Summa summarum: grundsolides traditionelles gutbürgerliches deutsches Gasthaus in seiner besten Form.
Der Gastraum ist zur Mittagsstunde brechend voll, an keinem der zwei Dutzend Tische auch nur ein Platz frei. Die Leute sind alt, uralt, alle so um die 65, 75, würde ich schätzen. Sakkos von Woolworth, Kleider von C&A, Schuhe vom Deichmann, Krawatten von anno dunnemals, wahrscheinlich noch vom Großvater, die Dinger halten schließlich ewig, bei den Damen hier und dort ein Halstüchlein aus Seide, meist in schrillen Farben, die ganze Gesellschaft hat sich offensichtlich Sonntags-fein rausgeputzt, obwohl es mitten unter der Woche ist, vielleicht ein Klassentreffen der örtlichen Realschul-Abschlussklasse von 1965. Das Waidlerische Idiom ist unverkennbar in dem lauten Stimmengewirr, das sind eindeutig alles Einheimische von hier, aus dem tiefsten Bayrischen Wald, keine herangekarrten Touristenbusse auf Kaffeefahrt mit Gelegenheit zur Teilnahme an einer modernen Verkaufsveranstaltung. Viele Einheimische in einem Lokal, das ist immer und immer ein gutes Zeichen, Durchreisende und Touristen, die kann man problemlos mit miesem Futter zu überhöhten Preisen abzocken und über’s Ohr hauen, Einheimische hingegen, die sollen wiederkommen, immer wiederkommen, Stammgäste werden, so hat der Wirt eine sichere Einnahmebasis, aber nur, wenn er Qualität und value for the money liefert, das muss weder getrüffeltes Schneckenragout noch gegrillter Loup de mer mit Safran-Beurre blanc sein, aber ein ehrlicher Schweinebraten mit selbstgemachten Knödeln und Safterl aus dem Reindl, ein gut geputzter, knackiger Salat mit ordentlichem Dressing, frisch ausgebackene, noch lauwarme Ausgezogene … you name it, das sind alles gute, ehrliche, traditionelle, noch nicht einmal einfache Gerichte (ich wüsste zu gerne, wie viele gehypte Sterneköche heute noch ohne Tricksereien und ohne Mega-Aufwand noch eine ordentliche, Convenience-freie Schweinsbraten-Sauce hinbekommen!), zugegeben, keine Hochküche mit Zutaten vom anderen Ende der Welt und kunstvoll geschnitzten Gemüsestücklein, sondern vorwiegend mit heimischen Zutaten, aber auch die können so oder so sein, und vor allem auch ziemlich arbeitsaufwändig, was jeder, der z.B. schon selber mal Ausgezogene (ein Schmalzgebäck, auch Krapfen, Küchl, Kiacherl, Kiachl, Rottnudel, Kiarchen, Krapfn, Runda Kung, Küchla, Fenschter-Kiachle, Scherbe, Bauernkrapfen, Knieküchle, Kirchweihnudeln genannt) gemacht hat, weiß, was das für eine Arbeit ist.
Wie dem auch sei, schon beim Betreten des Kellermann in Grafenau – für die kleine Terrasse auf dem Stadtplatz vor dem Haus ist es leider noch zu kalt – verweist uns die sichtlich gestresste stramme Bedienung im Phantasie-Dirndl halbwegs höflich – soweit es eben der Stress zulässt – in den Nebenraum. Beide Gastzimmer sind nicht gerade mega-urig-gemütlich-historisch-uralt-gewachsen, aber gekachelter Fußboden, Sprossenfenster, Vorhänge, Sitzbänke, Tische, Stühle aus unkaputtbaren, ländlich-rustikalen Gastronomie-System-Möbeln, ich schätze späte Kohl-Ära, immerhin Leinentischwäsche, Kreuz in der Ecke, im Nebenzimmer noch das nicht vollständig abgeräumte Frühstücksbuffet für die Hotelgäste (nicht, dass ich falsch verstanden werde, nicht etwa vertrocknete Wurstplatten, sondern die Cerealien und die Teebeutel-Bar stehen noch rum, trotzdem nicht schön). Hier im Nebenzimmer sind angesichts der geriatrischen Flut auch der örtliche Herr Apotheker samt Enkelin und Mutter, die beiden Lehrer und der Handelsvertreter, der offensichtlich Stammgast im Kellermann ist, zum Lunch platziert worden, auch bei denen ist das Waidlerische Idiom noch heraushörbar, aber längst nicht mehr so stark, die hier scheinen auf dem Gymnasium Dialekt-Weichgespült worden zu sein, aber so ganz bekommt man das ja nie raus. Zum Glück.
Die Speisekarte im Kellermanns ist … unspektakulär. Man könnte auch sagen: unaufgeregt, bodenständig, dazu frei von Zeitgeist-Show-Effekten, Imperialisten-Kniefällen, Moden und Pauschaltouristen-Abfütterung: kein dry aged, kein Burger, keine post-molekulare Resterampe, kein Vegan-Gluten-Lactose-Dreck, keine Original Bayernwald-Flammenkuchen … statt dessen Schweinsbraten, Zwiebelrostbraten, Donauzander, Leberknödelsuppe, natürlich Spargel aus dem Gäuboden, auch mal Schnitzel mit Pesto gefüllt, Bayerwaldlamm, Marktgemüse mit Schafskäse oder Crème fraîche Eis (hier „Creme-fraiche-Eis“ geschrieben), schließlich selbst gemachte Spargelmousse-Ravioli oder Gemüse-Curry: das gab’s weiland bei Mama auch nicht viel anders, starke Tradition plus behutsamer Neuerung. Bei den paar Gerichten, die wir diesmal bei Manfred Ranzinger probiert haben, war wieder rein gar nichts Convenience oder 08/15, das war alles sehr solide, gekonnte, frische Hausmannskost. Es beginnt bei besagtem Schweinsbraten mit Reiberknödel und Salat, der kostet 11,50 EURO. Hier hat man es nicht nötig, dieses bajuwarische Parade-Gericht für symbolische 9,80 EURO, also unter 10 EURO, anzubieten, hier kostet’s, was es kostet, punktum. Entsprechend kostet der Haarschnitt beim Stangel nebenan 10,50 EURO (vergleiche https://opl.guide/marginalie-72-aus-der-zeit-gefallen/). Ach ja, und tadellos ist dieser Schweinsbraten auch noch. Spargelcreme- und Rindssuppe kräftig, Leberknödel Kätzchenkopf-groß, Kresse und Schnittlauch darüber tatsächlich frisch geschnitten, krummer Bauernspargel, Köpfe teilweise schon grün/lila, der kommt aus keiner industrialisierten Spargelproduktion, sondern vom Klein-Erzeuger, außerordentliche Qualität mit leichter Bitter-Note, gut geschält, auf den Punkt gekocht, Butter dazu wirklich geklärt und nicht nur geschmolzen, Salzkartoffeln leider nur warmgehalten, Zwiebelrostbraten hervorragendes Fleisch, perfekt medium gebraten, frisch frittierte Zwiebeln, kräftiges kurzes braunes Sößchen, Röstkartoffeln gar nicht mal so schlecht für süddeutsche Verhältnisse, das Crème fraîche Eis mit frischen Erdbeeren eine schöne kleine Flucht aus dem Alltag, sogar die Espressi heiß und stark, die Bedienungen flott und freundlich, und das Alles samt Wasser, Bier und Schnapserl für gut 100 EURO für drei Personen, da beißt die Maus kein Faden ab. Manfred und Eva Ranzinger in ihrem Kellermann in Grafenau, das ist für mich nach wie vor ein Benchmark in Sachen unaufgeregter, ordentlicher, unspektakulärer, gut-bürgerlicher Landküche. Ich bin zuweilen mal gerne dort (besonders übrigens zur Pfifferlings-Zeit, da wird’s dann auch mal exzeptionell).
Hotel Gasthaus „Zum Kellermann“
Eva & Manfred Ranzinger GdbR
Stadtplatz 8
94481 Grafenau
Tel.: +49 (85 52) 9 67 10
Fax: +49 (85 52) 96 71 33
Email: info@hotel-zum-kellermann.de
Online: www.hotel-zum-kellermann.de
Hauptgerichte von 9,90 € (Kässpätzle mit Röstzwiebeln und Salat) bis 23,50 € (Lamm-Lende, Knoblauch-Sauce, Gemüse, Kartoffelgratin), Drei-Gänge-Menue von 18,10 € bis 44,50 €
Doppelzimmer mit Frühstück (pro Zimmer, pro Nacht) 82 €