Ostern in Lissabon: Ostermontag

Wir schlafen lang an diesem Tag, sehr lang, packen unsere Sachen und frühstücken wieder in der Pastelaria Cristal II in der Rua Buenos Aires um die Ecke. Wir sitzen an einem der Tische auf dem Trottoir, es ist kühler geworden, trinken sehr viel Kaffee und noch mehr sehr süße Limonaden und essen dazu sehr, sehr süßes Zeugs. Die Straßen sind halbwegs geschäftig, Ostermontag ist kein Feiertag in Portugal. Sichtlich müde schleppen wir uns in die Innenstadt hinunter, bummeln nochmals lustlos durch die Idiotenrennmeilen der Baixa und aus dem langsam ausfransenden touristischen Stadtzentrums über kleine Sträßchen und Gassen wieder Richtung Westen, nach São Bento, wo Lissabon geschäftig und produktiv und reell wird, nun gut, sagen wir geschäftiger, produktiver, reeller. Eine befreundete Anwältin hat zum Abschied in eines ihrer Standard-Lunch-Lokale eingeladen, wo sie regelmäßig des Mittags mit Kollegen um die Ecke zum Essen geht, schnell, wohlfeil, gut, landestypisch. Also nicht etwa ein Subways oder sonst irgendein internationalistischer Fastfood-Konzern, auch kein Ramen-Laden mit Suppenschüssel, kein kleiner Italiener mit einem Teller Nudeln samt Salat, kein windiger Wickler wabbliger veganer Wraps, kein alternatives Klassenkampf-Café vom selbstverwalteten sozialistische Kollektiv mit biologischem Öko-Soja aus verbrannten Regenwäldern und monatlichen Spenden für die militanten Anarchisten, kein nobles, alteingesessenes Kaffeehaus im Art Deco Stil und guter Lunchkarte … also, all diese üblichen Verdächtigen, bei denen man erfolgreiche, vielbeschäftigte Anwälte des Mittags vermuten würde, sind nicht unser Ziel.

Unser Ziel ist eine kleine, kaum als solche erkennbare Kneipe am Ende eines engen Sackgässchens, neben Mülltonnen, Telephon- und Stromkabeln, die einfach offen an die Hausmauern genagelt sind, blätterndem Putz, Wänden voller Graffity-Schmierereien, Wellblech-Bauzäunen, lückenhaftem Kopfsteinpflaster mit Müll darauf. Wenn ich jemals einen Film drehe, in dem eine holde Jungfrau von einem unholden Bösewicht verfolgt, in die Enge getrieben und sodann alldorten grausam gemetzelt wird, diese Ecke wäre prädestiniert als Set für solch eine  Szene. Aber einen unbestreitbaren  Vorteil hat dieses Environment doch auch: obwohl keine 15 Geh-Minuten von der Idioten-Rennmeile entfernt, habe wir hier alle, wirklich alle Touristen weit hinter uns gelassen, wir dürften die einzigen Reisenden – ich schreibe Reisende, nicht Ausländer, denn São Bento ist ein klassisches Zuwanderer-Viertel – hier sein und sind mitten im authentischen portugiesischen Alltagsleben, und sowas will ich ja eigentlich immer haben. Das Lokal, es heißt O Soajeiro, ist klein, eng, stickig, rammelvoll, roter Fliesenfußboden, die Wände halbhoch mit Ziegelstein-Imitat beklebt, ein Dutzend dicht an dicht gestellte Tische, an der Tür und in den viel zu schmalen Durchgängen zwischen den Tischreihen warten schon die nächsten Gäste, rote Papiertischtücher, darauf weiße Papierläufer, einfachstes Geschirr, Besteck, Glas, pralles Arbeiterklasse-Leben könnte man jetzt halb herablassend, halb verklärend, halb objektiv beschreibend sagen, die Mehrzahl der Gäste sind offensichtlich tatsächlich blue colour worker, allen voran eine unverkennbare Rotte Müllwerker in voller Berufskleidung, aber auch Rentner, junge Familien, und eben unsere Anwältin mit ein paar Kollegen und uns im Tross. Die Stimmung ist heiter-gelöst, der Lautstärke-Pegel gehoben, der Sauerstoff-Pegel gesenkt, der Alkohol-Pegel bei einigen wenigen schon des Mittags deutlich – denen werde ich mich anschließen, denke ich mir, und den Rückflug verpennen -, gemeinsam könnten hier alle wahrlich singen „Uns ist ganz kannibalisch wohl, // Als wie fünfhundert Säuen!“ Ein schöner Ort. Vor dem Haus sind nochmals einfache Plastiktische auf der schmutzigen Gasse aufgestellt, einer davon ist für uns reserviert. Die Speisekarte ist überschaubar: Tagessuppe, gebratener oder gekochter Bacalhau, drei verschiedene gegrillte Seefische, gegrilltes Schwein, Rind, Kalb, als Beilagen frittierte Kartoffeln, Salat, Gemüse, Brot, als Nachtisch vier Cremes, vier Tartes, Obst; zusätzlich gibt es eine auf kleinen gelben Zetteln handgeschriebene, kurze Tageskarte mit Gambas, Eintopf, Mies-, Herz- oder Entenmuscheln, Lamm, Krebsen, in der Saison natürlich Sardinen … was es eben gerade an jahreszeitlichen Angeboten gibt.

Grillen ist hier die ganz überwiegende Zubereitungs-Art, und gegrillt wird auch die Spezialität des Hauses, die ursprünglich eigentlich aus Madeira stammt und dort Espetada á Madeirense heißt, zu Deutsch etwa Madeiranischer Kebab, das sind ungefähr ein Meter lange, massive Metallspieße, auf denen Rindfleischstücke aus der Lende und Keule, jeweils etwa +/- so groß wie ein Tischtennisball stecken, gewürzt mit Lorbeer, Pfeffer, Salz, wenig Knoblauch und dann gegrillt, ganz wie bei Steak nach Wunsch well done, medium oder rare. Berechnet wir hier nach Gewicht, das Kilo kostet 35 EURO, und davon werden vier bis sechs Esser dicke satt. Das Fleisch ist von sehr guter Qualität, mal ein ganz klein wenig Fett, mal eine kleine Sehne, aber geschmacklich hervorragend, zart, saftig. Dazu isst man selbst und frisch frittierte Kartoffelscheiben, knuspriges Bort und einen grobschlächtigen Salat aus Frisée, Zwiebeln, Gurken, Tomaten, gebratenen Paprika und öligem mit Essig-Olivenöl-Dressing. Ketchup bestellt hier niemand oder sonstige Fertig-Saucen. Dazu trinkt man primitive Weine, vor allem aus dem Douro, wir haben einen gekühlten roten 2017er Foral dos Quatro Ventos (kein Kommentar), heimisches Bier namens Super Bock und Branca, den gefürchteten Rum aus Madeira. Es ist nicht so, dass jetzt jeder für sich à la carte bestellen würde, unsere Gastgeberin ordert ganz einfach 3 Spieße (= gut 3 Meter) Espetada á Madeirense, ein paar Platten mit Salat, Brot und frittierten Kartoffelscheiben für die ganze Tischgesellschaft, dazu Karaffen Wein und Wasser.

Nach kurzer Zeit kommen zwei schwarz beschürzte Kellner mit würdevollem Schritt, wichtiger Mine und noch wichtigerer Fracht an unsere Tafel, jeder trägt einen dieser Fleischspieße und schiebt jedem Gast mit gekonnten Handgriffen mit zwei Messern wenigstens ein Dutzend gegrillter Fleischbrocken auf den Teller. Das ist dann Fleischeslust pur. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt – die meisten von uns zumindest, nicht aber Rüdiger, dessen Motto es war, die beste Beilage zu einem Steak sei noch ein Steak und der jedwede Sauce, Sättigungsbeilage oder gar Salat zum Fleisch schlichtweg kategorisch verweigerte – Fleisch zum kulinarischen Teamspieler, manchmal sogar zur Nebensache zu machen, mit all den Sößchen, Saucen, Tunken, Säften, Chemo-Mixturen, Pasten, Gewürzbergen, Schlafröcken, Teighüllen, Labberbrötchen und mit was sonst noch wir Fleisch servieren. Hier ist Fleisch ist Fleisch ist Fleisch ist Fleisch … sonst nichts. Man nimmt das Fleisch viel intensiver wahr als zusammen mit irgendeiner Sauce, spürt die Textur, fühlt die Säfte, schmeckt den Eigengeschmack, die Reste von Blut … Irgendwie so müssen sich die Steinzeitmenschen gefühlt haben, wenn sie Fleischfetzen von der Mamutkeule am Lagerfeuer mit den Zähnen herausrissen, ein irgendwie archaisches Erlebnis. Aber ich bin ehrlich: Meins ist sowas nicht, Fleisch braucht bei mir keine Hauptrolle, das ist auch der Grund, weshalb ich Steak – und sei es handgekitzeltes Kobe-Wagyu-Beef – nicht sonderlich mag, zumindest pur, zusammen mit einem leckeren Pfeffer-Sahne-Sauce auf Basis des Bratensatzes und einem ordentlichen Löffel Demi-glace, mit klug dosiertem Sherry, Madeira, Brandy, Senf, wenig blanchierten Schalotten und einem Hauch Chili, dazu ein knuspriges Weißbrot und ein Salat, und das Steak hat eine kulinarische Umgebung, in der selbst es reüssieren kann. Oder Rinderkeule, wie sie im O Soajeiro am Spieß serviert wird, würde ich in große Brocken zerteilen und ein formidables Goulasch daraus kochen, mit fettem, sehnigem, bardiertem Bauch Zwiebeln und Paprika, so dass es viel, viel dicke braune Sauce ergibt, die Sauce wieder mit Gebäck, oder Makkaroni, oder Reis, das ist die Hauptsache, ein Fleischfetzen darin stört dann auch nicht. Und was wäre der schönste, zarteste, rosaneste Maibock-Rücken ohne Pilzsößchen und Spätzle? Schließlich beim Schnitzel geht es primär um die knusprige, aufgeblähte Panade, die dem Fleisch darinnen seine Berechtigung gibt und zugleich als eingebaute Beilage dient. Sie sehen schon, Fleisch fungiert bei mir primär als Geschmacks-Zutat, und nicht etwa als Hauptsache. Aber missen möchte ich es auch nicht.

Einerlei, irgendwann ist auch irgendwie diese archaische Fleischorgie beendet, die Rechnung ist geradezu lächerlich für die Größe der Tafelrunde und das Konsumierte, lächerlich für einen gut verdienenden Deutschen muss man relativieren, angemessen für eine portugiesische Anwältin, teuer bis unerschwinglich für einen portugiesischen Müllwerker. Bis alle sich zum Abschied umarmt haben, vergeht einige Zeit, die Portugiesen umarmen nämlich oft und ausführlich, und akribisch dazu, keiner kann unumarmt die Tafelrunde verlassen. Die Uber-Wagen warten schon. Die Runde zerstreut sich, die Anwälte zu Fuß in ihr nahe gelegenes Büro, die anderen nach Hause oder sonst wo hin, wir zum Flughafen. Die Maschine hat nur drei Stunden Verspätung, für TAP-Verhältnisse also fast pünktlich, nach Mitternacht sind wir daheim, die Nacht wird kurz, das Büro wartet bereits.

O Soajeiro
Rua do Merca-Tudo, 16
1200-267, Lisboa
Tel.:  +351 (21) 3 97 53 16
E-Mail: osoajeiro@outlook.pt

Hauptgerichte von 7,30 € (Gegrillter Schweinebauch) bis 8,80 € (Bacalhau), Drei-Gänge-Menue von 11,00 € bis 15,30 €

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