetten sang- und klanglos in die Fränkische Rezat ergießen: wenn in China ein Sack Reis umfällt, so ist wahrlich deutlich mehr los. Anfelden, das sind vielleicht ein Dutzend bäuerliche Anwesen, keines reich oder prunkvoll, aber auch keines ärmlich oder verkommen, allesamt propper, aufgeräumt, man sieht, dass die EU-Subventions-Milliarden hier baulich ordentlich angelegt wurden, dazu noch eine Bushaltestelle (mehr wohl zum Wegfahren als zum Ankommen), und dann schließlich mitten in der Siedlung („Ort“, gar „Dorf“ wären übertrieben) der Landgasthof Dietz als Teil eines wirklich stattlichen bäuerlichen Anwesens. Wie waren durch viele Dörfer gekommen und hatten seit dem späten Morgen Dutzende von Dorf- und Landgasthäusern gesehen. Viele waren schlichtweg verwaist, seit Jahren aufgegeben, noch nicht einmal ein Pizzabacker, Entenfrittierer, Bulettenstapler oder Curryrührer hatte sich ihrer erbarmt, in den leeren traurigen Speisekartenkästen nisten die Spinnen. Vor anderen standen zwei, drei Autos und ansonsten gähnte die Leere den Reisenden förmlich an, vor anderen standen Busse, verheißend, dass hier Berge vorgefertigten, tiefgekühlten Futters in beliebiger Menge der Mikrowelle und sodann dem Verfüttertwerden an Horden von Busreisenden harrten. Keinerlei Grund, anzuhalten, gar auszusteigen und zu speisen. Nicht so beim Landgasthof Dietz. Der Hof des Anwesens, die Staatsstraße, der Hof gegenüber, allesamt vollgeparkt mit Autos mit heimischen Kennzeichen, will uns sagen, hier also rotten sich die Eingeborenen zum kollektiven Schmausen zusammen, und solches Rotten von Einheimischen an Futtertrögen ist in der Regel ein gutes Zeichen.
Das Gebäude des Gasthofs selber, umgeben von großen Scheuen, Silos, Ställen und einem Hof voller landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge, ähnelt mehr einem bäuerlichen Wohnhaus aus den 50er Jahren, als die Aussiedler-Höfe gebaut wurden, denn einem Gasthaus. Fünf Stufen zur Haustüre, winziger Vorraum, mehr ein Wohnungs-, noch nicht einmal ein Hausflur, im niedrigen Gastraum rechts der kleine Schanktresen und die Tür zur Küche, kein Dutzend Tische, dahinter noch ein Nebenraum, wohl für Familienfeiern und Vereinssitzungen, nochmals kein Dutzend Tische, unkaputtbare und zeitlose Brauereimöbel aus Massivholz, wenig von dem üblichen Deko-Kitsch, fast jeder Platz besetzt, schwüle Luft von atmenden, schwitzenden, eng gedrängten Menschenleibern, Küchengerüchen, dampfenden Speisen, ungeöffneten Fenstern, dazu ein Stimmengewirr, in dem die rollenden „R“ munter Fangen miteinander spielen, zwei unermüdlich flinke Bedienungen, Oma am Schanktresen, unterstützt offensichtlich vom vielleicht 14-jährigen Enkel, in der Küche Gewusel und konzentriertes Arbeiten, eine gestrenge Stimme scheint das Geschehen dort stramm zu leiten und zu koordinieren, eine der Bedienungen nimmt sich unserer – die wir etwas unsicher zwischen Flur und Gastraum im Türstock stehen und das Tableau bestaunen – freundlich an, als wären wir Stammgäste, ja fast Freunde des Hauses, sie „Ihrzt“ uns, und platziert uns ohne viel weiter zu fragen neben einer offensichtlich einheimischen Familie an deren Tisch, die ohne Murre und Knurren, gar mit einem freundlichen Nicken in unsere Richtung, zusammenrücken, um uns Platz zu machen und sich sodann wieder ihren Familiengesprächen mit rollendem „R“ zu widmen.
Entgegen der oft anzutreffenden bajuwarischen Unart, Sonntagmittag nur eine reduzierte Karte von vielleicht einem halben Dutzend Menues zu bieten (Tagessuppe, wahlweise Schweinebraten, Rinderbraten, Geflügel, Schnitzel, Fisch oder irgendwas „Exotisches“, Tagesdessert), offeriert man im Landgasthof Dietz die komplette Karte, zusätzlich noch eine umfängliche Wildkarte, denn just bei unserem Besuch hatten die „Wildwochen“ alldort begonnen (mehr dazu s.u.). Alle Speisen werden offensichtlich à la minute zubereitet, was einerseits sicherlich löblich ist, andererseits bei dem brummenden Laden aber auch zur Folge hat, dass der eine mit seinem Essen fast schon fertig ist, während der andere gerade sein Hauptgericht serviert bekommt. Die Gerichte sind durch die Bank weg bodenständig, solide, reichlich, frisch. Steinpilzsuppe aus getrockneten Steinpilzen mit viel Majoran und Rahm tadellos; frische, sauber geputzte, knackige Salate mit guter Vinaigrette; sehr guter Karpfen, kein bisschen modrig, in gutem Fett gebacken, knusprige Panade; Rehrücken leider tot gebraten, von Rosa keine Spur, Sößchen dazu Covenience, ebenso die außen knusprigen, innen klebrigen Tiefkühl-Kroketten, aber ein großes Stück gut gewürztes Fleisch, und dazu für Reh extrem wohlfeil, der Speck-Rosenkohl dazu selber gemacht, sauber blanchierter Kohl mit lecker gebratenem Speck; Sauerbraten mit Klos wieder tadellos; durchaus bemerkenswert die frische, sahnige, leicht scharfe Paprikasauce zu den – nochmals F***-trockenen – mit Zwiebeln am Spieß gebratenen Schweinemedallions, auch hier wieder irgendwelches frittiertes Kartoffelzeugs aus der Tiefkühltruhe als Beilage. Und mit vier Personen hat man im Landgasthof Dietz Mühe, samt Vor- und Nachspeise und Getränken 100 € zu verfuttern, 80 € haben wir an diesem Sonntagmittag gerade mal geschafft.
Gutes, reichliches, wohlfeiles Fleisch, ordentliche Salate, meist passables Gemüse, bei den Soßen viele Tüten, Dosen, Tiefkühlpacks – dazu freundliche, flotte, bodenständige, ob des Andrangs systemisch überforderte heimische Bedienungen, wahrscheinlich macht dies ein typisches fränkisches Dorfgasthaus an einem Sonntagmittag aus. Suppe – Salat – Hauptspeise – Espresso – Schnaps – dazu ein paar Getränke, das dauerte über zwei Stunden, aber alle anderen Gäste um uns herum verbrachten nämliche Zeiten mit Warten, Schwatzen, Genießen des prallen ländlichen Lebens. Nach dem Essen plauderten wir noch ein wenig mit der Bedienung. Sie war selber erstaunt ob des Andrangs, sie vermutete, es könne daran liegen, dass just an diesem Tag die Wildwochen im Landgasthof Dietz angefangen hätte. Sie erzählte, sie habe die Chefin gefragt, ob sie Werbung für die Wildwochen gemacht hätte, und dies die Erklärung für den großen Andrang sei. Darauf habe die Chefin geantwortet: „Bist Du blöd, da wären ja noch mehr gekommen!“ Überall werden absurde Summen für Werbung ausgegeben (und natürlich hinten rum wieder auf die Preise der Produkte geschlagen, so dass der Verbraucher sie letztendlich zahlt), nur nicht im Landgasthof Dietz, da kommen die Leute von selber. Das ist bodenständige Qualität, das lob‘ ich mir.