Nach Syrakus sind es von Ragusa über die Staatsstraße keine zwei Stunden. Caros Termin ist erst am Nachmittag, also versuchen wir mal wieder, dieses Meer zu jagen, aber es ist hier Weltmeister im Sich-Entziehen. Beherzt greife ich zur Karte, bei Lido di Noto kommt man auf der Provinzstraße 59 endlich mal direkt an’s Mittelmeer, und, was soll ich sagen, Meer halt. Danach wird man nochmals durch die Dörfer geleitet, ab Cicirata kann man denn ein paar Kilometer tatsächlich direkt an der steinigen, meist verdreckten Küste entlang fahren, dann und wann durch eine kleine sandige Bucht unterbrochen, ich frage mich, warum hier fast nur Einfamilienhäuser stehen und keine Hotels, und bei der Via Aldo Moro wird mir etwas komisch. Bei Flaride wird man dann wieder weggeführt von der Küste, und wir geben’s auf, weitere Löcher zum Wasser zu suchen, programmieren Navi und fahren direkt zum Hotel nach Sysrakus, genau genommen nach Syrakus, sondern nach Ortygia, die kleine, der Stadt vorgelagerte Insel, die – strategisch günstig gelegen mit Naturhafen und Quellen – seit Urzeiten die eigentliche, früher auch schwer befestigte Stadt bildete, die Siedlungen auf dem Festland waren für Bauern, einfaches Volk und sonstiges Gesindel, das städtische Leben fand allein auf Ortygia statt, manche sagen, die Nymphe Arethusa habe sich hier in eine Quelle verwandelt, manche sagen sogar, Artemis sei gar nicht auf Delos, sondern auf Ortygia geboren. Mangels Bauplatz entwickle sich ab dem 19. Jahrhundert auch die Siedlung auf dem Festland mit großzügigerer und neuerer Bauweise, Handel, Wirtschaft und Verwaltung zogen mehr und mehr auf’s Festland, ihnen folgten große Teile der Wohnbevölkerung, der Wegzug beschleunigt durch immer steigende Kriminalität, um 1950 muss es auf Ortygia zugegangen sein wie in einem Mafia-Film, bis die Stadtverwaltung ein massives Entwicklungsprogramm aufsetzte, die paar historischen Sehenswürdigkeiten – allen voran schon wieder ein paar alte Säulen, aber längst nicht so viele wie in Akragas, dafür aber mitten in der Altstadt (wie praktisch!), eine alte Festung, ein paar Brunnen und vielleicht noch das Jüdische Viertel – wurden herausgeputzt und im Rahmen des gerade wieder – vor allem im wirtschaftswundernden Adenauer-Neckermann-Deutschland – beginnenden Italienbooms geschickt vermarktet, räuberische Mafiosi wurden wahrscheinlich umgeschult auf räuberische Hotel-, Restaurant- und Andenkenläden-Besitzer, tja, und heute flutscht’st wieder mit Ortygia. Wie in Ragusa findet das Italienische Leben nicht auf der Insel, sondern auf dem Festland statt, die Touristen-Zombies wanken in Sehenswürdigkeits-hungrigen Pulks über Ortygia.
Und, Dank Caros Sekretärin, auch wir sind natürlich in Grand Hotel Ortigia mitten auf der Insel am Wasser an einem kleinen Hafen eingebucht. Klassisches Grandhotel alten Stils würde ich den Fünf-Sterne-Laden ja nicht gerade nennen, aber großes, halbwegs prächtiges altes Gebäude im Stil der Neo-Renaissance schon. Diesmal kann man auch tatsächlich vor dem Eingang halten, und nach nur zweimaligem Hupen erscheint ein livrierter, freundlicher, mittelalter Mann, der tatsächlich unser Gepäck aus dem Wagen die paar Stufen in die kleine, eigentlich recht hübsche, mit Grüppchen von mit blau-türkisem Leder bezogenen Sesseln und Sofas möblierte, nur anscheinend leider nicht bewirtete Hotelhalle bis zur Rezeption schleppt und sodann unseren Wagen tatsächlich auf einem tatsächlich vorhandenen hoteleignen Parkplatz abstellt. An der Rezeption sind drei Mitarbeiter, einer erklärt einem Ami in aller Ausführlichkeit den Stadtplan von Syrakus mit allen Sehenswürdigkeiten, ohne uns eines Blickes zu würdigen, einer tippt sitzend an einem Schreibtisch Dinge in einen Computer, ohne uns eines Blickes zu würdigen, einer wuselt hinter geöffneter Türe im rückwärtigen Büro umher, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Nach ein paar Minuten des Wartens schwillt mir langsam der Kamm, Caro ebenso. Der Page, der unseren Wagen geparkt hat, ist längst wieder da und steht Trinkgeld-hungrig bereit, unsere Taschen noch nach oben zu schleppen, so wir denn endlich ein Zimmer bekommen. Irgendwann sage ich auf Englisch in einer Lautstärke, die diesen heiligen Hallen so ganz und gar nicht angemessen ist, dass wir jetzt verdammt nochmals endlich einchecken wollen und sich jemand um uns kümmern solle. Der Stadtplanerklärer und sein Ami sehen uns kurz an, um sogleich gnadenlos weiter Stadtplan zu erklären, der In-den-Computer-Tipper sieht uns kurz an, um sogleich gnadenlos weiter in den Computer zu tippen, allein der Wuseler aus dem rückwärtigen Büro – ich stelle fest, es ist eine Wuselerin – bemüht sich mit gequältem Lächeln zu uns und fragt nach unserem Begehr. Wir haben gerade diese vermaledeiten Papiere zum Einchecken ausgefüllt und geben sie der Wuselerin zurück, da erscheint ein Paketbote, wuchtet drei Pakete neben uns auf den Tresen und verlangt offensichtlich Bezahlung. Ohne sich in irgend einer Weise zu entschuldigen, lässt die Wuselerin mit einem Male – kurz bevor sie uns die Zimmerschlüssel ausgehändigt hätte, und mehr wollen wir aktuell doch gar nicht – von uns ab und widmet ihre vollumfängliche Aufmerksamkeit dem Paketboten, prüft offensichtlich Lieferpapiere, sucht Bargeld zusammen … und da explodiert Caro. Eine Schimpfkanonade auf Italienisch sprudelt aus ihr heraus, keiner in der Halle scheint seinen Ohren zu trauen, Caro hört nicht auf zu schimpfen und gestikuliert dabei mit den Händen und Armen, wie es kein gebürtiger Italiener besser könnte, die Wuselerin lässt sogleich vom Paketboten ab und kommt zurück zu uns, Caro beachtet die Dame aber gerade gar nicht vor lauter Schimpfen, der Paketbote sagt etwas in verhalten schroffem Ton in Richtung Caro, diese geht ihn sofort direkt verbal an, tritt einen festen Schritt auf ihn zu, was diesen unwillkürlich dazu veranlasst, einen Schritt zurückzutreten (merke wieder einmal: niemals mit Caro anlegen, und schon gar nicht sie wütend machen), ich glaube sogar, die bösen Worte „polizia e pubblico ministero“ in Caros lautem Redeschwall zu vernehmen, schließlich hebt der Bote ärgerlich-resignierend die Arme und sagt etwas, das sich anhört wie „Dann macht ihr halt zuerst, Du blöde Touristenfotze“, aber das sagt er gewiss nicht, wohl nur sowas Ähnliches, nicht ganz so Schlimmes, ich kann das auch ohne Italienisch abschätzen, weil Caro hat ihm nicht den Arm gebrochen. Keine drei Minuten später sind wir auf unserem Zimmer, geben dem Pagen sein Trinkgeld und verschnaufen. Caro duscht nochmal, schlüpft in ihr Kleines Schwarzes, schaut sicherheitshalber kurz in ihren Terminkalender und auf den Stadtplan auf Google Maps, schnappt sich ihre absurd große Handtasche und verschwindet mit den Worten: „Ist tatsächlich gleich um die Ecke, so hätte das eigentlich bei allen Hotels sein sollen, meiner Dame werde ich was erzählen, aber das lernt sie auch noch, notfalls mit Gewalt. Dauert nicht lang heute, ich ruf‘ an oder schreibe, wenn ich fertig bin.“ Sprach’s und entschwand.
Ich versuche, nach diesem Ärger beim Einchecken erstmal wieder runter zu kommen, Scotch wäre das probate Mittel der Situation, ist aber noch zu früh. An dem Zimmer ist absolut nichts auszusetzen, tatsächlich direkt mit Blick auf einen kleinen Hafen (was ich noch nicht weiß, ist, dass genau hier ab 03:00 Uhr morgens die Fischerbote anlegen werden und die Fischer ihren Fang mit viel Geschrei in die mit laufenden Motoren wartenden Kühlwägen umladen werden, aber bis 06:00 ist das dann auch wieder vorbei: blöde Sizilianer, blöde, können die ihren Frischfisch nicht wie andere auch geräuschlos in der Metro holen?), und den Golf von Syracuse, zwischen Hotel und Wasser nur eine wenig befahrenes Sträßchen und der Parkplatz für die Kühlwägen (tagsüber harmlos leer-verwaist), wahrscheinlich könnte man vom Zimmerfenster fast in’s Wasser spucken, gute Vorhänge, Stofftapete, alter, gepflegter Fischgrät-Parkettboden, teils sogar mit Intarsien, neue, aber wertige Massivholzmöbel aus poliertem Nussbaum, gute Matratzen, Bettwäsche wohl aus Ägyptischer Baumwolle, Marmor-gefliestes, geräumiges Bad, dicke Frotteetücher, große Regendusche, Pflegeprodukte, gutes W-LAN und U-Elektronik, leider kein Schreibtisch, sondern nur ein rundes Tischlein ohne ausreichend Steckdosen, mittelmäßiges Licht, aber alles ziemlich sauber (klar, das obligatorische Haar im Bad), das alles ist gewiss weder wirklich luxuriös noch extravagant-stylisch, das ist solider, gepflegter, eher Vier- als Fünf-Sterne Hotel-Standard. Auch das gesamte Haus ist sehr sauber ordentlich und gut in Schuss, es soll sogar einen Privatstrand mit Shuttle-Service vom Hotel geben, das Dachgarten-Restaurant mit Terrasse ist hübsch mit nettem Blick auf das Wasser, die Bar dort oben ist lausig (aber mit netter Aussicht), Essen und Frühstück sind sogar akzeptabel, Pool gibt es keinen, das SPA und der Fitness-Raum sind eher von der kleineren Art, das Personal des Hauses ist durch die Bank weg zumindest bemüht (auch wenn es man es zuweilen erst einnorden muss), von überbordender Dienstbarkeit, echter Freundlichkeit oder hervorragender Kompetenz hätte ich nichts bemerkt, man weiß hier weder, wem man Vorrang gibt, einem zahlenden Gast oder einem Paketboten, man weiß nicht, wie man eine Dorade filetiert und schon gar nicht, wie man einen Martini Cocktail mixt … aber man ist bemüht. Für mich gehen Fünf Sterne sehr deutlich anders, aber das alles ist Leiden auf sehr hohem Niveau. Das merke ich auch, als mich etwas hungert und ich mir eine Kleinigkeit auf’s Zimmer bestellen will, ich habe jetzt weder Lust auf Hotelrestaurant noch auf Futter jagen in den Straßen. In Ermangelung einer Zimmerkarte wähle ich die Nummer des Room-Service, den gibt es aber gar nicht, stattdessen lande ich bei der Rezeption, schildere mein Begehr und werde mit dem Restaurant verbunden … bei dem aber niemand dran geht. Selbes Spiel nochmals, Room-Service anrufen, bei Rezeption landen, mit Restaurant verbunden werden, diesmal geht jemand dran, die Restaurant-Leiterin versichert mir, sie werde mir jemanden mit der Karte auf’s Zimmer schicken. Eine viertel Stunde passiert nichts, selbes Spiel nochmals, Rezeption anrufen (ich bin nicht blöde, aber direkte Durchwahl zum Restaurant gibt es nicht), mit Restaurant verbunden werden, eine Person, die nicht des Englischen mächtig ist, ist dran – ich schätze eine Küchenhilfe – hilflos verbindet mich die Hilfe zurück zur Rezeption, Rezeptionist ruft selber im Restaurant an, verbindet mich sodann mit der wieder verfügbaren Restaurant-Leiterin, die gibt die Ahnungslose, ich müsste die Karte schon längst haben, habe ich aber nicht, sie versichert mir erneut, jemanden zu schicken, schließlich kommt ein Kellner mit weißer Jacke mit der Restaurantkarte auf mein Zimmer, als ich zusätzlich auf Englisch die Weinkarte verlange, versteht er nur Bahnhof, aber „Carta dei Vini“ kriege ich gerade noch auf Italienisch raus, er verschwindet mit einem „Aha!“ und kommt tatsächlich nach einiger Zeit mit der Weinkarte zurück, was mir Zeit gegeben hat, die Italienische Speisekarte zu studieren. Ich will ja nur eine Kleinigkeit, um abends mit Caro groß dinieren zu können, ich bestelle durch intensives Deuten auf die Karte Linsensuppe und Spaghetti mit frischen Gemüsen, dazu, des Grillos und roten Nero d’Avola langsam überdrüssig, einen Weißwein vom nahen Ätna aus der Carricante-Traube, eine autochthone süditalienische Weißweinsorte. Irgendwann viel später, lange nach Mittag, der Magen hängt mir bereits in den Kniekehlen, kommt der gute Mann zurück mit einem dieser Zimmerkellner-Wägelchen mit weißem Tischtuch, darauf Tischwäsche, Besteck, Geschirr, Gläser, Weinkühler mit Eis und Weinflasche, Brotkorb, Menage Bréde sowie zwei Tellern unter silbernen Cloches. Er legt die Tischdecke auf das kleine Tischchen und versucht sodann vergebens, seine komplette Fracht ebenfalls auf dem Tischchen zu platzieren, was ihm ob der Größe des Tischchens natürlich nicht gelingt. Also stellt er die Cloche mit dem Teller Linsensuppe, Menage Bréde und den Weikühler auf den Tisch und lässt die Cloche mit den Spaghetti und den Brotkorb auf dem Servierwägelchen (oft kann der Zimmerservice hier nicht Gelegenheit zu praktischen Übungen haben, denke ich mir). Während ich mich setze, öffnet er den Wein mit großer Geste, lässt mich kosten, ist befinde für gut, er schenkt ein, hebt die Cloche von der Linsensuppe, ich stecke ihm Trinkgeld zu und er entschwindet. Die Linsensuppe ist fast kalt und geschmacklos, die Spaghetti sind nicht viel besser, aber der Wein ist richtig toll, was meinen Missmut in Grenzen hält. Ungeduscht gehe ich aus dem Haus, um die Ruinen des Apollo-Tempels schieben sich knipsende Touristen, am Markt packen die Händler gerade ihre Stände zusammen, vorbei an Stefanel, Tiziana, Calvin Klein, Kiko, Swarovski, Zara und anderem Tand zum Diana-Brunnen, er sprudelt unverändert, in die engen Gassen des ehemaligen jüdischen Viertels, zum Dom, vorbei an unzähligen Kneipen aller Art, kurz vor bis zum Castello Maniace (ist auch noch da, wie beruhigend), unten am Wasser zurück zum Hotel, alles grad mal mit einigen Umwegen und Verharren keine Stunde Gehzeit, da merkt man erst mal, wie klein selbst die großen antiken Städte waren, Rom vielleicht mal ausgenommen.
Kurz vor dem Hotel bekomme ich eine SMS von Caro, „Gehe los, bin gleich da“. Während ich im Gehen lesend auf meine Funke schaue, rassele ich fast mit Caro zusammen, die ebenfalls auf dem Weg ins Hotel ist und nach ihrem Termin, fast direkt hier unten am Wasser bei einem Kollegen, ebenfalls im Gehen ihre Mails checkt. „Na, wie war’s?“ frage ich. „Alles gut, alles unterschrieben.“ antwortet sie. „Und bei Dir?“ „Schlecht gegessen, gut getrunken, schlecht gesightseet.“ antworte ich. „Aha.“ sagt sie sichtlich desinteressiert. Auf dem Zimmer stehen noch immer die Überreste meines Mittagessens. Wir machen uns über den restlichen Wein her, machen uns frisch, kleiden uns an, ich rufe noch in Ermangelung des Zimmerservices bei der Rezeption an und bitte nachdringlich, man möge die Überreste meines Mittagessens beseitigen, Caro versucht wieder einmal vergeblich, ihre absurd große Handtasche in einen Hotel-Safe zu stopfen, was natürlich nicht geht, also holt sie Berge von Mappen, Papieren und Ordnern aus der Tasche und stopft diese separat in den Tresor, wir fahren mit dem sogenannten Panoramalift in das Dachgeschoss, wo wir im Dachrestaurant Namens Terrazza Sul Mare einen Platz auf der Terrasse bestellt haben, zum Glück, denn innen ist das Restaurant, das auch als Frühstückssaal dient, mit seiner offenen Dachkonstruktion, seinen türkis bezogenen Sitzgelegenheiten und der Mini-Bar nicht wirklich gemütlich. Die Terrasse wird bewacht von bedrohlichen, großen Kakteen und sie ist so schmal, dass nur eine Tischreihe parallel zu den Fenstern Platz hat, aber der Ausblick auf’s Meer und die Stadt ist herrlich. Trotzdem sind nur wenige Tische draußen besetzt, die meisten Gäste sitzen drinnen, und es ist vertrauenserweckend, dass darunter nicht nur Touristen sind, sondern auch echte Einheimische, die es sich hier bei Küchenchef Placido Panebianco gut gehen lassen wollen. Wir trinken Scotch, plaudern über den Tag, diesmal will Caro ihren hiesigen Kollegen nicht rösten, der Kellner stellt Schälchen mit Pistazien, Haselnüssen, grünen Oliven und Mandeln auf den Tisch, wir knabbern und ordern die nächste Runde. Die Speisekarte ist erfreulich übersichtlich, jeweils sechs Vorspeisen, sechs primi piatti, sechs secondi piatti, alle für 18 bis 24 €, sechs Grillgerichte, Preis nach Gewicht, fünf Desserts für 9 bis 12 € und eine beachtliche Käsekarten mit acht Sizilianischen Käsen zu 8 bis 12 €; die Weinkarte Umfasst vielleicht 250 Positionen mit Schwerpunkt Sizilien – natürlich –, dazu Weine aus anderen Italienischen Regionen, dann noch ein paar Flaschen aus Slowenien (!), Südtirol, Österreich, Deutschland, Frankreich, keine Flugweinspinnerein aus Chile, Australien & Co., sehr löblich, die Preise liegen bei teils moderaten, teils sportlichen 40 bis 100 € pro Flasche, dazu für die Gestopften, die was beweisen müssen, ein paar Premier Crus für 300 € und zwei Grand Crus für 750 bzw. 980 €. Mit der Vorspeise bestellen wir später Terzavia Cuvée Riserva Extra Brut von Marco de Bartoli (aber nur, weil Caro darauf besteht, mich hat er schon in Palermo nicht begeistert), dazu einen auf Olivenholz geräucherten Thunfisch auf Obstsalat mit „Martini Flavour“ und Minze, ich traue mich tatsächlich auf Sizilien an Tatar mit einer Ziegenkäse-Mousse, Kräuter-Mayo, pochiertem Ei und einem Olivenöl, das ganz super-exzeptionell sein soll. Nun ja, der Spumante ist viel zu grobperlig und hat überraschend viel Säure, außer zum Rülpsen und übersäuertem Magen taugt er zu wenig; der Thunfisch ist phantastisch frisch, das Obst dazu gewöhnungsbedürftig, nur den „Martini Flavour“ – wir vermuten, es soll Gin oder Wachholder sein – finden wir nirgends; das Tatar ist wirklich frisch und tadelloses Fleisch, aber grob gewolft und als flacher Ziegel auf dem Teller drapiert, die fette Ziegenkäse-Mousse passt perfekt zum mageren Fleisch (könnte aber mehr sein), das Ei ist wabbelig, und die Kräuter-Mayonnaise tatsächlich frisch aufgeschlagen, nur das Olivenöl ist halt Olivenöl und reißt mich nicht wirklich vom Hocker. Wir wechseln zu einem schweren Nerello Mascalese vom Ätna aus der Cantine Benanti, ein Etna Rosso, tanninreich, schwer, Amarenakirschen, Leder, der Geschmack bleibt lange im Munde, ein eigenwilliger, kantiger Wein gegen jeden Strom und gegen jede Mode, Caro isst ein Risotto mit Ziegenfrischkäse, Topinambur, knusprig gebratenen Gemüsestückchen und einem Scampo, Caro mag es, ich nehme Tortellini mit Büffelmozzarella und noch einem Käse (Namen vergessen) gefüllt, in einer herrlich leichten, einen Kontrapunkt zum fett-säuerlichen Käse bildenden Tomaten-Basilikum-Sauce. Wir bleiben beim Etna Rosso, auch wenn er nicht zum Fisch passen soll, Caro ist da zum Glück nicht dogmatisch, sie isst pochierten Seebarsch auf Kartoffel-Fenchel-Püree, dazu die knusprig gebratene Haut des Fischleins, ich probiere ein perfekt rosa gebratenes Filet vom recht seltenen Nebrodi-Schwein (nachdem ich in Palermo bereits eine Ragoutsauce daraus hatte) mit Spinat gefüllt auf einer Aprikosen-Senf-Sauce mit Oregano-Brot, beides ausgesprochen interessant und gekonnt zubereitet, vielleicht nicht unsere Leibspeisen in Zukunft, aber gekonnte zubereitet. Zum Nachtisch dann irgendwas Süßes, was nicht in Erinnerung geblieben ist, Scotch, Espresso, Völlegefühl, und trotzdem können wir es nicht lassen, die kleine Auswahl von fünf Sizilianischen Käsen noch zu probieren, der Pecorino und vor allem der Maiorchino ziehen mir mit ihrem strengen Geschmack die Schuhe aus, aber Caro ist begeistert, die Weich- und Frischkäse von Ziege und Kuh sind da schon eher meins. Gegen 23:00 Uhr wird es deutlich kühl auf der Terrasse. Wir ordern noch eine Flasche Wein und Wasser auf’s Zimmer, zahlen und fahren runter. Das war alles in allem ein gelungener Abend. Das Personal deutlich besser als der Rest im Hotel, flott, geschult, höflich, aber distanziert, um nicht zu sagen steif, dazu gekonnt gemachtes und präsentiertes Essen in der Oberliga, aber Placido Panebianco hat die gefährliche Schwelle von klug ausgedachten, gekonnt gekochten, kleineren, schön angerichteten Portionen mit besten Zutaten hin zu sinnbefreitem Teller-Ikebana mit exotischen, eingeflogenen, nicht der Saison entsprechenden Zutaten, bewusst verrückten Zubereitungsarten, abstrusen Kombinationen und winzigen Portionen noch nicht überschritten, Panebianco kocht in erster Linie Essen, das der Sättigung dient, und dass in zweiter Linie lecker und hübsch anzuschauen ist, bei den Zutaten, Rezepturen, Zubereitungsarten bleibt er seiner Heimat verbunden und versucht nicht, sich zum Künstler aufzuschwingen, und das ist gut so, für mich wäre das sofort ein Michelin-Stern, zwei Sterne bekommt man mit so einer ehrlichen, boden-verbunden (nicht bodenständigen) Küche halt nicht. Als wir in’s Zimmer kommen, stehen die Überreste vom Mittagessen noch immer rum. Wutentbrannt greift Caro zum Telephonhörer und sagt einige sehr, sehr böse klingende Worte in einem gefährlichen Zischton hinein. Also, ich würde so angeredet jetzt sofort das Zimmer aufräumen und wohl auch alle Klos des Hotels freiwillig putzen.
Ruhe werden hier vorerst sowie nicht haben, wir schnappen uns unsere Jacken, Caro ruft noch im Restaurant an, man möge den Wein auch in unserer Abwesenheit auf’s Zimmer stellen und bitte bereits öffnen, aber nicht dekantieren, wir fahren in die Halle und treten in die kühle Nachtluft. Wir haben beide keine Lust auf Altstadt, also gehen wir über die Santa Lucia Brücke auf’s Festland, gehen ziellos ein paar Blocks, aber hier ist alles tote Hose, von Nachtleben keine Spur, also zurück über die Umbertino Brücke auf die Insel. Wir finden die Temple Bar Siracusa, ein ziemlich spießiger Laden fast hinter unserem Hotel, und ziehen weiter. In einer kleinen unansehnlichen Gasse schließlich entdecken wir – ohne Schilder, Leuchtreklame, sonstwas – unscheinbar hinter zwei Scheiben in einem der alten, meist ziemlich heruntergekommenen dreistöckigen Gebäude das Boats, ein richtig abgefahrener Laden voll bis oben hin mit jungen einheimischen Jungens und Mädels jedweden Geschlechts, Caro und ich erhöhen das Durchschnittsalter signifikant, aber was soll’s, wir kämpfen uns bis zur Theke durch und finden tatsächlich zwei Plätze. Das Styling der Location (sorry, aber das Styling der Location veranlasst zu solcherlei Wortwahl) ist eine Mischung aus Sperrmüll, Maschinenraum und Omas guter Stube, der Tresen aus altem Stahl und grobem Holz, darin zwei Bullaugen, die Flaschen dahinter in alten Industrie-Regalen, die Sprit-Auswahl klein, aber exquisit, nicht im Sinne von teuer, sondern im Sinne von gutem Geschmack, an den klapprigen Holztischen kunterbunt zusammengewürfelte alte Stühle, alte Spiegel und Bilder an den Wänden aus Holz, Naturstein und Putz, so geht In-Bar, kann ich da nur sagen. Die Barkeeperin versteht ihr Handwerk offensichtlich, sie mixt richtig professionell und weiß, was sie tut, wahrscheinlich würde ich hier sogar einen Martini Cocktail bekommen, aber wir entdecken eine halbvolle Flasche Plymouth Gin in Navy Strength und verlegen uns für den Rest des Abends auf Gin Tonic. Caro parliert alsbald mit den Eingeborenen auf Italienisch, ich komme bei den jungen Leuten mit Englisch ganz gut zurecht, wir sprechen das Übliche, wo wir herkommen, was wir machen, warum wir nach Syrakus gekommen sind, wie wir das Boat gefunden haben und umgedreht natürlich auch, wo die herkommen, was die machen … Nur einmal wird das belanglose Kneipengeplauder ungemütlich, ein junger Mann namens Stephano sagt, Deutschland sei ja ein tolles Land, aber es sei ganz und gar nicht richtig, dass Merkel die Nigger und Ungläubigen (er sagt tatsächlich „Nigger and unbeliever“) dazu ermuntere, übers Mittelmeer zu kommen, und dass die dann alle in Italien hängen blieben und Deutschland sich einen Scheißdreck kümmere. Als ich ansetzte zu antworten, dass man das so ja nicht sehen könne, reden ein paar junge Frauen bereits auf Italienisch auf Stephano ein, hauen und knuffen ihn dabei leicht und im Spaß, sie scheinen ihm klarzumachen, dass solcherlei Themen jetzt und hier nicht gewünscht seien – ganz mit Goethes Faust: „Ein politisch Lied, ein garstig Lied!” –, jedenfalls hält er den Mund und während er sich schmollend aus der unmittelbaren Tresen-Region verzieht, werde ich in meinem Entgegnungsversuch radikal mit der Frage unterbrochen, wo ich denn ursprünglich herkomme und wo ich geboren sei, so geht das unverfängliche Kneipengeplauder weiter. Irgendwann gibt einer der jungen Männer um uns herum eine Runde Amaro Segesta aus, die Sizilianische Variante des Averna, meine Fresse, hau wech das Zeuch, und zwar schnell, aber den anderen scheint’s zu schmecken, nur Caro und ich schauen uns mit großen Augen an und bestellen 100 ml Plymouth pur, zum Nachspülen sozusagen. Caro reitet jetzt der Schalk, sie bestellt eine Runde Plymouth in Navy Strenght für die Zecher um uns herum, gewissermaßen als Revanche, ich beobachte die jungen Menschen, die Mädels sind meist vorsichtig und nippen erstmals, die Jungs müssen Großteils den Macho rauslassen und exen die 4 cl des 57-prozentigen Schnapses, mit einem Resultat, das zumindest mich stark an die letzten Zeilen von Goethes „König von Thule“ erinnert: „Dort stand der alte Zecher / Trank letzte Lebensglut … Die Augen täten ihm sinken / Trank nie einen Tropfen mehr.“ Kurz nach 02:00 werden wir rausgeworfen, zum Hotel sind es keine 5 Minuten, wir brauchen jetzt wenigstens 10, unser Zimmer ist tatsächlich aufgeräumt und die Spuren des Mittagessens sind ebenfalls verschwunden. Vor dem Fenster brummen bereits die Motoren der Fischlaster, und die ersten Boote tuckern langsam in den Hafen, wohl den Fahrern lautstark ankündigend, was sie gefangen haben. Die Schalschutzfenster sind, auch das muss man sagen, wirksam, geschlossen dringt kaum etwas von dem Krach in’s Zimmer, aber eben auch nicht die Brise frischer Seeluft, weswegen man ja eigentlich ein Zimmer direkt am Meer nimmt. Wir setzen uns mit reichlich Paracetamol, Wasser und dem Etna Rosso in die geräumige Badewanne und versuchen mit viel Trinken, Tabletten und gegenseitigen Wechselduschen dem unvermeidlichen bösen Erwachen vorzubeugen, der Rotwein wird trotzdem noch leer, man darf ja nichts verkommen lassen, …
… und siehe da, so schlimm ist das ganze am nächsten Morgen nach 6 Stunden Schlaf tatsächlich nicht. Wir schaffen es noch auf die Dachterrasse zum Frühstück, hier grassiert bereits die Italienische Unsitte, geraume Zeit vor Ende der Frühstückszeit nichts mehr nachzulegen, aber warmgehaltene Rühreinpampe, fettige Würstchen und glasigen Schinken mit fragwürdiger Kühlung wollen wir eh nicht. Aber es gibt für Italienische Verhältnisse fast gute Brötchen, also esse ich Brötchen mit dick Butter – Fett emulgiert Alkohol – und Marmelade, Caro nimmt ein paar Stücke der zahlreichen Kuchen und wir trinken beide viel schlechten O-Saft und guten Cappuccino, irgendwie haben wir Flüssigkeitsbedarf. Caro hat erst heute Abend ihren nächsten Termin in Catania, deswegen hat sie sich wohl am Vorabend auch so abstürzen lassen. Aber die Frau ist hart im Nehmen, das merke ich immer wieder. Vor dem Auschecken duschen wir nochmals kalt, wahrscheinlich darf keiner von uns beiden schon wieder Auto fahren, wir knobeln, ich muss fahren. Das Auschecken funktioniert dann tatsächlich mal problemlos, nach einem Anruf bei der Rezeption holt ein Page sofort unsere Taschen, an der Rezeption ist unsere Rechnung bereits fertig, bis wir gezahlt haben steht auch unser Wagen vor der Tür und die Taschen sind verstaut, so geht Fünf-Sterne-Service, warum nicht immer so?
Grand Hotel Ortigia
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E-Mail: info@grandhotelortigia.com
Online: www.grandhotelortigia.it
La Terrazza sul Mare
Viale Mazzini, 12
96100 Siracusa SR
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Tel.: +39 (9 31) 46 46 00
Online: www.laterrazzasulmaresiracusa.it
(im Grand Hotel Ortigia)
BOATS
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96100 Siracusa SR
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