Potzblitz: Die Dahlia Lounge von Tom Douglas in Seattle

Es muss vor über zwanzig Jahren gewesen sein, dass ich das erste Mal bei Tom Douglas in Seattle aß. Es war – was sonst? – ein Geschäftsessen, aber keines der protzigen Art – „Kuck mal, was ich für ein dickes Spesenkonto habe …“ –, sondern eher freundlich-entspannt. Die amerikanischen Kollegen von der Ostküste erwarteten riesige Washington-Steaks und Elch-Stew, ich erwartete eigentlich gar nichts, zwischenzeitlich daran gewöhnt, nichts von der imperialen Küche zu erwarten. Was dann kam, war so ganz anders: relativ kleine Portionen (etwas, womit der Durchschnitts-Ami rein gar nichts anzufangen weiß), frische Gemüse jenseits des Cream Spinach, Corn und Beans, Salatdressings weit jenseits von Kraft und Unilever, halbwegs ordentlich und hübsch angerichtete Teller und keine hingeflatschten Lebensmittelberge, Service-Kräfte, die stundenlang und begeistert über die Herkunft der einzelnen Lebensmittel erzählen konnten, und das fundiert und nicht geschwafelt; am meisten aber begeisterte ich die Tatsache, dass unser für 17:00 Uhr bestellter Tisch um 16:45 Uhr noch nicht beziehbar war, und das mit der Begründung „The Chef is sill explaining today’s menue to the service staff.“ – ein Menue, das sich laufend ändert und das dann auch noch vom Küchenchef dem Service ausführlich erklärt wird, das hatte absoluten Seltenheitswert in den Staaten, und hat es bis heute.

Und bis heute sticht das Dahlia heraus, auch wenn sein Chef Tom Douglas mittlerweile sechszehn Restaurants sowie eine Bäckerei in Seattle und eine eigene Farm in Prosser betreibt, als die Kochpionier und -legende des Nordwestens gilt, wieder und wieder geehrt und ausgezeichnet wurde, längst mehr Zeit bei Lehrveranstaltungen, Vorträgen, Buchlesungen, Radioaufzeichnungen und ähnlich lukrativeren Tätigkeiten verbringt als selber in der Küche zu stehen. Im Dahlia kocht seit 2009 Brock Johnson, wie Douglas  ohne formale Koch-Ausbildung, beide haben sich ihre Fähigkeiten learning by doing on the job angeignet; während es Douglas allerdings von der Ostküste nach Washington verschlug, hat Johnson die Region von Seattle nie verlassen. Aber das sind weitgehend unnütze Fakten, worum es alleine geht, sind das Essen, die Menschen, das Ambiente. Die Lage des Dahlia ist ziemlich perfekt auf halbem Wege zwischen Downtown Seattle (wo Touristen und Banker das Sagen haben) und Uptown Seattle (wo Touristen, Wissenschaftler, Künstler und die Gates das Sagen haben), im menschlichen Niemandsland zwischen den Hotspots der Stadt. Die Renovierung hat dem Schuppen sichtlich gut getan, gedämpftes, aber nicht düsteres Licht, Rot- und Brauntöne, viel Holz, kunstvoll gefaltete Papierfische, geschickt eingesetzte Raumteiler, blanke Massivholztische, Stoffservietten, ordentliches Glas, Besteck, Porzellan, natürlich jede Menge Dahlien-Sträuße in der Saison, auch das passt einfach: nicht prollige Kneipe, nicht sterile Fast-Food-Kantine, nicht Ehrfurcht-gebietender, steifer Nobelschuppen, sondern legeres, gepflegtes Wohlfühl-Ambiente. Dazu passen die Menschen: Gast-seitig nennt man sowas wohl typische upper middle class im imperialen Kastenwesen dieser Tage, Chefsekretärinnen, junge Banker, Managerinnen im Hosenanzug, wohlhabende Rentner, solche Leute halt, die die Vorliebe zum guten Essen eint; Service-seitig sehr freundliche, versierte, kompetente, flotte Bedienungen, die wissen, wovon sie sprechen, wenn sie ein Gericht beschreiben oder Fragen nach Zubereitungsart und Herkunft der Zutaten beantworten,  und sowas jeden Tag neu zu lernen, das kostet Zeit, Arbeitszeit, bezahlte Arbeitszeit, die irgendwie ein pay back braucht … trotzdem sind die Preise im Dahlia halbwegs moderat – für hiesige Verhältnisse – mit 15 bis 20 US$ für eine Vorspeise und 30 bis 40 US$ für ein Hauptgericht.

Die Küche vom Dahlia ist nicht un-, so doch schwer-beschreiblich. Moderne Dingsda-Cuisine mit Schieß-mich-tot-Einschlag und klaren Reminiszenzen an Haste-nicht-gesehen sind Küchenlatein-Blubb-Kategorien, die beim Dahlia nicht funktionieren. Da sind hausgemachte Nudeln auf der Speisekarte, jede Menge Grünzeugs, Austern und Tatar, tote Kuh und toter Fisch, man muss sich schon sehr anstrengen, hier nichts zu finden, was einem schmecken könnte, obwohl die Karte mit einem Dutzend  Vorspeisen und zehn Hauptgängen durchaus übersichtlich ist, und bis auf das quasi obligatorische 16 oz Prime Ribeye Steak fehlen alle, alle Reminiszenzen an die Imperiale 08/15-Küche von Clam Chowder und Chili über Burger und Pizza bis Lasagne und Cesars Salad. Es ist nicht die Quantität, die den Laden so exzeptionell macht, sondern die Qualität. Wir beginnen mit Lobster Mushroms (eine nordamerikanische Pilz-Spezialität, die aufgrund ihrer spezifischen Farbe so genannt wird, eine deutsche Bezeichnung habe ich nicht gefunden, ich würde sie als Mischung von Pfifferling und Kräutersaitling beschreiben) in einer sehr gehaltvollen Crème double Sauce mit wenig blanchierten Schalotten-Würfelchen und Petersilie auf geröstetem grobporigem Sauerteigbrot, von dem Spiel der  Konsistenzen von knusprigem Brot, bissfesten Pilzen und cremiger Sahne allein schon gigantisch, geschmacklich nochmals gigantischer.

Danach eine Variation von den Farm-eigenen Tomaten, weißen Bohnen und Gurken an einer Vinaigrette aus weißem Balsamico und Oregano: weiße Bohnen und Gurken guter Standard, Balsamico ganz gut, Tomaten ziemlich gut, frischer Oregano gigantisch, als wären alle anderen Zutaten in ihrer ordentlichen / ziemlich guten Qualität nur daraufhin komponiert, den Oregano in seiner ganzen Brillanz zu präsentieren, ihm quasi eine Plattform zu bieten.

Dann Spalten besten frischen Pfirsichs mit Scheibchen von Stangensellerie, hervorragenden Pistazien, mittelmäßiger Burrata mit einer ziemlich sauren Chili-Basilikum-Vinaigrette, einer Mischung, die auf den ersten und zweiten Blick so was von gar nicht geht, auf den ersten und zweiten Biss dann aber sowas von köstlich ist, selbst die mittelmäßige Burrata tut der Delikatheit nur geringen Abbruch, aber es sind halt die alten Kolonien, da hat man sich noch nie so auf Milchprodukte verstanden. Eine Klasse für sich ist der „pan roasted ling cod wilted rainbow chard, bluebird farms farro, hazelnuts and pickled beets“. Lingcod (zu Deutsch Lengdorsch) ist ein typischer hiesiger Meeresfisch von bester Qualität und Frische mit festem ‚Fleisch‘; er ist wird auf den Punkt gebraten serviert, in Europa würde man wohl kritisieren, dass er nicht mehr leicht glasig ist, but so be it. Der verwelkter Mangold dazu ist sehr geschmacksintensiv, leicht bitter, der Dinkel-Risotto ist … naja, gekochte Körner ohne sonderliche Raffinesse, aber unglaublich  zeitgeistig, die sehr guten gerösteten Haselnuss-Scheibchen reißen’s geschmacklich etwas raus, die sauer eingelegten Rübchen-Würfel stören eigentlich nur. Insgesamt eine recht gewagte Kombination mit sehr gutem Fisch und belanglosem Rest. Weitaus besser dann die rosa gebratene Fünf-Gewürze-Ente mit krosser Haut, knackigen pfannengerührten grünen Bohnen, Erdnüssen und scharf-süßem Aprikosen-Chutney, hier ist alles geschmacklich perfekt und eins passt zum anderen.

Der Sommerbeeren-Trifle zum Nachtisch recht und angenehm leicht, die karamellisierten Bröckchen vom Mandelkuchen ziemlich sehr gut, die Brom- und Heidelbeeren dicke, belanglose  Zucht-Trümmer; wahrscheinlich ist meine Generation die letzte, die noch weiß, wie echte wild gewachsene Brombeeren und Heidelbeeren, im Schweiße des Angesichts und mit dornenzerkratzten Händen selber gesammelt (man sammelt wilde Beeren, man erntet sie nicht, denn ernten tut man nur, was man gesät hat, wilde Beeren sind aber eine Gabe der Natur selber), schmecken, und dass das ganze Zucht-Zeugs nur einen müden Geschmacks-Abklatsch echter Wildbeeren bietet. Ganz anders da der Pfirsich-Crumble, nochmals mit den hervorragenden Pfirsichen unter einer knusprigen, nicht breiigen Kruste mit selbst gemachtem Vanilleeis.

Summa summarum: gehobene, gekonnte, meist sehr gute, manchmal aber dann auch versponnen-verrannte, aber immer kreative Autodidakten-Küche aus sehr guten Rohstoffen fast ohne kulinarische Mainstream-Kniefälle in angenehm gepflegt-entspannter Atmosphäre.

Dahlia Lounge

Eigentümer Tom Douglas
Chefkoch Brock Johnson
2001 4th Ave (Ecke 4th und Virginia)
Seattle, WA 98121
USA
Tel.: +1 (206) 6 82 41 42
E-Mail: n.a.
Internet: www.dahlialounge.com

Hauptgerichte von 17 € (Knoblauch-Falafel, Linsen, Aubergine, Tsatsiki, Tomate) bis 61 € (16 oz Prime Ribeye Steak, Zwiebeln, Gemüse, Rotwein-Jus), Drei-Gänge-Menue von 35 € bis 92 €

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