Die Bar des Fairmont in Seattle, „The Terrace Lounge“ genannt, ist grässlich und schlecht, eine fensterlose zweistöckige Hotelhalle, darin auf halber Höhe einer protzigen Treppe der Eingang zum Hotel-eigenen angeblichen Luxusrestaurant „The Georgian Restaurant“ geheißen, vis à vis ein Tresen, dahinter eine mehr als überschaubare Spirituosenauswahl, dazwischen wechselnde Männer mit mehr oder minder schlecht gebundenen Krawatten, die wild mittelpreisige Standard-Alkoholika und billige Säfte zusammenkippen, diese ungestüm mit ausladenden Bewegungen schütteln und rühren und mixen um sie sodann mit großer Geste in Gläser zu kippen. Es gibt kein Bareis, keine gekühlten Gläser, keinen Tanqueray No. TEN, kein Glas Wasser zum Drink, statt dessen Schälchen mit billigem, salzigem Zeugs, es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich dem ungestümen Schüttler erklärt habe, was ein extra trockener Martini wirklich ist und was er jetzt zu tun hat, um diesen zu produzieren, und nachdem er’s endlich kapiert hat, ist am nächsten Tag ein neuer, ebenso unbedarfter ungestümer Schüttler hier am Start. Es ist ein Trauerspiel. Erwähnte ich übrigens schon, dass die Bar des Fairmont in Seattle, „The Terrace Lounge“ genannt, grässlich und schlecht ist? „Heute ist Schluss damit, ich habe was Besseres gefunden!“ sagt Caro fröhlich und erwartungsvoll, als sie am späten Nachmittag vom Gericht zurück in’s Hotel kommt. Ein Deutscher Konzern hat durch einen fatalen Programmierfehler eines örtlichen Software-Herstellers einen ordentlichen Schaden davongetragen und Caro mit einer Schadensersatzklage beauftragt. Nicht dumm wie Caro nun mal ist, hat Caro die Klage nicht in Deutschland, sondern am Sitz des Softwareherstellers in den USA eingereicht und an den Streitwert gleich mal zwei Nullen hinten dran gehangen, so macht man das hier, hat sie gesagt, und wenn wir uns auf einen Vergleich auf 10% des Streitwerts einigen, haben wir immer noch einen riesen Reibach gemacht, aber eigentlich will ich die volle Summe für meinen Mandanten. Sagt Caro. Dazu hat sie eine Heerschar von Speziallisten – Softwarefachleute, Wirtschaftsjuristen, Banker, Techniker, Volkswirte, Börsianer, natürlich Juristen und weiß der Teufel was noch alles – rekrutiert, die ihr unermüdlich zuarbeiten, wie fahrlässig und groß der Softwarefehler war und wie gefährlich und gigantisch der Schaden und vor allem der potentielle und der immaterielle Schaden für ihren Mandanten war und ist. Wenn man liest, was diese Speziallisten so zusammentragen – was ich natürlich nicht tue, ist ja alles streng vertrauliches Zeugs; aber wenn man sich nun mal ein Hotelzimmer, selbst eine Suite mit separatem Arbeitszimmer teilt, kann man den einen oder anderen ungewollten Blick halt nicht vermeiden – so könnte man meinen, dieser Softwarefehler habe die Existenz der gesamten Deutschen Volkswirtschaft massiv beschädigt und gefährdet. „Man muss erstmal einen Popanz aufbauen, einen möglichst großen Popanz.“ Sagt Caro. Ich verstehe von sowas ja nichts. Aber „Heute ist Schluss damit, ich habe was Besseres gefunden!“, das verstehe ich sehr gut. „Was denn?“ frage ich erwartungsvoll. „Habe mit einem Kollegen über das Bar-technische Trauerspiel hier gesprochen, der hat nur gelacht und gesagt das wisse man doch gemeinhin, dass die Bar des Fairmont lausig sei. Ob ich Tequila mögen würde, hat er mich gefragt, naja, habe ich geantwortet, so richtig kennen wir Tequila nun auch nicht, aber es heißt ja immer, da würde es auch ganz tolle Sorten geben, nicht nur dieses Supermarktzeugs, genau, hat er gesagt, es gebe richtig tolle Tequilas, die es mit jedem Cognac oder Rum aufnehmen könnten, und wenn wir mal ein Tequila-Tasting machen wollten, dann sollten wir in’s „Agave Cocina & Tequilas“ gehen, die hätten drei Läden, den schönsten draußen in den Issaquah Highlands, aber das sei über eine halbe Stunde Fahrt, bis hinter Lake Sammamish, der andere wäre in West Seattle, der sei chronisch überlaufen von frustrierten oder feierlaunigen – je nachdem – Bankern, der dritte schließlich bei der Space Needle, der sei der unspektakulärste, aber dafür bekäme man auch ohne Reservierung einen Platz und die Tequila-Auswahl sei identisch mit der in den anderen beiden Läden.“
Eine Dusche später sitzen wir im Taxi nach Queen Anne Richtung Norden auf der 1st Avenue. Gleich hinter dem Space Needle-Areal mit seinem ganzen Protz- und Kultur-Zeugs liegt das Agave Cocina & Tequilas rechts in einem unscheinbaren, nicht hübschen und auch nicht wirklich hässlichen, funktionalen, modernen Backstein-Stahl-Glas-Eckhaus. Die Einrichtung ist … die Einrichtung ist … die Einrichtung ist … nun ja, modern-funktional, hier könnte auch ein Harley-Davidson-Händler einziehen, und etwas mexikanisierend, um mal wortschöpferisch tätig zu sein, ein paar nachträglich eingebaute Deckenbögen aus Rigips, einige funktionslose Holzstreben an der Decke, sperrige Holzstühle, ein sinn- und zweckbefreites altes großes Fass und ein wenig Deko-Tinnef sollen ein Gefühl von Mexiko – oder zumindest vom kollektiven Mexiko-Klischee: Drogenkrieg, Frida Kahlo, scharfe Bohnengerichte, billige Wirtschaftsflüchtlinge, Diktatoren, Putsche und Maisfladen – aufkommen lassen, möge es kommen oder nicht. Ein paar Touristen sind hier, Amis aus den umliegenden Hotels, ansonsten Einheimische bei der Happy Hour, auffallend viele Hispanos, das ist ein gutes Zeichen für ein mexikanisches Restaurant, auch der Zungenschlag der Bedienungen zeigt, dass sie kaum in den Staaten geboren sind, sondern eher zu den angeblich so verhassten Einwanderern gehören. Einerlei. Die Speisekarte bietet jetzt keine wirklichen Überraschungen. Als Starter allerlei Dips mit Tortilla Chips, Chicken Wings, Nachos, gerillte Jalapenos, Quesadillas, dann Salat mit Steak, Salat mit Meeresfrüchten, Salat mit Lachs, Salat mit geröstetem Blumenkohl, sogar Salat mit Salat gibt es, zweierlei Suppen, dann Tacos, Echiladas, Fajitas mit verschiedenen Zutaten, schließlich allerlei gegrilltes Getier von Kuh über Schwein und Huhn bis hin zum Lachs, alles gewürzt mit viel Koriander und Chilis. Auch wenn ich nicht sehr viel von originärer Mexikanischer Küche verstehe, das hier ist ordentliches mainstream Tex-Mex-Food, alles frisch zubereitet, gute Tortillas, totgegrillter Lachs, mäßig geputzte Salate, durchaus leckere Guacamole- und Chili-Dips, das meiste gut gemeint, aber zu zaghaft – domestiziert – gewürzt, wenn ich mal so alle Tex-Mex-Restaurants zwischen Warschau und L.A., die ich kenne, als Vergleich nehme, so würde ich sagen, ist das Futter im Agave in Seattle im mittleren Drittel, nicht sonderlich zu tadeln, nicht sonderlich zu loben. Und was Schnelligkeit, Kompetenz und Freundlichkeit der Bedienungen anbelangt, so würde ich sagen gerade noch so im mittleren Drittel.
Aber warum dann dieses Geschreibsel über ein durch und durch mittelmäßiges Restaurant kurz vor dem Pazifik? Sonderlich zu loben sind schon mal die Margaritas und die Sangria, das können die hier wirklich. Wirklich beachtenswert ist aber die Tequila-Auswahl. Tequila, das war für mich – auch nach diversen Mexiko-Reisen – immer dieser scharf-sprittig schmeckende Alc mit dem albernen roten Sombrero aus dem Supermarkt, für den man Salz und Zitrone Limette braucht, um den Geschmack irgendwie zu übertünchen und das Zeugs runterzukriegen. Weit gefehlt. Eine junge Frau mit Hispanischem Zungenschlag und Aussehen in einem Alter, in dem sie wahrscheinlich selber offiziell noch gar keinen Alkohol im Imperium trinken darf, erzählt und erklärt uns viel über Tequila, nicht ohne uns – ganz geschäftstüchtig, umsonst ist nur der Tod – einen um den anderen Probe-Tequila, quasi als Anschmeckungs-Material zu ihrem Redefluss, zu verkaufen. Wir lernen also, dass Tequila ein Schnaps aus der Blauen Agave ist, deren „Herz“ – also das innere Fruchtfleisch – nach acht bis neun Jahren Wachstum zerhäxelt oder zermalen, vermaischt, vergoren und destilliert wird. Weiter lernen wir, dass nicht Tequila der Oberbegriff für Agaven-Brand ist, sondern Mezcal (und die ganze Sache mit dem Wurm – eigentlich ist der Wurm eine Raupe, ein Blattschädling der Agave – ist nur ein Marketing-Gag – ein sehr erfolgreicher übrigens – der nichts mit der Schnapsart zu tun hat), und Tequila darf sich nur ein Mezcal aus der Umgebung der Stadt Tequila (und vier weiteren Mexikanischen Bundestaaten) nennen; das ist also in etwa so wie mit dem Weinbrand, der alle aus Wein hergestellten Brände umfasst und Cognac, der speziell Weinbrände nur aus der Cognac-Region bezeichnet. Ähnlich wie beim Scotch wird beim Tequila auch nach der Herkunft aus den low lands und den high lands unterschieden. Tequila ist in Mexiko so wichtig (350.000 Menschen sind direkt und indirekt damit beschäftigt, jährlich rd. 300 Millionen Liter Agavenschnaps zu produzieren), dass es seit 1993 eine eigene Regulierungsbehörde dafür gibt, die Consejo Regulador del Tequila, kurz CRT. Diese Regulierungsbehörde hat festgelegt, dass es prinzipiell zwei Qualitäten von Tequila gibt, nämlich mixto, mit mindestens 51% Agaven-Zucker, der Rest kann anderen Ursprungs sein und aul, der zu 100% aus Zucker der Blauen Agave gewonnen wird; vom mixto solle man, so unsere junge Tequila-Lehrerin, tunlichst die Finger lassen, es sei denn, man stehe auf explodierende Schädel. Schließlich – und dann ist auch Schluss – unterscheidet man Tequila nach seinem Alter. Blanco ist ein klarer Tequila, der direkt nach der Destillation in Flaschen gefüllt wird; oro ist eine Mischung oder Blend aus blanco und gelagertem Tequila, die auch noch mit Zuckercouleur, Glycerin oder Eichenholzextrakt aromatisiert werden kann (auch hier droht Schädelexplosionsgefahr); reposado wurde wenigstens zwei Monate im Eichenfass gelagert; añejo ein bis drei Jahre; und extra- añejo mehr als drei Jahre. Tequilas aus dem Eichenfass sind hell- bis tiefbraun und könnten im Glas auch als Whisky durchgehen, zumindest was die Optik anbelangt, der Geruch ist nach wie vor scharf und ordinär. Mehr als 100 dieser scharfen Tequilas und Mezcals hat das Agave Cocina & Tequilas glasweise im Angebot, allerdings keine mixto und oro, so etwas serviere ein anständiger Laden gar nicht, erklärt uns unsere Lehrerin.
Wir starten mit einem blanco, einem NOM 1580, aus der Destilerie El Paraiso von Gabriel López-Garibay in Los Altos in Jalisco, wir schmecken grüne Oliven, Ananas, gegrilltes Gemüse, eigentlich sollten wir auch Zitrusfrüchte schmecken, sagt unsere Lehrerin, aber die bleiben aus. Es folgt ein Dos Armadillos aus der Destillerie Premium de Jalisco der Familie Jimenez aus Mazamitla in Süd-Jalisco, die bekannt sein soll für ihre extravaganten, hochwertigen Flaschen; wir schmecken einen sehr vollen Körper mit Haselnuss, Vanille, Pfirsich, Banane und wieder Ananas. Bereits nach zwei Gläsern sind wir beeindruckt von diesem frappierenden Unterschied: eher „gemüsig“ der eine, eher fruchtig der andere Tequila. Als drittes gibt’s einen dreifach destillierten Gran Patron Platinum, von seinen Machern, der Patrón Spirits International aus Jalisco – 2018 hat sich Bacardi die Firma einverleibt – ultra-premium tequila genannt, angeblich einer der besten blancos der Welt für geschmeidige US$ 250 die Flasche; jetzt schmecken wir sehr viel Zitrus und Süße und einen Hauch von Eiche.
Wir wechseln zu einem „flight“ – flight nennt man hier eine Auswahl von drei verschiedenen Tequilas zu einem Preis von US$ 14 bis US$ 68 per flight – aus reposados und starten mit einem Papa Bueno aus der gleichnamigen Destille aus Antotonilco El Alto, die weniger für aufwändige Flaschen als vielmehr für ökologischen Agaven-Anbau und Herstellverfahren und für soziales, lokales und kulturelles Engagement bekannt ist; die Farbe erinnert an hellen Schwarzen Tee, wir schmecken Zitrus, Honig, sehr deutlich Honig und einen Hauch vom Aprikose. Es folgt ein Herradura Double Barrel Reposado, zuerst in alter Eiche und dann in gerösteter Eiche gelagert, von der Hacienda de San José del Refugio im Örtchen Amatitan, das als Geburtsort des Tequilas gelten soll; wir schmecken Karamell, Vanille, Brombeere. Wir schließen den reposado flight ab mit einem Celestial Reposado aus der Destille Las Americas, wieder aus Amatitan; wir schmecken die Rauchigkeit eines alten Bourbon-Fasses, Vanille, Orange, Honig.
Tja, und dann kam noch je zwei flights mit anejos und mit extra-anejos. Meine Aufzeichnungen werden hier lückenhaft, teils unleserlich und unsinnig. Man muss vielleicht dazu sagen, dass die Barleute in Agave Cocina & Tequilas die Tequilas hier beim Einschenken nicht abmessen, sondern aus dem Handgelenk gießen, jedes Glas hat wenigstens 5 cl Schnaps oder eher mehr. 5 cl mal je 3 Gläser mal 6 flights = 5 X 3 X 6 = 90 cl oder 0,9 Liter viezigprozentiger Schnaps, zuzüglich etlicher Margaritas. Beide erinnern wir uns aber noch an den Rey Sol aus der Casa San Matías Ojo de Agua in Los Altos de Jalisco im letzten flight, der als seiner der besten Tequilas überhaupt gelten soll und mal locker US$ 300 die Flasche kostet – im Laden wohlgemerkt, nicht im Lokal; wenn mein Gekritzel stimmt und ich es richtig entziffere, haben wir getrocknete Früchte, viel Eiche, Schokolade, Vanille und geröstete Nüsse geschmeckt, jedenfalls erinnern wir beide ihn als unglaublich vollmundig und sanft, aber das muss alles nicht mehr stimmen.
Auch wenn der nächste Morgen grausam war, so muss ich doch sagen, dass diese Lektion in der Agave Cocina & Tequilas meine Vorurteile über Tequila deutlich zurechtgerückt hat. Tequila kann als bianco ein klarer, ehrlicher, scharfer Schnaps sein, den man mögen kann oder nicht, je nachdem, ob man Agaven-Geschmack mag oder nicht; einen klaren, geschmacklosen Tequila – wie etwa einen Vodka oder einen Korn – gibt es nicht, die Agave schmeckt da immer irgendwie durch. Ältere Tequilas aus dem Eichenfass können eine beachtliche Geschmacksvielfalt, –intensität und –komplexität entwickeln; für mich reichen sie nicht an alte Rums oder Calvados‘ heran, sind aber nichtsdestotrotz oft sehr sehr gut und können es gewiss mit vielen Cognacs aufnehmen. Im Imperium ist Tequila längst ein Modegetränk, knapp die Hälfte der 300 Millionen Liter Jahresproduktion saufen die Amis, 40% die Mexikaner selber, mit dem Rest wird der Rest der Welt beglückt; man kann also getrost mit einer weltweiten Unterversorgung der Alkoholiker-Märkte mit Tequila ausgehen (was auch erklärt, warum der Sprit-Multi Bacardi sich letztes Jahr einen der größten Mexikanischen Tequila-Hersteller gekrallt hat). Und mit Tequila lässt sich gut mixen, er ist also Bar-tauglich, aus einem 0,7 Liter Fläschchen lassen sich zig Liter teurer Mixgetränke herstellen. Allerdings wird mangels Blauen Agaven in Europa kaum eine Tequila-Produktion entstehen; und die lange Wachstumszeit von Agaven von sechs und mehr Jahren erschwert einen Markteintritt für Newcomer deutlich. Von daher steht nicht zu erwarten, dass die noch immer in Europa grassierende neue gin craze demnächst durch Tequila abgelöst werden könnte. Aber vielleicht schafft es ja der eine oder andere Premium-Tequila jenseits des albernen roten Plastik-Sombreros mal in die Regale der Bars.
Agave
Cocina and Tequilas | Queen Anne
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Online: agavecocina.com
Hauptgerichte von US$ 18 (Empanadas) bis US$ 25 (Steak), Drei-Gänge-Menue US$ 31 bis US$ 48