Stollen, da denkt man zuerst natürlich an Dresden, an den berühmten Dresdner Stollen bzw. Dresdner Christstollen, der auf den „Dresdner Butterbrief“ von Papst Innozenz VIII. von 1491 zurückgehen soll) und der seit 2010 eine geschützte geographische Angabe nach europäischem Recht ist. Er darf nicht in einer Form gebacken werden, keine künstliche Konservierungsstoffe oder Aromen enthalten und auf 1 kg Mehl mindestens aus 0,5 kg Butter, 0,65 kg Sultaninen, 0,2 kg Teile Orangeat und / oder Zitronat und 0,15 kg Mandeln bestehen. Aber das ist der Reiche-Leute-Stollen, auf der anderen Seite des Erzgebirges, bei meinen Großeltern im Sudetenland, da gab es eine weit einfachere Variante zu Heilig Abend, ein Hefezopf mit Rosinen und Mandeln, traditionell aus 16 recht dünnen, fast filigranen Strängen aufgebaut, die zuerst zu vier Vierer-Strängen geflochten wurden und diese vier Vierer-Stränge wurden dann zu einem einzelnen Strang geflochten. Schlechtere Hausfrauen – so sagte meine Oma – machten einen drei mal drei Stollen, also neun Stränge, die zuerst zu drei Dreier-Strängen und dann zu einem einzelnen Strang geflochten wurden. Die Filigranität des Stollens – es soll auch fünf mal fünf und sechs mal sechs Stollen gegeben haben – sagte zugleich viel aus über die Fertigkeit der Hausfrau und damit zugleich über ihren sozialen Stand in der kleinen Dorfgemeinschaft. Solch einen Stollen gibt es bei uns seit dem ich denken kann zu Weihnachten. Er wird am 23. Dezember gebacken und Heilig Abend als Abschluss des Abendessens serviert. Der Familienälteste schneidet zuerst ein leichtes Kreuz auf die Oberseite des Stollens, dankt Gott für ein gutes vergangenes Jahr und erbittet ein gutes neues Jahr und schneidet dann Scheiben vom Stollen ab. An dieser Stelle kam dann immer meine Großmutter in’s Spiel. Großmutter hatte – da bin ich sicher – das Zweite Gesicht. Sie begutachtete den Stollen und weissagte dann über den Verlauf des kommenden Jahres: War der Stollen spundig, so starb jemand im nächsten Jahr. War der Stollen nicht richtig aufgegangen, so starb jemand im nächsten Jahr. War der Stollen beim Backen verrutscht, so starb jemand im nächsten Jahr. War der Stollen … einerlei, in welchem Zustand der Stollen auch war, für Großmutter war er eigentlich nie perfekt – egal übrigens, ob sie selber oder eine Schwiegertochter ihn gebacken hatte, es gab wohl keinen perfekten Stollen – und wie der Stollen auch beschaffen war, sterben tat eigentlich immer in jedem nächsten Jahr. Und bei der weitverzweigten, weitgehend geriatrifizierten Verwandt- und Bekanntschaft meiner Großmutter war es kein Wunder, dass da ein stetes Sterben an der Tagesordnung war. Und bei jeder neuen Todesnachricht hob meine Großmutter das Wehklagen an, sie habe es ja vorausgesehen, so, wie der Stollen letzte Weihnachten ausgesehen habe, hätte das ja quasi zwangsläufig passieren müssen. Heute gibt es keine Großmutter mehr, die aus der Beschaffenheit des Stollens weissagt, sterben tuen die Leute trotzdem. Bis heute haben aber ebenfalls traditionell an Heiligabend zum Stollen alle Tafelgäste zwar Kuchenteller, aber keine Messer, nur der Älteste hat zwei Messer. Mit dem einen streicht er dick Butter auf die Stollenscheiben, mit dem anderen Honig – und zwar ausschließlich deutschen Tannenhonig, Tannen- nicht etwas Wald- oder Fichtenhonig, und der ist nicht leicht zu bekommen – auf die Stollenscheiben. Die erste mit Butter und Honig geschmierte Scheibe erhält die älteste Frau am Tisch, zum Schluss erst die – früher zumindest schon sehnsüchtig wartenden – Kinder, als letztes wurde der Stollen-Knust mit Butter und Honig bestrichen, und den bekam der Familienälteste. Tja, und so machen wir das tatsächlich bis heute …
Zutaten:
- 250 g Butter
- 1 Ei
- 1 Eigelb
- 500 g Mehl (am besten Wiener Griesler oder 505er)
- 275 ml Milch
- 1 Prise Salz
- 2 Päckchen Trockenhefe
- 50 g Zucker
- 75 g gestiftelte Mandeln
- 75 g Rosinen
- 1 Glas Rum
- Backpapier
- Puder- oder Hagelzucker
Zubereitung:
- Rosinen am Vortag in ein Glas geben und ganz mit Rum bedecken, so dass sie sich über Nacht vollsaugen können
- Mandeln in eine beschichtete Pfanne ohne Fett geben, unter ständigem Rühren anrösten
- Mehl mit 1 Prise Salz, 2 Päckchen Trockenhefe und 50 g Zucker vermengen
- Milch gut lauwarm erwärmen, 150 g Butter, Ei und Eigelb dazugeben, alles grob vermengen. Die Temperatur des Gemischs sollte jetzt lauwarm sein, das ist wichtig. Ist es zu heiß, stirbt die Hefe, ist es zu kalt, erwacht die Hefe nicht zum Leben.
- Milch-Ei-Butter-Gemisch zum Mehl geben, alles gut durchkneten, es soll einen festen, geschmeidigen Teig ergeben. Evtl. noch etwas Mehl oder lauwarme Milch dazu geben.
- Teig 20 Minuten kneten (nur so wird es ein guter Hefeteig, und glücklich, wer eine Küchenmaschine hat), bis er ein homogener, fester Klumpen ist, der nicht mehr an der Rührschüssel klebt
- Rum-Rosinen abtropfen lassen und zusammen mit den gerösteten abgekühlten (!) Mandelstiften zum Teig geben und kurz unterkneten
- Teig mit einem Tuch bedecken und an einem warmen Ort ohne Zugluft 2 Stunden gehen lassen (alternativ in den Kühlschrank stellen und dort 12 bis 16 Stunden gehen lassen, so wird der Teig feinporiger)
- Wenn der Teig sein Volumen verdreifacht hat, zusammenschlagen und nochmals 1 Stunde gehen lasen
- Teigklumpen nochmals zusammenschlagen, in 9 gleich große Teile teilen, diese auf einer bemehlten Arbeitsfläche zu ca. 60 cm langen Würsten rollen
- Jeweils 3 Würste zu einem Zopf flechten, die Enden gut andrücken
- Aus diesen 3 Zöpfen einen großen Zopf flechten, in Form bringen*, auf ein Backblech mit Backpapier setzen
- 100 g Butter schmelzen, nicht zu heiß werden lassen
- Fertig geflochtenen Zopf mit Butter einpinseln
- Backofen auf 160 Grad vorheizen (Ober- und Unterhitze)
- Stollen auf zweite Schiene von unten in den Backofen geben, ca. 30 Minuten backen lassen, Türe die ersten 20 Minuten nicht öffnen
- Nach 20 Minuten Stollen nochmals mit flüssiger Butter bestreichen
- Wenn der Stollen schön braun und durchgebacken ist (Holzstäbchen-Probe), aus dem Backofen nehmen, ein drittes Mal mit Butter einstreichen
- Wenn der Stollen lauwarm ist, mit Hagel- oder Puderzucker bestreuen
* Wer flecht-technisch nicht so fit ist, der kann auch erstmal mit einem Stollen aus nur drei Teigsträngen anfangen …