Eine Besonderheit der Alten Kolonien ist es ja, dass sich in vielen großen, von Einwanderung geprägten Städten bis heute Stadtviertel gehalten haben, in denen sich einzelne Volksgruppen gemeinsam angesiedelt und die dem Viertel ihren Namen und auch Teile ihrer verbliebenen Kultur gegeben haben: Chinatown, Koreatown, Little Italy, Mexicantown, Germantown. Viele davon sind heute zu bloßen Touristenattraktionen mit vermeintlichem authentischem Lokalkolorit verkommen, in manchen lebt tatsächlich noch etwas echte Kultur inmitten der imperialen Plastikwelt. Little Italy in New York zählt gewiss längst nicht mehr zu den hehren Horten echten italienischen ex pat Lebensstils, es ist ein beliebiges schäbiges Viertel im südlichen Manhattan mit „italienisierenden“ Kneipen und Bäckereien, dazu jede Menge Schund- und Tinnef-Läden, um dumme Touristen und ungleich dümmere Einheimische nach Strich und Faden abzuzocken.
Dennoch kommen Caro und ich beim Schlendern durch die Stadt vom Battery Park (ok, nicht wirklich Battery Park, genau genommen vom Lunch im Dead Rabbit) Richtung Norden eher ungewollt und unbewusst in Little Italy vorbei. Wenn New York mit einem nicht gesegnet ist – neben dem fehlenden Segen Gottes – so sind dies öffentliche Toiletten. Das zwingt Beladene zuweilen, eher ungewollt Restaurants und Bars aufzusuchen, um sich dort zu entladen und im Gegenzug wieder eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Also sitzen wir in einem dieser italienisierenden Restaurants in der Mulberry Street, Capri, Kolosseum, Ätna, Petersdom, Langkofel und Schiefer Turm in kitschigen Bildern in wilder Mischung quer durcheinander an den Wänden, scheinbar willkürlich begonnene und beendete Bruchstücke von schlecht gemachten Mosaiken, ebenso willkürliche und gänzlich sinnlose Holzbalken-Fragmente, schmuddliger Linoleumboden, Stühle mit Sitzflächen aus geflochtenem Korb, einfachstes Mobiliar, viele Blau- und Türkistöne, Pressglas, Blechbesteck, Teller aus billiger, abgestoßener Keramik, zwei große gasbetriebene Pizzaöfen in der halboffenen Küche, die jungen, flotten Servicekräfte sehen eher Hispanisch denn Italienisch aus, jedenfalls sprechen sie untereinander Spanisch, der Patron hingegen erscheint mehr Asiatisch, aber kein rundes Pfannkuchen-Gesicht, sondern länglich, sehr hart, große Nase, viele Furchen, aus der Lameng würde ich auf Koreaner tippen, die drei übergewichtigen, schwitzenden, vielleicht vierzigjährigen Männer in sehr fleckigen weißen Jacken und Hosen in der offenen Küche hingegen sehen für mich sehr Chinesisch aus. Es geht hier nicht um Rassenkunde in Restaurants in New York, es geht hier alleine um die Feststellung, dass zumindest hier in diesem Restaurant in Little Italy weit und breit kein einziger Italiener zu sehen ist, maximal vielleicht noch in der Eigentümerversammlung hinter verschlossenen Türen, und selbst das würde ich bezweifeln. Da sitzen wir also, frisch erleichtert, bei doppeltem Espresso, Chlorwasser und Brandy, es ist Nachmittag, das Mittagsgeschäft ist vorbei, das Lokal fast leer, die Mannschaft bereitet sich auf das Abendgeschäft vor, deckt Tische mit Pressgläsern, Blechbesteckt, abgestoßenen Keramiktellern und Papierservietten ein, die dicken Männer in der Küche schnippeln Salate, kochen Nudeln, kippen Fertigsaucen aus vielleicht Zehn-Liter Plastikbeuteln in große Töpfe, der Patron, der wohl auch als Barkeeper fungiert, bereitet sein Mis en Place aus Zitronenscheibchen, Fruchtspießchen, Oliven auf Zahnstochern, umgefüllten Sirups vor, alles ist geschäftig, aber ruhig-geschäftig, routiniert, wie man es von einer guten, eingespielten Mannschaft erwartet, zuweilen ruft einer was oder ein anderer scheint eine witzige Bemerkung auf Spanisch zu machen, die anderen lachen dann verhalten. Irgendwann kommt ein junger Mann, fast noch ein Junge, wohl der Benjamin der Mannschaft, aus den hinteren Räumen des Lokals, in beiden Armen trägt er einen großen Kübel voller frischer Eiswürfel. Es kommt wie’s kommen muss, der Knabe stolpert, fällt, die Eiswürfel aus dem Kübel ergießen sich quer über den schmuddligen Fußboden, dem Knaben passiert zum Glück nichts. Die Servicekräfte kommen herbeigelaufen, die Köche schauen tumb über die Theke vor ihrer Küche, der Patron stapft hinter seiner Bar hervor und schimpft, schimpft den lang am Boden liegenden Knaben in einem Idiom, das ich so noch nie gehört habe, ich vermute, eine Mischung aus Spanisch, Englisch und einer asiatischen Sprache, statt vielleicht mal zu fragen, ob sich der Knabe verletzt haben könnte, derweil die anderen Servicekräfte gemeinsam beginnen, die Eiswürfel mit Händen und Füßen zu einem Berg zusammenzuschieben, den Kübel wieder aufzustellen und mit bloßen Händen das Eis erneut in den Kübel zu bugsieren. Als alles Eis aufgesammelt ist nehmen Zwei den Kübel, tragen ihn hinter die Bar und kippen ihn dort in den großen, in der Theke eingelassenen Eisbehälter für Mixgetränke (also nicht etwa Eis um Flaschen zu kühlen, sondern Eis, das direkt in die Gläser zu den Drinks kommt), derweil der liegende Knabe sich berappelt, einen Wischmopp mit Eimer holt und den Boden trocken wischt und das Servicepersonal weiter Tische Pressgläsern, Blechbesteckt, abgestoßenen Keramiktellern und Papierservietten eindeckt, die dicken Männer in der Küche Salate schnippeln, Nudeln kochen, Fertigsaucen aus vielleicht Zehn-Liter Plastikbeuteln in große Töpfe kippen, der Patron, der wohl auch als Barkeeper fungiert, sein Mis en Place aus Zitronenscheibchen, Fruchtspießchen, Oliven auf Zahnstochern, umgefüllten Sirups vorbereitet, als wäre nichts gewesen. Caro und ich beschließen spontan, nie-nie-nie wieder in einem Little Italy einen Drink mit Eis zu nehmen.