Mit Meran verbinde ich viele Kindheitserinnerungen, Flugreisen waren weiland undenkbar, „der Süden“, das waren Italien, vielleicht mal Cote d’Azur und später noch Jugoslawien, soweit einen die damaligen Autos halt trugen. Und der naheste, der nördlichste Süden, das war eben Meran: Palmen, mildes Klima, fremd und doch deutsch-sprachig (wie praktisch), fremdartiges (aber nicht zu fremdartiges), gutes Essen, nette Frühstückspensionen mit dienstbaren, dicken, freundlichen Frauen, Frühstück auf der Terrasse in der Sonne, Spaziergänge durch nicht enden wollende Obstplantagen, ein verstohlen stibitzter Apfel vom Baum, der köstlich schmeckte, ungleich köstlicher als jeder Apfel daheim vom Baum, meine allererste Pizza … das sind Kindheitserinnerungen, die ich mit Meran verbinde. Derart beseelt machte ich mich aus dem verregneten Nordtirol auf, das Oetztal hoch, bei Obergurgl links ab, die mannigfachen Fährnisse des Timmelsjochs queren, das Passertal runter und schon ist man da, in Meran. Um ehrlich zu sein, ich habe die Stadt nicht wieder erkannt. Kaum ist man mal 40 Jahre nicht vor Ort, schon verändern die alles. Das Wetter ist tatsächlich noch mild, und Palmen und Obstplantagen gibt’s auch noch, aber ansonsten erkenne ich wenig wieder. Die alte Promenade an der Passer haben sie mit einer riesigen Therme und einem ebenso riesigen, modernen Thermenhotel zugebaut, dazwischen ein großer Platz für Freiluftveranstaltungen, darunter eine dreistöckige riesige Tiefgarage, in der die Besuchermassen quasi fast in der Innenstadt parken können. Interessant allein schon die Nummernschilder auf den Straßen: ich schätze mal, ein Drittel Italienische, ein Drittel Deutsche, ein Drittel sonstige Nationen. Geheimtipp oder auch nur unverfälschte Kultur, das geht gewiss anders. Entsprechend quellen durch die Leonardo da Vinci- und die Freiheitsstraße, auf dem Korn- und dem Pfarrplatz und besonders durch die Arkaden der Laubengasse förmlich Menschenmengen aus aller Herren Länder, Südtiroler sieht man hier maximal als Verkäufer in den Geschäften, selbst die meisten Kellner sind Italiener oder Osteuropäer (das ist jetzt nicht irgendwie rassistisch gemeint, sondern soll nur die mangelnde Präsenz der Eingeborenen unterstreichen). Nicht mehr Deutsch ist die vorherrschende Sprache auf den Straßen, sondern Englisch, die verfluchte Lingua franca der Neuzeit. Das über-reichhaltige Warenangebot in den eng-an-eng gedrängten Geschäften dient kaum zur Deckung des täglichen Bedarfs, angeboten wird vorwiegend überflüssiger Ramsch und Tand für Touristen. Dazu Lebensmittelläden, die fast ausschließlich die transportablen Spezereien der Region feilbieten, Wein, Speck, Würste, Käse, Vinschgerl (dabei liegt Meran gar nicht im Vinschgau, aber das interessiert hier eh‘ keinen), Schüttelbrot, getrocknete Steinpilze, alles bereist praktisch abgepackt und bereit für die Reise als Mitbringsel für die Lieben nördlich oder östlich der Alpen oder sogar in Übersee. Dabei sind die Preise atemberaubend, was auch erklären mag, warum hier keine statistisch repräsentative Meraner Hausfrau ihren täglichen Bedarf deckt. Für ein Kilogramm abgepackte Kaminwurzen verlangen diese Strauchdiebe in der Meraner Innenstadt 37,50 €, die nämlichen Kaminwurzen finde ich im Supermarkt am Rande der Stadt für exakt 20 € das Kilo; ein Kilo getrocknete Südtiroler Steinpilze in Bruchqualität soll 80 € kosten, die ich woanders für unter 60 € bekomme (und keine Bulgarischen oder so, sondern ebenfalls Südtiroler oder sogar Bayrische); eine Flasche 2014er Blauburgunder vom Plonerhof (ein wirklich lohnender Tropfen übrigens) kostet in der Weinhandlung am Stadtrand 25 €, für die nämliche Flasche verlangt (und bekommt! – das ist ja das Schlimme, dass die Leute so unglaublich doof sind und das Zeugs zu diesen Preisen kaufen) man in der Laubengasse 37 €. Ich gebe zu, ich habe mich ebenfalls ein wenig mit Südtiroler Spezereien eingedeckt, aber eben am Touristen-freien Stadtrand, bei einem Metzger, einer Weinhandlung, einem Gemüsegeschäft und einem Supermarkt in den Wohngebieten der Eingeborenen, wo auch diese einkaufen. Da ist das Angebot meines Erachtens ohnehin besser, und die Preise sind vernünftig.
Ebenso touristisch verlaust wie die Geschäfte sind die Innenstadtrestaurants. Früher, da waren die Speisekarten gemäß dem Süddtiroler Autonomiestatuts von 1972, das die Zweisprachigkeit in der Region festschreibt, eben zweisprachig, Deutsch und Italienisch. Heute sind viele Speisekarten zwar noch immer zweisprachig, aber in Deutsch und in Englisch (verfluchte lingua franca, aber das erwähnte ich ja schon an anderer Stelle). Bereits dies zeigt, wie sehr sich die örtlichen Gastronomen auf die Gäste aus aller Herren Länder einstellen, und entsprechend am internationalen Geschmack ausgerichtet ist das Speisenangebot: Pizza, Pasta, Steak, Burger, Fritten, Salat, eventuell noch Schnitzel, viel anderes findet man nicht auf den Speisekarten der meisten Innenstadtrestaurants, und die Blicke auf die vollen Teller der Gäste in selbigen lassen mir alles andere als das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Ich verzichte also frustriert auf das geplante Mittagessen in Meran, fahre den Etsch hinauf, vorbei an Messners protzigem Ego-Denkmal Burg Juval, hinein in den Vinschgau, abseits der Durchgangsstraße und der Touristen, in dem Dörfchen Allitz, oberhalb von Laas, esse ich im Gasthaus Sonneneck bei Herbert Thanei eine gute, ehrliche Speckknödelsuppe und danach drei Tiroler Nocken mit Käse, Steinpilzen und Ronen (so nennt man hier die Rote Bete), übergossen mit viel geschmolzener Butter (grobschlächtig, aber extrem lecker, von der Kalorienmenge genau richtig, wenn man gerade alleine mit der Axt einen Hektar Wald abgeholzt hat; hat man das jedoch zufällig just nicht getan – was ja vorkommen soll, dass man einen Tag mal keinen Wald ganz alleine abholzt – dann ist das Gericht in der Tat ein wenig mächtig), trinke dazu – Null Promille hin, Null Promille her – ein Viertel eines herrlich fruchtigen, leicht gekühlten 2013er Lagrein Riserva vom Hans Rottensteiner, danach fahre ich weiter den Etsch hinauf bis Schluderns, von dort hoch zum Reschenpass, vorbei am Kirchturm vom versunkenen Alt-Graun, wieder hinunter in’s Inntal, immer den Inn entlang, quer durch Landeck, wo die Sanna in den Inn mündet, schließlich kurz hinter Imst wieder den Berg hoch, vorbei an der legendären Area 47 (nicht zu verwechseln mit der Area 52), die Ötztaler Ache hoch zurück ins Oetztal.
Landschaftlich ein schöner Ausflug, aber Meran kann mir in Zukunft gestohlen bleiben.