„Wir sind zurück aus China.“ hatten die Freunde geschrieben. Sie waren für ein paar Jahre als wahnsinnig wichtiger Director Irgendwas für den Daimler in China gewesen, genauer bei Daimler Greater China Ltd. in Peking, noch genauer war er wahnsinnig wichtiger Daimler Director gewesen und sie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ganz so wahnsinnig wichtige Direktors-Gattin und Mutter zweier entzückender Kindlein in einer gated community an einem der zahlreichen Ränder der Stadt (wobei ich persönlich durchaus mal zur Diskussion stellen würde, was on the long run mehr im öffentlichen Interesse ist, Direktor zu sein oder Kinder groß zu ziehen). Es waren weder höhere Vorstandsweihen noch massive Karriereeinbrüche, die die beiden zurück nach Stuttgart geführt hatten, sondern schlichtweg die Angst um die Gesundheit ihrer Kinder ob der massiven Luftverschmutzung in Peking. Als das örtliche Regime selbst den sonst so schmucken und properen Paradesoldaten und Wachleuten erlaubte, öffentlich im Dienst Atemschutzmasken zu tragen, wurde es unseren Freunden im wahrsten Sinne des Wortes mulmig. (Ja, ja, Vincent Klink kommt gleich auch noch in’s Spiel, nur Geduld.) Und als die Feinstaub-Belastung 500 Mikrogramm pro Kubikmeter auf Dauer überstieg, während die Weltgesundheitsorganisation gerade einmal 25 Mikrogramm für unbedenklich hält, gab es für die Freunde kein Halten mehr und sie beantragten in der Konzernzentrale den Rücksturz zu Erde (wer kennt noch „Raumschiff Orion“?), dem dann auch ohne weitere Sanktionen seitens des Headquarters stattgegeben wurde. Nun also wieder Stuttgart statt Peking, umweltmäßig ist das wahrscheinlich sowie Anachreon nach dem Neunten Kreis der Hölle, aber livestylemäßig ist das wahrscheinlich so wie Nordfriesland nach New York. Aber welche Opfer bringt man nicht für die lieben Kleinen?
Also, „Wir sind zurück aus China. Treffen wir uns mal zum Essen? Bei uns geht es noch nicht, das Haus sieht noch aus wie Kraut und Rüben, erst die Hälfte der Umzugscontainer ist ausgepackt.“ hatten die Freunde gesagt. „Lunch in der Wielansdhöhe?“ hatte ich entgegnet. „Was, das alte Fossil gibt’s immer noch?“ hatten die Freunde gefragt. „Aber und wie!“ hatte ich geantwortet. „Also, Samstagmittag Wielandshöhe.“ Caro holte mich um halb zehn in ihrem alten, feuerroten Mercedes Cabrio ab, ein Gefährt, bei dem man nie weiß, was man aktuell höher einschätzen will, seinen unverkennbaren monetären Wert, seine zeitlose Schönheit und Eleganz oder aber die Tatsache, dass es tatsächlich mal fährt. Caro selber auch ein Traum in Rot: Petticoat mit üppigem Futter und Falten in knalligem Rot mit schwarzen Punkten, ein knallroter Hut, größer als die Rückbank des Cabrios, knallrote altmodische Autofahrer-Lederhandschuhe, knallrote Lippen und Krallen, Unterwäsche, so wie ich Caro einschätze, ebenfalls in Rot, alle Farbtöne perfekt aufeinander abgestimmt, ein Anblick, der bei jedem nicht schwulen und/oder blinden Mann zur sofortigen Schnappatmung führt. Erst beim Einsteigen sah ich, dass Caro zu der ganzen modischen Pracht Flip-Flops trug, ebenfalls in knallrot, edel, aus geflochtenen, filigranen Lederbändchen, aber Flip-Flops eben. Hinter Ulm traute ich mich schließlich was zu sagen: „Äh, Caro, wir fahren zu Vincent Klink in die Wielandshöhe …“ „Ich weiß.“, hatte sie mich forsch unterbrochen. „Aber ich weiß nicht, vielmehr ich bin mir sicher, dass Flip-Flops da nicht das adäquate Schuhwerk sind.“ „Warum sollten Flip-Flops nicht das geeignete Schuhwerk sein?“, hatte sie schon ziemlich schnippisch zurückgefragt. To make a long story short: es entspann sich eine lange Diskussion bis Stuttgart, Caro war ziemlich angesäuert ob meiner Flip-Flop-Kritik und alles endete damit, dass Caro sich ärgerlich aber immerhin dazu herablies, dass ich ihr neue, nach meinem Geschmack angemessene rote Schuhe zu ihrem roten Outfit kaufen durfte, ganz klassische, schlichte und dennoch zeitlos elegante Pumps von Tods bei Sigrun Woehr (man gönnt sich ja sonst nichts).
So beschuht erschienen wir – leicht verspätet – an der Alten Weinsteige, die Freunde warteten bereits, das Lokal des Samstag Nachmittags halb voll, entspannte Atmosphäre in diesem Post-Siebziger-Jahre-Ambiente, legeres, aber niveauvolles bürgerliches Publikum, viel mehr bourgeoise als bohème, dezentes, höfliches Personal, dann große, wirklich herzliche Begrüßungszeremonie, Aperitif, Speisekarte, Weinkarte, die unvermeidliche, wie immer die viel zu mächtige Quiche als amuse geul, treffliches Schmausen in entspannter Atomsphäre, Lachs mit Sauerkraut, eine Sülze mit Bratkartoffeln zum Niederknien, Saiblingsfilet mit Schnittlauch-Buttersauce, ziemlich hammelndes Lamm mit Kohl, genialer Milchstrudel, Wielandshöhe halt, dazu Geplapper und Gescherze ohne Ende, so viel hatten die Freunde Spannendes, Tagtägliches, Kurioses, Unglaubliches, Banales aus dem Reich der Mitte zu berichten …
… bis schließlich ein junger Mann den Raum betrat, vielleicht knapp 30, kurze Haare, leichter Drei-Tage-Bart, durchtrainiert, nicht muskulös, sondern eher drahtig, durchaus gutaussehend, nicht wirklich sympathisch (zumindest nicht für mich), sondern eher unglaublich arrogant in seiner betonten Lässigkeit und unzweifelhaften, in’s Überhebliche driftenden Selbstsicherheit, aber zugegebener Maßen sehr gut aussehend. Dieser Mann also betrat das Restaurant, umwuselt gleich von zwei der Servicekräfte, die ihn servil zu einem Tisch vorne am Fenster mit der tollen Aussicht geleiteten – während wir zu viert mitten im Raume saßen. („Und noch eins, fragen Sie nicht nach einem Fensterplatz, wir wünschen uns Gäste, die wegen des Essens und des edlen Interieures kommen.“ aus: „Grundregeln der Wielandshöhe“) Wichtig waren an dieser Stelle aber weder Person noch Persönlichkeit noch Tisch, sondern seine Kleidung: dieser Mensch trug offene Turnschuhe, eine weite Stoffhose und ein Muscle Shirt, das freien Blick auf seinen Bizeps und seine Achselbehaarung bot. In diesem Augenblick traf mich der Tritt eines funkelnagelneuen, knallroten Pump von Tods unter’m Tisch voll vor’s Schienbein, so fest, dass ich unvermittelt leicht aufschrie und nicht nur die Freunde, sondern auch die Nachbartische irritiert schauten. Caros Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen und funkelten vor Wut. „So, Vincent Klink! So, Wielandshöhe! So, unangemessenes Schuhwerk! So, keine Flip-Flops!“ zischte Caro sichtlich stocksauer. „Ich darf keine Flip-Flops tragen, und dieser Depp trägt Turnschuhe und Muscle Shirt! Danke auch, Herr Doktor!“ „Aber gerne doch, Frau Professor!“ – Caro hat tatsächlich einen Lehrauftrag an einer Uni und darf sich offiziell Professor nennen – versuchte ich die Situation zu entschärfen. Keine Chance, Caro war richtig sauer, selbst die Freunde blickten konsterniert ob ihrer unverhohlenen Wut auf mich. Aber es kam noch besser. Nach kurzer Zeit erschien Häuptling Eigenes Ego (so oder ähnlich nennt er sich doch, oder?) höchstpersönlich aus seiner Küche oder seinem Wigwam oder sonst wo her, jedenfalls in voller Körperfülle und voller Kochmontur und begann den Turnschuh-Lümmel zu umschwänzeln. Vertraulich stand er neben ihm, beugte sich leicht nach unten und schwatzte offensichtlich mit dem Kerl. Dann verschwand Klink kurz und kam mit einem Tellerchen zurück – ich weiß nicht, was drauf war, wir hatten solch ein Tellerchen nicht bekommen, jedenfalls nicht die fette Quiche – und servierte es dem Kerl höchstpersönlich. To make a long story short: nach einiger Zeit erkannte unser Freund den Betunrschuhten am Fenster als einen dieser Leute, die zusammen mit 21 anderen Deppen einen Ball vollkommen sinnbefreit auf einem großen Rasenstück von links nach rechts und von rechts nach links treten und dafür – ohne jemals in ihrem Leben ehrlich gearbeitet zu haben – Millionen und Aber-Millionen erhalten und von dem dummen Volk wie Helden verehrt werden, zu dieser für mich immer nur widerlichen und verachtenswerten Kaste der Nichtsnutze zählte der Typ im Muscle Shirt also, und Häuptling Eigenes Ego schien in seiner Verehrung des Nichtsnutzes dem dummen Volke um nichts nachzustehen. „Dieser Mensch darf also Turnschuhe tragen, und ich muss meine Ferragamo-Flip-Flops im Kofferraum lassen?“ Spätestens bei diesem Satz wurde mir klar, dass ich am Arsch war und dass ich – zumindest was Caro anbelangte – für lange Zeit am Arsch sein würde. Das restliche Essen – nochmals eine Entschuldigung an C. und G. – verlief dann nicht mehr so harmonisch, mit einer angesäuert-giftigen Caro am Tisch. Wir zahlten dann auch bald, verabredeten für ein andern mal, wenn die neue Wohnung der Freunde besicht- und bewohnbar sein würde und verabschiedeten uns. Schweigend gingen Caro und ich zu ihrem Wagen. Dort öffnete sie den Kofferraum, holte ihre Designer-Flip-Flops heraus, entledigte sich der Pumps und zog sich demonstrativ die Flip-Flops an. Und dann traf mich ein feuerroter Pump von Tods volle Möhre am Kopf … Frauen!