Bären Schlatt: echte Schweiz

Es gibt Dinge, die ändern sich. Imperiale Präsidenten zum Beispiel, oder die genehme Meinung über Schwule, oder die Speicherkapazität von Chips. Und dann gibt es Dinge, die ändern sich nicht. Die Zahl Pi etwa, oder der durchschnittliche Intelligenzquotient grüner Politfunktionäre, oder das Hermannsdenkmal. Und dann gibt es noch den Bären in Schlatt. Von allen un- oder kaum veränderlichen Dingen zählt er – vielleicht neben der Kronenhalle, der intrinsischen menschlichen Dummheit und der Queen – zu den unveränderlichsten (ich weiß, dass es keinen Superlativ von unveränderlich gibt, Schlaumeier!) Größen der Gegenwart.

Hinter St. Gallen fährt man den Berg hinauf in’s Appenzell. Kurz vor dem Hauptort – Hauptörtchen wäre bei knapp 6.000 Einwohnern bei allem Respekt vor den Schweizern der bessere Ausdruck, aber sie nennen es ja selber „Dorf Appenzell“ – des Kantons biegt man links ab, auf schmale, verschlungene, steile Wege durch grüne Wiesen, endlich rechtfertigt sich der schwere Geländewagen (Geländewagen, nicht SUV) mal halbwegs, oben, knapp unter der Kuppe des Hanges Richtung Süden ein Haufen Häuser, eine propere Kirche, ein freundlicher Kindergarten und seit Jahr und Tag das Wirtshaus des Fleckens, der Bären in Schlatt, ein traditionelles, eher bescheidenes, zweieinhalbstöckiges Haus am Hang, Steinfundament, darüber Holzbauweise, rechts ein Wirtsgarten unter einer stattlichen hundertjährigen Linde mit wunderbarem Blick in’s Tal auf Appenzell und dahinter das Alpsteinmassiv vom Hohen Kasten bis Säntis, innen drinnen niedrige Räume, drei einfache, aber gemütliche Gaststuben, ebenfalls mit Blick in’s Tal, dominiert von drei mächtigen, Schubkarren-großen Kuhglocken (was mögen das für Kühe sein, die solche Bimmeln tragen?), dazu jede Menge Deko-Tinnef, darüber drei recht einfache, aber nichts destotrotz heimelige Gästezimmer, die primitiven Baumarktmöbel werden um ein Vielfaches wettgemacht … durch den Blick in’s Tal von jedem Zimmer.

Die Wirtsfamilie sitzt bei unserer Anreise um Fünfe gerade gemeinsam um einen großen Tisch beim Abendessen. Der Wirt, Walter Rechsteiner, trägt eine blütenweiße Kochjacke – auch am Ende des kulinarischen Abends, bei den Honneurs am Tisch, wird sie noch / schon wieder blütenweiß sein –, seine Gattin, Sonja Rechsteiner-Schenk, ein beiges Kostüm. Beide springen vom Tisch auf, begrüßen uns ehrlich herzlich mit shake-hands, kurzer small-talk, „Wie geht’s so?“, „Danke, die Fahrt war gut.“, „Laufen die Geschäfte?“, „Können nicht klagen, aber der starke Franken, Ausländer kommen kaum noch, außer Ihnen natürlich.“, „Es ist aber auch zu schön bei Ihnen.“, „Wir haben Wildwochen, der Rehrücken ist nur zu empfehlen!“, „Danke, habe ich natürlich schon auf der Homepage gesehen.“, „Die junge Frau ist also die berühmte Caro, von der wir schon so viel gelesen haben?“, ich schweige, der Wirt führt uns die Treppe rauf zu unserem Zimmer, denn die Gästezimmer haben hier weder Nummern noch Namen. Es geht einfach zu, im Bären im Schlatt, aber die Basics sind da, stabiles Bett mit ordentlichem Bettzeug, zu weiche Matratze, geräumiges Bad mit Tageslicht, Fön, Schrank, Sofa mit Couchtisch, Flachbildfernseher, ziemlich flinkes Internet, sogar ein Piefke-Adapter für die Schweizer Stecker, nur Tisch und Stuhl zum Schreiben fehlen, dafür aber dieser Blick in’s Tal … Wer Vier- oder Fünf-Sterne-Standard sucht, der ist hier gewiss falsch (obwohl man für 120 bis 160 EURO – so viel kosten die Doppelzimmer mit Frühstück hier – in Deutschland durchaus schon mal Fünf Sterne bekommt, meist allerdings mit dubioser Qualität), wer Gemütlichkeit, Entschleunigung, Entkrampfung, Heimeligkeit, Authentizität, Einfachheit, Naturnähe und Herzlichkeit sucht (und natürlich gutes, ehrliches, bodenständiges, traditionelles Essen), der ist hier gewiss richtig. Der Bären in Schlatt ist immer noch zum Glück ein Geheimtipp, die vermaledeiten tripadvisor-, yelp-, holidaycheck- und wie sie alle heißen mögen Kriterlinge haben den Bären noch nicht entdeckt, und das ist gut so. Selbst die Herrscher vom Guide Michelin haben ihren Teller, den sie dem Bären weiland zugestanden hatten, wieder eingepackt und mitgenommen.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde Ende Oktober ist noch ein Zisch-Bier im Gastgarten unter der Linde drin, es dämmert und wird kühl, aber dieser Blick in’s Tal … Dermaßen gezischt machen wir uns mehr oder minder kurz frisch und erscheinen Punkt 19:00 Uhr wie reserviert zum Dinner. Die Tische sind an einem Sonntag schon weitgehend besetzt, wir sind wahrscheinlich die einzigen Nicht-Eidgenossen, an der langen Tafel neben uns eine einheimische Großfamilie, wenigstens vier Generationen einträchtig und undogmatisch vereint bei Rösti und Pommes, kreischende Kinder und schnaufende Rentner, so muss Mehr-Generationen-Dingsbums,auch ansonsten ganz normale Menschen wie Du und ich, wenn ich in beschreibenden Klischees bleiben sollte, der Herr Maurermeister mit Gattin, die Frau Mittelschullehrerin, die Bauern von nebenan und das Studentenpärchen, solche Leute halt, weder Voll-Prolls noch Schicki-Mickis, keine St. Gallener Stadtfräcke und keine Touristen, der Bären ist ein Refugium der unspektakulären regionalen Normalität.

Tja, und dann das Essen. Als Amuse-Bouche servieren die Rechsteiners oft ihren fast berühmten Knoblauch: eine komplette Knoblauchknolle wird unten gerade geschnitten und oben soweit abgeschnitten, dass die Zehen sicht- und erreichbar werden, sodann wird diese tournierte Knolle in einen Topf mit zwei Finger hoch Weißwein gesetzt und weich gedünstet. Was dabei herauskommt sind butterweiche Knoblauchzehen, die man einzeln mit einem Messer aus der Knolle frumselt und mit etwas Olivenöl oder Butter auf ein Brot streicht, leicht salzt und mit Hochgenuss verzehrt. Und wer Angst hat, in Transsylvanien könnten die Vampire von der Decke fallen, der sei beruhigt, die zwischenmenschliche Geruchsbelästigung ist nach dieser Darreichungsform des Knoblauchs nahezu Null. Als Vorspeise gibt es zwei große Scheiben Reh-Terrine mit Pistazien, dazu selbst gemachte Sauce Cumberland (mal ehrlich: wann haben Sie das letzte Mal Sauce Cumberland nicht aus der Convenience-Flasche gehabt?). Diese Terrine ist von Geschmack und Konsistenz her einfach nur überwältigend und könnte in halber Menge zum doppelten Preis in jedem Sterne-Restaurant reüssieren. Danach eine ziemlich schräge Feigensuppe – frische Feigen mit Sahne gekocht, püriert und pikant abgeschmeckt, wider allen Erwartens nicht wirklich süß und ebenfalls ein kolossales Geschmackserlebnis. Die Boullion mit Sherry ist unverändert das Benchmark für Boullion mit Sherry, hier kann jemand richtig gute Rindssuppe kochen, kräftig, geschmackvoll, einige, aber nicht zu viele Fettaugen, perfekt abgeschmeckt, frischer Schnittlauch, Punktum! Filet vom besten Schweizer Rind auf den Punkt rosa gebraten, dazu frisches, handgeputztes, separat gedünstetes, knackiges (außer dem blanchierten Spinat natürlich) Gemüse, nicht so’n Zeugs aus der Convenience-TK-Tüte, eine frisch aufgeschlagene Zitronensenfsauce, dazu natürlich eine perfekte Rösti: da gibt’s einfach nix zu kritteln, eben so wenig wie bei dem Kalbsgeschnetzelten an Champignonrahmsauce (seit Jahren frage ich mich schon, warum Walter Rechsteiner das Gericht nicht ‚Zürcher Geschnetzeltes‘ nennt), dazu natürlich eine perfekte Rösti. Leider waren die Portionen zu groß und/oder der Hunger zu klein, zu einem Nachtisch hat’s nicht mehr gereicht. Nur die Weinkarte, die ist leider klein und enttäuschend, ein paar Standard-Posten Europäischer Weine, kaum Schweizer Gewächse, und große, auch nur mittel-große Weine überhaupt nicht, die Weinkarte geht nun wahrlich nicht über Discounter-Niveau hinaus.

Das Frühstück am nächsten Morgen um 08:00 Uhr für die Handvoll Hausgäste serviert Walter Rechtsteiner wieder in blütenweißer Kochjacke und offensichtlich mit bester Laune. Heute gibt es ein paar Scheiben aufgeschnittenen Speck und Appenzeller Käse für jeden Tisch, da muss man als Gast nehmen, was kommt, ein großes Buffet, von dem die Hälfte weggeworfen wird, gibt es zum Glück nicht, dazu auf Wunsch à la minute verschiedene Eier und kleine Rösti. Kaffees, Tetrapack-O-Saft, ordentliche Backlinge (die nächste Bäckerei ist wahrscheinlich im Tal), Marmeladen, Honig, Butter in Portionspäckchen, das ist alles halbwegs ok, gewiss kein grandioses Frühstück, aber geht schon. Und außerdem hat man ja noch den morgendlichen Blick in’s Tal …

Gasthaus Bären Schlatt
Sonja und Walter Rechsteiner-Schenk
Dorf 6
9050 Appenzell – Schlatt
Schweiz
Tel.: +41 (71) 7 87 14 14
Fax: +41 (71) 7 87 49 33
E-Mail: info@baeren-schlatt.ch
Internet: www.baeren-schlatt.ch

Hauptgerichte von 26,50 CHF (Selleriepiccata mit Risotto) bis 38 CHF (Rinderfilet), Drei-Gänge-Menue von 41 CHF bis 66,50 CHF

DZ Ü/F 130 CHF bis 180 CHF (pro Zimmer, pro Nacht)

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