Gespräch mit einem Trinker: Am schlimmsten ist die Wolfsstunde

Ich nehme die Abendmaschine zurück von San Francisco nach München, LH 459, die Klienten haben klaglos Business Class bezahlt, ich habe mich nicht wirklich dagegen gewehrt. Ein schmutziger Job: ein imperiales Start-Up, noch nicht Milliarden-, so doch bereits hunderte von Millionen schwer, will vor dem Markteintritt in Europa in einer sehr interessanten, innovativen, wahrscheinlich lukrativen Nische mehr über dieses Segment in DACH erfahren, ein Headhunter hatte mich ausfindig gemacht, nach zwei ziemlich gut bezahlten abendlichen/nächtlichen Video-Calls hatten sie mich zu einem persönlichen Workshop vor Ort eingeladen, nicht etwa nach Silicon Valley, sondern nach Silicon Beach, dem neueren Start-Up-Hub 400 Meilen weiter südlich, westlich von Los Angeles gelegen. Die Preise im Silicon Valley steigen in’s astronomische, sowohl für Lebenshaltungskosten als auch für Gehälter, SanFran platzt aus allen Nähten (am Wohnungsmarkt ist das mit den steigenden Leerständen offensichtlich noch nicht angekommen), da suchen sich die Gründer halt Alternativen, Boston, NYC, Austin, Seattle oder eben West-L.A., und eine Runde surfen in der Mittagspause geht in Silicon Valley ohne Heli nur echt schwer, manche meinen sogar, die Lebensqualität in L.A. sei besser als an der Bay, ich bin mit der Engelsstadt nie warm geworden, auch Santa Monica oder Hollywood können mich nicht versöhnen. Meine Klienten hatten mich in einem Hotel namens Cambria untergebracht, Vier Sterne, beileibe nichts Besonderes, durchaus funktional-ungemütlich, desaströses Frühstück, right in the middle of nowhere zwischen Airport und einem riesigen Tanklager gelegen, vielleicht zwei Kilometer vom Strand entfernt, aber abends rausgehen und einmal um die Blöcke ziehen, authentisches einheimisches Leben erleben, völlige Fehlanzeige, unter touristischen Gesichtspunkten nicht so der Bringer. Die beiden Meetings mit zwei der vier Gründer, zwei Beratern und ein paar Business Developern fanden immer im Hotel statt, den Firmensitz habe ich nie gesehen. Meine Tagessätze als Berater sind die berühmten Peanuts für die Jungs, Jungs ist gut, gestandene, durchtrainierte, sonnengebräunte Businessmen in den Vierzigern, blitzgescheit, unendlich pragmatisch, knallhart, eiskalt, aber solange man auf ihrer Seite ist, recht umgänglich. Für alle vier Gründer ist es ihr was-weiß-ich-wievieltes Start-Up, und aus den vorherigen sind sie offensichtlich nicht als arme Männer herausgegangen, sie wissen sehr genau, wie der Hase läuft, nur eben nicht in Europa. Zwei Tage lang hatten sie mich ausführlich gegrillt, ich hatte Statista, Bundesanzeiger, IVW, Creditreform, Bisnode und sonst was parallel in meinem Browser offen, dass sie mich nicht gefragt haben, welche Unterhosen der vermutete statistisch durchschnittlich-repräsentative User in DACH denn nun tragen möge, war auch schon alles, ansonsten wollten sie eigentlich alles wissen, und meist konnte ich auch „delivern“. Nach dem ersten Tag hatten mich alle vier Gründer zu einem Dinner in ein für Ami-Verhältnisse nobles Fischrestaurant in Santa Monica direkt am Strand eingeladen, wahrscheinlich eine besondere Ehre. Drei Dinge sind mir von diesem Dinner in Erinnerung geblieben. Erstens, zu meiner Seezunge brachte der Kellner ein Fleischmesser; als ich fragte, ob er ein Fischmesser für mich habe, entgegnete er: „Excuse me, Sir, what is a fish knife?“ Zweitens: wir tranken einen Riesling aus Washington, einen 2019er Poet’s Leap von Long Shadows Vintners aus dem Columbia Valley (Armin Diel von der Ahr hat hier seine Finger im Spiel), gar nicht mal schlecht; aber: zu fünft teilten wir uns eine einzige Flasche über den ganzen Abend, die Highfligher nippten nur an ihren Gläsern, bestellten dazu aber immer wieder reichlich Coke (wenigstens mischten sie Wein und Cola nicht). Drittens: ziemlich direkt fragten sie mich, ob ich mir vorstellen könne, als Gründungs-CEO ihre deutschsprachige Dependance hochzuziehen, ordentliches, aber keinesfalls fulminantes Grundgehalt plus üppige Aktienoptionen im Erfolgsfalle. Würden Sie für Leute arbeiten wollen, die sich über einen Abend eine einzige Flasche guten Weines teilen? Meine Antwort jedenfalls stand fest. Nun gut, ich hatte ziemlich viel Wissen über deutsch-sprachige Märkte in zwei Tagen sehr effektiv und sehr effizient rausgehauen, war dafür recht ordentlich bezahlt worden, und das war’s für’s Erste auch mal.

Rückflug hatte ich mir ab San Francisco gebucht, wenn ich schon mal an der Westküste bin, wollte ich auch noch ein wenig Urlaub machen und was sehen. Ich hatte mir einen Mietwagen genommen und war die gut 800 Kilometer von L.A. nach SanFran hochgefahren, immer auf dem Highway #1, der alten Panamericana, die meist direkt an der Pazifikküste verläuft, über Santa Monica, Malibu, Santa Barbara mit den Villen der Reichen und Schönen, vorbei an der Vandenberg Air Force Base, in San Simeon hatte ich mir das Weingut der Hearst-Familie angeschaut, happige Preise, geschmeckt hat’s mir nicht, in Monterey Seelöwen gucken und Sardinen essen, dann San Francisco, Auto zurückgegeben und noch zwei Tage im Palace an der Market Street verbracht. Acht Tage hatte ich mir für diesen kleinen Roadtrip gegeben, jeden Tag +/- zwei Stunden ganz gemächlich fahren, in irgendeinem Städtchen anhalten und ein Zimmer nehmen, für den Rest des Tages ungeplant durch das Städtchen laufen und erleben, entdecken, riechen, hören und meist schlecht essen.

Gegen 18:00 Uhr fahre ich mit dem Taxi vor dem San Francisco International Airport vor, für imperiale Verhältnisse ein relativ kleiner Flughafen. Einchecken und Security Checks gehen überraschend fix. Dank meines Business Class Tickets darf ich in die United Polaris Lounge direkt am Terminal G, angeblich die größte Flughafenlounge der Welt über zwei Stockwerke, mehreren Buffetts, einem eigenen à la carte Restaurant und einer Bar – natürlich alles kostenlos (natürlich nicht kostenlos, sondern über das gar nicht mal so billige Ticket mitbezahlt). Ich gedenke, das zu tun, was ich immer vor Langstrecken-Flügen tue: schnell irgendwas fettiges, saugendes essen (Bratreis ist da z.B. optimal), dann in kurzer Zeit viel hochprozentigen Alkohol trinken (irgendetwas, was zudröhnt und die Blase nicht belastet, vorzugsweise Scotch oder Vodka, bloß keinen Wein oder Bier, da muss man nur bieseln), angeschickert in’s Flugzeug gehen, dort nochmals nachgießen, das für meinen Geschmack chronisch miese Bord-Catering auslassen, drei Paracetamol und vier Bullrichsalz-Tabletten einwerfen, bräsig einschlafen, zehn Stunden später kurz vor der Landung aufwachen, zwei Kaffee und eine Flasche Mineralwasser trinken und ausgeschlafen keinerlei Jetlag haben. Das ist kontrollierter Alkohol-Ge-, nicht -Missbrauch in einer bestimmten Situation, wo er einfach hilfreich ist. Sollte ich regelmäßig mehrere Intercontinental-Flüge pro Woche absolvieren, sollte ich mir vielleicht eine andere Lösung suchen, doch die paar Mal, die ich im Jahr so weit fliege, geht das schon.

Die Business Class ist vielleicht zu einem Drittel gefüllt, jeder Gast hat zwei Sitze für sich. Irgendwie komme ich mit dem Mann zwei Sitze weiter in’s Gespräch. „Fliegen Sie auch nach München?“ fragt er. Ich sollte antworten „Nein, ich will über Neufundland mit dem Fallschirm aussteigen.“, verkneife es mir aber. Wir plaudern Belanglosigkeiten, „Was haben Sie in den Staaten gemacht?“, „Wie oft fliegen Sie rüber?“, „Was machen Sie beruflich?“, „Finden Sie auch, dass die Maschinen von Air France meist total abgenudelt sind?“, solche Sachen halt. Irgendwann fragt er, ob er sich neben mich setzen kann, statt vorgebeugt über den Gang zu reden. Warum nicht, die Sitze sind ja groß genug. Irgendwie wird das nichts, mit meinem Plan des Nachgießens und Wegratzens. Trotz des Small-Talk-Modus, in dem wir uns noch befinden, klingt der Typ interessant, saloppes Äußeres, gepflegte Erscheinung, gewählte Ausdrucksweise, immer wieder nette Bonmots und kluge Anmerkungen, man merkt, dass der Mann was auf dem Kasten hat. Customer Experience Journey Experte ist er, soweit ich das verstanden habe, arbeitet er als freier Berater für die unterschiedlichsten Klienten in aller Welt, die irgendeinen Kladderadatsch – von der Jeans über den Mobilfunkvertrag und den Hotelaufenthalt bis hin zur Luxuslimousine – verkaufen und die wollen, dass der Kunde vom ersten Kontakt am besten dann bis zur Bahre, zumindest aber bis zum Kaufvertragsabschluss an die Hand genommen wird und immer genau das erhält, was er gerade braucht: Beratung, Infomaterial, Kundendienst, neue, passende Kaufangebote, Upgrades, Goodies, persönliche Gespräche, … you name it. Letztendlich geht es darum, den Kunden nicht nur an das Produkt, sondern an eine Marke, einen Anbieter zu binden und sowas wie eine Dauerkunden-Beziehung aufzubauen, die für den Verkäufer aus einem kontinuierlichen Geben (Infos, Hilfe, Goodies, …) und Nehmen (Geld für neue Verkäufe, aber eben auch persönliche Daten, die für Folgegeschäfte oder – zahlende – Dritte interessant sind) besteht. Was er erzählt, ist spannend, ich höre gerne zu und lerne. Als wir über meine Profession sprechen, bemerkt er „Das klingt verdammt nach verdammten Single Sales. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie Sie daraus eine Dauerkundenbeziehung mit kontinuierlichem Dealflow machen können?“ Nein, habe ich ehrlich gesagt noch nicht, aber gute Idee. „Ich heiße übrigens Phil, eigentlich Phillip, aber alle nennen mich Phil.“ stellt er sich vor. Wir sind also beim Du angekommen, nach ein paar Drinks auf 11.000 Metern Höhe, genau genommen hatte ich zwei Scotch, er wenigstens schon sechs oder sieben doppelte Vodka, er leert sein Glas stets mit einem Schluck, dabei spricht er vollkommen klar, logisch und zusammenhängend, auch keinerlei Anzeichen von körperlichen Koordinationsproblemen. Wäre ich Polizist, ich käme bei einer Verkehrskontrolle wahrscheinlich noch nicht einmal auf die Idee, ihn pusten zu lassen. „Du haust aber ganz schön rein.“ bemerke ich. „Ich habe in der Lounge schon vorgetankt und wollte hier eigentlich nur noch den Absacker nehmen, um dann bis München durchzupennen.“ „Das ist auch mein Plan, wie eigentlich jeden Abend.“ entgegnet er. „Jeden Abend?“ frage ich ungläubig, „Du fliegst jeden Abend intercontinental?“ „Quatsch, natürlich nicht, aber man muss nicht fliegen, um sich die Kante bis zur Bewusstlosigkeit zu geben. Das kann man auch daheim oder im Hotel.“ „Und wie oft gibst Du Dir die Kante, so bis zur Bewusstlosigkeit?“ „Natürlich täglich.“ „Natürlich was …?“ frage ich fassungslos. „Täglich, jeden gottverdammten Tag, den unser Herrgott werden lässt.“ Moment mal, frage ich mich, der Herrgott lässt also Tage werden, und die sind dann von ihm verdammt – finde den Fehler. Er scheint meine Gedanken zu erraten. „Versteh’ mich jetzt nicht falsch, die Tage an sich sind gut, nur nicht für mich, ich bin verdammt, und so sind meine Tage. … Ich bin Trinker.“ „Was heißt ‚Trinker‘ für Dich?“ „Trinker, das heißt jeden Tag wenigstens eine Flasche Schnaps, plus etwas Wein oder Bier zum Essen.“ „Eine Flasche???“ „Oder mehr. Natürlich nicht über den ganzen Tag, nur abends. Ich stehe ganz normal um Sechs oder Sieben auf, gehe eine halbe Stunde auf den Heimtrainer, nicht weil ich mag, aber irgendwas muss ich ja in Sachen Bewegung machen, dusche, Frühstück brauche ich keines, stattdessen eine halbe Packung Zigaretten und eine Kanne Kaffee, dazu die Morgenzeitungen online und die Post, die über die Nacht reingekommen ist. Bei meinen Klienten oder am Schreibtisch bin ich meist gegen Zehn. Den Tag über funktioniere ich perfekt, die Leute mögen mich und meine klugen Einlassungen und Analysen. Dafür werde ich sehr gut bezahlt. Ich sehe zu, dass mein Arbeitstag um Sechszehn Uhr zuende ist und ich meine Ruhe habe, manchmal wird es auch Sechs oder Acht, da werde ich dann schon nervös.“ „Warum nervös?“ frage ich. „Na, weil ich Alc brauche. Ich verstehe das auch nicht wirklich. Tagsüber habe ich kein Verlangen, zu trinken, nur abends. Vielleicht habe ich ja tagsüber noch genügend Restalkohol vom Vortag im Blut, ich weiß es nicht, abends jedenfalls muss ich nachgießen. Wenn ich nach Hause oder in’s Hotel komme, trinke ich meist erstmal ein Wasserglas voll Vodka, meist auf ex, dann passt alles erstmal wieder. Dann sind auch schlagartig diese leichten Bauchschmerzen und die latente Übelkeit, die ich fast jeden Tag mit mir rumtrage, mit einem Mal weg.“ Ein Glas Vodka auf ex, Sapperlot, dagegen sind meine Martini Cocktails Pillepalle. „Und was machst Du dann, nach dem Glas Vodka?“ „Danach bin ich dann noch drei, vier, manchmal auch fünf Stunden funktionsfähig.“ „Was heißt ‚funktionsfähig‘?“ „Naja, Auto fahre ich danach nicht mehr, da bin ich zum Glück konsequent, obwohl ich nichts von dem Alkohol merke. Ich stehe ohne Probleme noch ein Geschäftsessen oder einen geselligen Abend mit Freunden durch, auch einen Video-Call mit Klienten oder Fachzeitschriften lesen. Das Schlimme ist halt, meine Umgebung merkt nichts von meinem Zustand, ich funktioniere einfach weiter, ich lalle nicht, ich torkele nicht, ich rede keinen Blödsinn. Oder merkst Du jetzt bei mir, dass ich sicherlich schon mehr als eine halbe Flasche intus habe?“ Ich muss konstatieren, sein Verhalten, seine Motorik, seine Rede erscheinen mir vollkommen normal, ich bemerke keinerlei Auffälligkeiten, die auf einen Rausch hindeuten würden. Bereitwillig gießen die Stewardessen uns immer wieder Scotch und doppelte Vodka nach, doch in der Zeit, in der ich einen trinke, hat er vier oder fünf. „Rausch kriege ich längst keinen mehr, auch keinen Kater. Irgendwann merke ich, dass ich in’s Bett muss und ziehe mich zurück. Das Einzige, was passiert, ist, dass ich meist für die letzte Stunde des Abends einen Filmriss habe. Das führt dann regelmäßig zu peinlichen Situationen, wenn ich in Gesellschaft war. ‚Aber das haben wir doch schon gestern Abend besprochen.‘, ‚Du hast doch zugesagt, Du würdest Das-und-Das machen.‘ Das sind dann immer sehr unangenehme Situationen für mich.“ Ich bin ziemlich geschockt von dem, was er über sich erzählt. „Aber in’s Bett schaffe ich es immer noch, stets mit einem Wasserglas voll Schnaps auf dem Nachttisch, das ist morgens manchmal ganz, manchmal nur halb leer. Meist schalte ich noch den Fernseher ein und schaue irgendwas. Ich schlafe nicht wohlig ein, ich falle einfach in’s Koma, der Schlaf ist bleiern und traumlos, am Morgen weiß ich auch nicht mehr, was abends im Fernsehen lief, keine Ahnung, Filmriss halt, fast jeden Abend. Am schlimmsten ist die Wolfsstunde.“ „Die Wolfsstunde?“ frage ich. „Die Zeit von Drei bis Vier, die nennt man die Wolfsstunde. Stammt wohl noch von früher, das ist die tiefste Nacht, wo alle Christenmenschen schlafen und nur die Wölfe um den Ort streifen. Ich wache fast jede Nacht um Drei auf, meist läuft der Fernseher und das Licht brennt. Trinken will ich um diese Zeit nicht mehr, der Drang ist um diese Uhrzeit wie weggeblasen, maximal Wasser. Ich schalte dann den Fernseher und das Licht aus und liege wach. Dann gehen mir Gedanken durch den Kopf, meist von Krankheit, Tod, Ende. Mein Rauchen und Saufen müssen mich doch innerlich zerfressen, Krebs, Leberzirrhose, Tumor, irgendwas müssen diese Gifte ja machen. Diese Gedanken sind nicht schön. Um Vier oder Fünf schlafe ich nochmal ein, um Sechs oder Sieben stehe ich dann auf. Dann ist der Schalter wieder umgelegt, ich habe kein Verlangen, zu trinken, ok, Rauchen ja, aber keinen Alc, ich funktioniere einfach wieder und erzähle meinen Klienten mehr oder weniger kluge Dinge, und die geben mir dafür recht viel Geld.“ „Hast Du mal mit einem Arzt gesprochen, was man gegen diese Krankheit tun kann, Entzug oder so?“ frage ich. „Was ich habe, das ist keine Krankheit, für Krankheiten kann man meistens nichts, die kommen halt einfach, ok, der Lebenswandel mag die eine oder andere Krankheit verursachen, Raucherlunge und so. Aber ich bin nicht krank, wenn ich das als Krankheit betrachten würde, würde ich meine Verantwortung von mir wegschieben. Mein Saufen ist keine Krankheit, das ist meine schlechte Angewohnheit, meine Willensschwäche, meine Verzweiflung. Das kann kein Arzt kurieren, ich selber müsste einfach die Kraft aufbringen, es zu lassen.“ „Warum Deine Verzweiflung?“ „Um ehrlich zu sein, weil mein Leben scheiße ist. Ja, äußerlich ist alles ganz hübsch, Penthouse in der Stadt, Ferienhaus in den Bergen, Porsche, Motorrad, Business Class, spannende Klienten-Projekte, Anerkennung, fette Bezahlung, quer durch die Welt reisen, meist tolle Hotels … Versteh‘ mich jetzt nicht falsch, ich will damit nicht angeben oder so, das ganze G’raffel bedeutet mir nichts, es ist komfortabel, aber unwichtig. Innerlich sieht’s ganz anders bei mir aus. Am meisten schmerzt mich, dass ich keine Kinder habe, dass ich irgendwann mal im Grab verrotten werde und nichts von mir bleibt. Ich habe es mit dem Job auch nie geschafft, eine feste Partnerin zu finden, ich bin ja meistens unterwegs, sowas macht keine Frau auf Dauer mit. Mein letztes Date hatte ich vor zwei Jahren, eine echt liebe und hübsche Maus. Selbst mit Viagra lief bei mir nichts, obwohl sie sich sehr bemüht hat. Ich muss sagen, ich habe mir die Libido weggesoffen, ich kriege keinen mehr hoch, weder nüchtern noch betrunken. Dir kann ich’s ja erzählen, ist eh‘ schon egal. Freunde habe ich auch nur sehr wenige, ich meine, so richtig gute Freunde, kein Hobby, kein Sport, früher war ich mal sowas wie ein Feinschmecker, immer auf der Suche nach tollen Restaurants und neuen Rezepten, heute ist mir Essen weitgehend egal, ich muss halt irgendwie ein paar Kalorien in mich reinkriegen, um zu funktionieren. Ich habe einen strikt dreigeteilten Tag: funktionieren, Koma-Saufen, Koma, und das Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Und jetzt muss ich mich hinlegen, sorry, es ist so weit. Sei so nett und sprich mich morgen früh nicht auf dieses Gespräch an, ich werde es wahrscheinlich vergessen haben. Aber es hat gutgetan, das mal jemandem zu erzählen, außer Dir weiß das niemand von mir, behalt‘ es bitte für Dich. Gute Nacht.“ Er setzt sich auf seinen Platz, klappt den Sitz nach hinten, deckt sich mit einer Decke zu und fällt unverzüglich in tiefen Schlaf, regungslos.

Ich sitze auf meinem Platz, blicke durch das Fenster hinaus in die Nacht und denke noch lange über das Gespräch – eigentlich war es ja kein Gespräch, es war mehr ein Monolog, eine Erzählung, wahrscheinlich ein Herz-Ausschütten, eine Beichte – nach. Unbewusst habe ich von Scotch auf Orangensaft gewechselt. Für mich beschließe ich, fortan weniger zu trinken, viel weniger.

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