„Manchmal kann es die Hölle sein.“ – Eine Kellnerin erzählt

„Hast Du übermorgen Abend Zeit?“ Caro ist mit ihrer direkten Art am Telephon. „Für Dich habe ich doch fast immer Zeit, geliebter Besen.“ „Ha-ha,“ klingt es schal-gelangweilt aus der Funke, wohl nicht wirklich angekommen mein flaches Wortspiel. Hätte ich aber eigentlich vorher wissen müssen. Minuspunkt für mich. „Du müsstest allerdings nach Frankfurt kommen.“ „Warum nicht mal wieder Frankfurt? Kann ich bei Dir schlafen?“ „Blödmann!“ „Worum geht’s?“ frage ich. „Also, hör‘ zu,“ antwortet Caro, „über Umwege und Freunde bin ich an ein Mandat gekommen, das eigentlich nichts für mich ist. Aber als ich die Geschichte von dem Mädel gehört habe, ist mir der Kamm geschwollen“ – „Nur Hähne haben Kämme“ werfe ich altklug ein – „Doppel-ha-ha! Außerdem haben Hühner durchaus auch Kämme, Du biologische Null, geh‘ doch einfach mal auf einen Bauernhof, statt immer nur in Deiner Bude zu hocken.“ schallt es unvermittelt zurück. Zweiter Minuspunkt für mich in diesem Telephonat. „Tschuldigung, Frau Anwältin, also, worum geht es, und warum brauchst Du mich dazu?“ „‚Brauchen‘ tue ich Dich dazu überhaupt nicht, und manchmal frage ich mich, ob ich Dich überhaupt irgend wozu brauche. Ich will eher Dir und Deinem blöden Blog einen Gefallen tun, und vielleicht meiner Mandantin mit so’ner Art Gesprächstherapie helfen. Also, halt‘ die Klappe und hör‘ zu: Du erinnerst Dich an das Donna Francesca bei mir um die Ecke, mein Stamm-Italiener?“ „Klar, wir waren ja oft genug da.“ „Die Chefin kenne ich nun ganz gut. Vor ein paar Wochen sprach sie mich an, ob sie mir mal eine geschäftliche Frage stellen dürfe. ‚Jeder Zeit‘, antwortete ich. To make a long story short: seit ein paar Monaten hat sie eine neue Aushilfs-Servicekraft, eine nette, patente Studentin, hat mich auch schon öfter bedient. In ihrem letzten Job wurde sie beim Bedienen von einem Ami massiv sexuell belästigt, nicht nur mit Blicken und blöden Sprüchen, sondern so richtig Trump-mäßig mit ‚Grab them on their pussies‘, mitten im Lokal. Sie hat dem Typ vor allen Gästen eine Ohrfeige verpasst, die Polizei gerufen und Anzeige erstattet. Ihr Chef hat einen Riesen-Aufstand gemacht, plötzlich wollte niemand im Lokal mehr was gesehen haben, allen voran der Chef, der auch gerade zum Antichambrieren – man könnte es auch Schleimen nennen – am Tisch stand, aber meine Mandantin blieb bei ihrer Anzeige. Dass der Restaurantbetreiber – ein Albaner – ihr fristlos gekündigt hat, war noch irgendwie erwartbar. Aber der Ami überzieht meine Mandantin jetzt mit Gegenklagen, Abrechnungsbetrug, hygienische Mängel und – das ist das Beste und Abstruseste – sexuelle Belästigung, vertreten wird er durch eine Star-Kanzlei aus Boston, aber das Ganze ist anhängig in Frankfurt. Irgendwann hat die Studentin meiner Donna Francesca ihr Leid geklagt, und Donna Francesca hat dann mich gefragt, ob ich helfen könne. Ob ich kann, weiß ich noch nicht, aber wollen will ich auf jeden Fall. Das also der Grund für den geschwollen Kamm … und Gnade Dir Gott, wenn jetzt wieder so’n blöder Spruch kommt. Ich mache den Fall natürlich pro bono, hier kann ich wirklich mal was Gutes tun, mit den Honoraren von den Wirtschaftskriminellen, die ich sonst meistens raushaue, ist auch mal wieder gut für mein eigenes Selbstwertgefühl.“ Oha, Caro ist mit Herzblut dabei, arme Star-Kanzlei aus Boston, denke ich mir. „Aber was habe ich damit zu tun? Soll ich als falscher Zeuge herhalten?“ „Blödmann. Fake-Zeugen kann ich mir am Frankfurter Hauptbahnhof im Gros wohlfeil einkaufen. Das Mädel möchte einfach mal loswerden, was einem heutzutage so als Kellner im ganz normalen Schichtbetrieb widerfährt. Und da wärest Du der optimale Gesprächspartner, mit Deinem blöden Blog als Sprachrohr. Aber das Ganze muss streng anonym bleiben, die Partnerschaft aus Massachusetts wird jede Kleinigkeit als Grund für eine weitere Gegenklage nehmen.“

Alles klar, zwei Tage später treffen wir uns abends konspirativ in Caros Penthouse in Frankfurt. Caro und ihre Mandantin, sagen wir, sie heißt Silke, sind schon da und gehen am Tisch im Arbeitszimmer Papiere durch. Ich schätze Silke so um die 25, offenes Wesen, trotz einer gewissen Reserviertheit (was bei mir als völlig Fremdem ja verständlich ist), freundliches Lachen, angenehme Stimme, offensichtlich ziemlich schnell im Kopf, dazu noch eine hübsche Person. Die Begrüßung zwischen Caro und mir fällt kürzer und kühler aus als normalerweise üblich (ist ja eh‘ klar, vor einer Mandantin), Silke und ich schütteln uns brav die Hände, sie hat einen festen Händedruck und blickt mir selbstbewusst und zugleich aufmerksam-forschend in die Augen. Es ist nicht zu übersehen, dass diese junge Frau offensichtlich einen Arsch in der Hose hat, klar, sonst würde sie diese Nummer nicht durchziehen, sondern wäre längst eingeknickt.

Auf Caros Schreibtisch steht eine bereits sehr gut angebrochene Flasche Mauritius Labourdonnais Jahrgang 2010 bis 2021, ein Rum aus Mauritius von der Britischen Firma Bristol, auf Mauritius aus Melasse gebrannt, ein Jahr in den warmen Tropen gelagert, dann zehn Jahre in kalten Kellern in England und Frankreich, Finish in alten Cognacfässern, kräftige 47 Umdrehungen, Caro meint, er sei eine Vanille-Bombe, ich meine, er ist eine geschmackliche Bombe aus Gummibärchen (Caro spricht lieber von ‚fruchtiger Note‘), Vanillin und verfaulendem Holz, nicht, dass ich mich mit hochwertigen Rums wirklich auskennen würde, aber Caro hat mich zu dem einen oder anderen Tasting mit ausführlichen Erläuterungen genötigt. Mein’s jedenfalls wird sowas nicht. Derweil mixt mir Caro in der Küche ungefragt einen Martini, „No. 3 oder lieber #10, sonst hätte ich noch einen St. George da, aber das wär’s dann schon, Gordons noch.“ „Dann bleibe ich doch Deutsch und nehme Jörg Rupf.“ „Geht klar! Und Sie, Silke, auch einen Martini Cocktail oder einen Rum, oder was anderes, Wein, Sekt, Bier, Longdrink … Saft?“ „Danke, ich bleibe bei Wasser und etwas Aperol Spritz.“ „Glauben Sie mir, Alc hilft kolossal beim Reden.“ schallt es aus der Küche. „Vielleicht später, wenn ich mich warmgeredet habe.“ wiegelt Silke ab.

Wir ziehen uns mit unseren Drinks in’s Wohnzimmer zurück, Caro hat den Kamin angemacht, es ist noch recht kühl im März in Frankfurt. Ich stelle mich vor, erzähle, was ich so mache, wenn ich nicht gerade blogge, zeige Silke ein paar Seiten auf opl.guide; auch Silke stellt sich vor, Landei, kleinbürgerliches, behütetes Elternhaus, Einser-Abi, freiwilliges soziales Jahr, Bio-Studium in Frankfurt mit BAFöG, Auslandssemester in Bologna mit Hochbegabten-Stipendium, Berufswunsch nicht etwa Schmalspur-Bio-Lehrerin, sondern Forschung, sehr geerdet und pragmatisch, um sich jenseits des kargen BAFöGs noch etwas leisten zu können, ohne ihren Eltern auf der Tasche zu liegen, jobbt sie neben dem Studium in Kneipen, so stelle ich mir eine ideale Schwiegertochter vor. Als es unvermittelt klingelt, zuckt Silke zusammen, kein gutes Zeichen bei so einem gestandenen Weibsbild. Caro öffnet, es ist Donna Francesca höchstpersönlich, Caro hat bei ihr Antipasti und Dolci Misti bestellt, die Chefin liefert selber, um das größtmögliche Maß an Diskretion zu gewährleisten, nein, sie wolle nicht auf einen Drink mit hereinkommen, wir hätten bestimmt viel zu besprechen, ohne sie, außerdem müsse sie zurück in ihr Restaurant, das Abendgeschäft liefe gerade an, und Caro solle einfach das nächste Mal bezahlen, wenn sie im Restaurant sei. Da kann kein Lieferando mithalten. Die Antipasti jedenfalls sind schweinisch gut, Caro hat drei Flaschen eines 2018er Primitivo von Torrevento aus der Manduria dazu aufgemacht, eine Flasche schwerer Rotwein pro Person, eher eineinhalb Flaschen für Caro und mich, der Abend verspricht, heavy zu werden.

„Was ist es denn, was Ihnen am Kellnerinnen-Dasein so auf die Nerven geht?“ versuche ich, das Gespräch in Gang zu bringen. „Darf ich das Diktiergerät mitlaufen lassen, so gut ist mein Erinnerungsvermögen auch nicht mehr?“ Nach einigem Überlegen und einem Anstupser von Caro willigt Silke ein und fängt an, zu erzählen. „Um das vielleicht mal vorwegzusagen, ich bin eigentlich gerne Kellnerin. Ich mag es, unter völlig unterschiedlichen Menschen zu sein, ich mag es, Gäste zu bewirten, ich mag es, Gäste – das sind jetzt blöde Worte in diesem Zusammengang – zufrieden oder sogar ein wenig glücklich zu machen, ich mag es, einem Banker und einem Studenten die gleichen Biere zu servieren und sie beim Trinken zu beobachten, ich mag es, der Küche zurufen zu können, ‚Mach mal eine größere Portion, der Typ sieht echt abgebrannt und hungrig, aber nett aus, der hat’s nötig.‘ und diese größere Portion dann natürlich nicht extra zu berechnen, ich mag Köche, die das ohne Murren und Knurren sofort umsetzen, und ich mag Chefs, die das mitbekommen und nichts sagen, sondern freundlich dazu lächeln. Ich mag Gäste, die beim Zahlen sagen ‚Grad schön war’s heute Abend, Danke!`. Was mir zuweilen den Job gehörig verleidet, da sind zum einen diese großen, ungeheuerlichen Sachen, wie dieser grab them on their pussies – Typ, der hat mir tatsächlich mitten im Lokal in den Schritt gefasst. Oder Voll-Proleten im geschmacklosen Luxus-Outfit mit dicken Brieftaschen – ehrlich haben die das Geld wohl in den seltensten Fällen erarbeitet – ohne jedes Benehmen und ohne jede Esskultur, aber mit großer, lauter, ordinärer Klappe. Oder ewig nörgelnde und unzufriedene Spießer, egal, was und wie du’s machst, es wird immer falsch sein; diese Vollversager lassen den Druck und die Demütigungen, die sie selber – wahrscheinlich zu Recht – im Job, im täglichen Leben, in der Ehe abbekommen, dann an dir aus, weil in der Kneipe zahlen sie ja, und wer zahlt, schafft bekanntlichermaßen auch oh‘. Aber, um ehrlich zu bleiben, diese Ausfälle sind die absolute, die absolute Ausnahme, aber die bleiben natürlich im Gedächtnis – und in der Seele – haften. Doch dann sind da diese tausend Kleinigkeiten, keine einzige wirklich einer Erwähnung, einen echten Aufreger wert, und doch in Summe ein mächtiges Magengeschwür. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin keine Nonne und schaue auch schon mal auf einen knackigen Jungs-Arsch oder flirte etwas zu forsch. Wenn mir ein Gast, zumal wenn er noch getrunken hat, auf den Ausschnitt starrt oder eine Zote fallen lässt, alles geschenkt, ich bin ja schließlich nicht aus Zucker. Wer in der Gastro arbeitet, muss sowas abkönnen, und von einem Blick auf mein Dekolleté ist mir noch keine Brust abgefallen, bei manchen Gästen nehme ich es als notgeile Armseligkeit, bei manchen auch schon ein wenig als Kompliment, solange die Hände am Mann bleiben.

Das uralte Thema im Service ist natürlich das Trinkgeld, und da habe ich meine Vier-mal-vier-mal-vier-mal-vier-Regel. Also, ich unterscheide meine Gäste nach vier Kategorien, zum Ersten ganz banal nach dem Outfit, der Kleidung, zum Zweiten nach dem Benehmen und dem Auftreten, zum Dritten nach den Tischmanieren und zum Vierten dann nach dem Trinkgeld.

Ich weiß natürlich, dass es blöd und oberflächlich ist, jemanden nach seinen Klamotten zu beurteilen, aber es ist ja kein Zufall, dass jemand so rumläuft, wie er rumläuft, das können bescheidene finanzielle Verhältnisse sein, das kann eine ‚Ihr-könnt-mich-alle-mal-Scheiß-egal-Haltung‘ sein, das können berufliche Zwänge sein, ein Monteur läuft nun mal in Monteur-Klamotten rum, ein Anwalt in feinem Zwirn, das kann echter Stil sein, modisch oder erzkonservativ, das kann Provokation sein, das kann auch pure Angabe sein, da ist alles drin, aber es ist und bleibt halt der erste Eindruck, auch bei mir, der kleinen Kellnerin. Es gibt Kunden in Woolworth-Klamotten für insgesamt 100 EURO samt Unterhose und Pulli, es gibt Kunden mit gepflegten 1.000 EURO Klamotten, Kunden im noblen 10.000 EURO Outfit und schließlich Gäste mit angeberischen 100.000 EURO und mehr am Körper, mit Gucci und Rolex ist das kein Problem, und nach ein paar Jahren Kellnern sehen Sie auch, welche Luxus-Uhr und welche Budapester gefälscht sind und welche echt.

Dann sind da zum Zweiten Benehmen und Auftreten der Gäste: es gibt die bescheidenen Gäste, die still, fast schüchtern in der Ecke sitzen und sich nicht trauen, Dich als Bedienung anzusprechen, es gibt Gäste, die ganz entspannt im hier und jetzt sind, nicht schüchtern, nicht prollig, sondern die einfach in ihrem Environment sind und die wissen, dass sie hierher gehören und sich auch entsprechend benehmen können, dann gibt es Gäste, die unglaublich distinguiert und vornehm sind, nicht etwa überheblich oder großkotzig, sondern feine, kultivierte, freundliche Menschen, wo Du als Bedienung fast schon Angst hast, irgendwas falsch zu machen, weil sie’s viel besser wissen als du kleine Aushilfs-Bedienung, und dann sind da vom Benehmen her die Voll-Prolls, die gerne schon mal den Porsche-Schlüssel auf den Tisch knallen oder mit der Geldspange voller Hunderter rumfuchteln, aber nicht wissen, wie man ‚Bitte‘ und ‚Danke‘ sagt, aber schon gerne mal ein eindeutiges Angebot machen, falls mir Sinn danach stünde, es mal wieder ‚richtig besorgt‘ zu bekommen. Oder die lauthals durch’s ganze Lokal brüllen oder – noch schlimmer – mit den Fingern schnipsen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Da möchte man manchmal zurückschreien: ‚Leute, ich weiß sehr wohl, dass Ihr seit zehn Minuten da drüben sitzt und ich noch nicht bei Euch war. Aber ich lackiere mir hier nicht die Nägel, gerade Mal mussten elf Teller raus, für Leute, die vor Euch da waren und die vor Euch bestellt haben.‘ Aber zwischen Bekleidung und Auftreten gibt es keine 100-prozentige Kongruenz, noch nicht mal annähernd. Teure Klamotten sind nicht zwangsläufig mit gutem Benehmen verbunden, billige Kleidung auch nicht mit schlechtem, überall gibt es solche und solche, pflegte meine Großmutter immer zu sagen. Nur die mit dem hunderttausender Outfit, das sind meist, fast immer prollige Ärsche ohne jedes Benehmen, die glauben, durch die Klamotten irgendwie zur ‚besseren Gesellschaft‘ gehören zu können. Gefährlich wird es, wenn die Hundertausender sich richtig benehmen können und dazu noch freundlich zu dir sind. Das kann ein englischer Lord oder ein Fußballstar inkognito sein, das kann aber auch – gerade hier in Frankfurt – ein Zuhälter sein, der neue Pferdchen sucht. Da heißt’s Obacht!

Die dritte Unterscheidungskategorie sind dann die Tischmanieren. Klar kann nicht jeder mit einer Hummerzange umgehen, erwarte ich ja auch gar nicht. Aber einen gewissen Grund-Anstand bei Tisch schon. Ich stamme nun mal aus einem einfachen Arbeiterhaushalt, aber das Gebet vor dem gemeinsamen Essen war Pflicht, Messer in der Rechten, Gabel in der Linken (mein Bruder ist Linkshänder, was musste der bei Tisch leiden, wenn er’s anders herum machen wollte), Löffel zum Mund, nicht Mund zum Löffel, aufrechte Haltung bei Tisch, wir hatten sogar Fischmesser und -gabeln, nicht in den Zähnen prokeln, … das sind doch Selbstverständlichkeiten, zefix noch mal. Und jetzt, im Restaurant: der Chef hat sich den Kopf zerbrochen und kalkuliert, um die Speisekarte aufzustellen, die Köche haben sich in der Regel bemüht, das Beste aus dem Rohstoff- und dem Zeitbudget, das sie pro Gericht haben, zu machen, ich habe mir die Hacken abgelaufen, um die Teller heiß zu servieren, dann erwarte ich von den Gästen auch, dass sie dieser konzertierten Aktion einen gewissen Respekt entgegenbringen, mit ihren Essmanieren. Aber auch hier wieder vier Kategorien von Gästen. Da sind zum ersten die Freßmaschinen, die den gesamten Teller mit brachialer Gewalt in freßbare Stücke zerteilen, dann alles in einer irren Geschwindigkeit mit Gabel oder besser noch Löffel, am besten in der linken Hand mit gebeugtem Rücken knapp über dem Teller, in die Drecksfresse schaufeln, 66,6% der Amis und 25% der Asiaten fressen gefühlt so, nur jeder dritte Ami weiß, sich halbwegs bei Tisch zu benehmen. Dann sind da die legeren, Messer in der Rechten, Gabel in der Linken, immerhin, aber Ellenbogen auf dem Tisch, Rücken gekrümmt, das sind die Basics an Tischmanieren, die wenigstens eingehalten werden. Danach kommen die Korrekten, die ganz einfach korrekt sind, entspannt im hier und jetzt, die wissen, wie man sich bei Tisch benimmt und benehmen sich auch so. Wenn die sich über irgendwas beschweren – beschweren sie sich noch nicht einmal, sondern weisen nur höflich auf etwas hin –, dann hat es fast immer Hand und Fuß und ist begründet. Eine lauwarme Suppe oder ein schlecht geputzter Salat oder ein durch Versehen well done statt medium rare gebratenes Steak kann immer mal vorkommen, weder in der Küche noch im Service sind wir unfehlbare Maschinen; für solche Kritik – nein, nennen wir es ‚Hinweise‘ – sind wir ja sogar dankbar, nicht etwa, um im Team mit irgendwelchen Schuldzuweisungen anzufangen, sondern um es das nächste Mal besser zu machen. Ganz schlimm ist dann aber die vierte Kategorie, die Etepetete-Typen, überkorrekt, jeder Wasserfleck auf einem Messer wird sofort unglaublich arrogant reklamiert, eine angeblich falsch gefaltete Serviette, angeblich falsch temperierter Wein, angeblich fehlende Muskat-Note im – tatsächlich selbstgemachten – Kartoffelbrei, diese Leute sind solche Ärsche. Die eine Hälfte von diesen Ärschen sind schlichtweg Arschlöcher, die andere Hälfte spekuliert mit ihrer Arschigkeit einfach nur auf einen Entschuldigungs-Schnaps vom Haus oder auf einen Nachlass bei der Rechnung, ich kann die beiden Kategorien mittlerweile ganz gut auseinanderhalten. Aber wenn Du den Schnaps nicht spendierst, kannst Du in 50 Prozent der Fälle sicher sein, dass es schlechte Kritiken auf Google und Tripadvisor hagelt, so mit Ein-Sterne-Bewertungen und boshaften, erlogenen Kommentaren, der Mega-Gau in der Gastro mit teilweise richtig schlimmen Folgen für’s Geschäft.

Tja, und dann kommen wir zur vierten Kategorie meiner Vier-mal-vier-Matrix, dem Trinkgeld. Das Verstörendste – ich sage jetzt ganz bewusst, ‚das Verstörendste‘ – ist die Tatsache, dass keine der drei vorherigen Kategorien eine Vorhersage über das Trinkgeld ermöglicht. Da sind ärmlich gekleidete Schlucker, die plötzlich 20 Prozent geben, da sind feine alte Herrschaften oder Voll-Prolls mit Porscheschlüssel, die sich das Wechselgeld auf Heller und Pfenning herausgeben lassen, da sind chronische Nörgler, die trotzdem gut Trinkgeld geben, da sind Leute, die gut Zeche gemacht haben, denen’s offensichtlich gut gefallen und gut geschmeckt hat, die das auch sagen, aber Trinkgeld gibt’s trotzdem keines. Ein System habe ich da noch nicht gefunden. Wie gesagt, die notorischen Knauser, obwohl die Küche und du als Bedienung alles richtig gemacht habt, lassen sich bei einer Rechnung von 29,90 EURO die 10 Cent herausgeben oder – fast noch schlimmer – die ‚generös‘ sagen ‚Machen Sie dreißig!‘ Sowas überhöre ich prinzipiell und knalle ihnen ihre zehn Cent demonstrativ auf den Tisch. Es gibt Leute, die runden eine Rechnung von 29,90 EURO auf 33 EURO auf, zehn Prozent sollten eigentlich der Standard sein, aber noch nicht einmal die Hälfte der Leute gibt so viel. Ganz wenige geben großzügig Trinkgeld, 15, 20, sehr selten auch mal 25 Prozent, aber das ist die absolute Ausnahme. Und dann ist da noch der Sonderfall Firmenveranstaltung oder Familienfeier, da sieht’s meistens ganz mau aus. Letztlich hatten wir das Haus komplett voll mit Kunden eines Kranbauers, der hat richtig teuer und reichlich für seine Kunden auffahren lassen, wir sind den ganzen Abend gerannt. Als ich abkassiert habe, waren 5.000 EURO zusammengekommen, der Oberguru von dem Kranbauer, also nicht der Inhaber, sondern irgendein leitender Angestellter, sagte dann ‚Machen Sie 5.030.‘ Als er mein sparsames Gesicht sah, zuckte er nur mit den Achseln und meinte lakonisch ‚Sorry, firm policy!‘ Herrgottszeiten, der Typ verdient wahrscheinlich ein paar Hunderttausend im Jahr, dann soll er halt seine firm policy firm policy sein lassen und von seinem eigenen Geld ein paar Scheine drauflegen. Geht genauso bei einer Familienfeier, Ommas Achtzigsten zum Beispiel. Zuerst hoch soll sie leben, dann hoch die Tassen, wenn’s an’s Bezahlen geht, sind meist der älteste Sohn oder die älteste Tochter dran, die nehmen einen dann beiseite und zahlen ganz diskret, regelmäßig mit lausigem Trinkgeld, die Begründung ist immer irgendwie gleich: ‚Es ist ja noch Omas Geld, damit darf ich nicht rumwerfen.‘ Komisch, wenn bei so einer Familienfeier der Jubilar noch selber zahlt, oder bei einer Firmenfeier der Eigentümer, dann ist faires Trinkgeld normalerweise kein Thema. Die Wirte bezahlen uns Aushilfskräften meistens Mindestlohn oder knapp darüber, ich verstehe sogar, dass sie nicht mehr zahlen können, fast alle Wirte, die ich kenne, arbeiten schwer und arbeiten viel, und sie fahren alle keinen Porsche. Ich habe in meinen Lohn das Trinkgeld fest einkalkuliert. Ohne Trinkgeld wäre es gescheiter, in’s Büro oder in’s Lager zu gehen, oder putzen, da gibt’s bessere Stundenlöhne – aber die Arbeit macht nicht so viel Spaß und man lernt nicht so viele Menschen kennen.“

Imponierend, dieses Vier-mal-vier-mal-vier-mal-vier-Universum, das offenbar jeden nur denkbaren Restaurantgast trefflich kategorisieren kann. Ich erwische mich dabei, wie ich Gedanken versuche, mich selber dort einzuordnen. „Jetzt nehme ich doch so einen Rum.“ sagt Silke zu Caro, die gießt ihr ein, wir nutzen die Erzählpause, um uns über die Vorspeisenplatte herzumachen.

Irgendwann fährt Silke fort und ich mache das Diktiergerät wieder an. „Also, was hatte ich jetzt? Klamotten nerven höchstens, wenn sie zu protzig sind oder wenn jemand mit Fleiß und ohne Not einen provokativen Kontrapunkt zu Stil des Hauses setzen will. Aber in solchen super-schicken Häusern arbeite ich ja eh nicht. Schlechtes Benehmen, Unhöflichkeit, fehlende Bitte und Danke, Schnipsen nerven immer, egal wie hoch später das Trinkgeld ist. Und bei schlechten Tischmanieren wird nicht nur mir ganz anders, sondern oft auch den anderen Gästen an den Nachbartischen. Wer nicht mit Messer und Gabel umgehen kann, der soll sich gefälligst einen Döner auf die Hand holen oder zu McDonalds gehen, aber doch nicht in ein Restaurant! Zu wenig Trinkgeld hatten wir auch schon.

Ach ja, was tierisch nervig sein kann, das sind schlecht erzogene Kinder außer Kontrolle. Jedes Kind schreit mal, jedes Kind zappelt mal auf dem Stuhl, jedes Kind kleckst mit dem Ketchup oder schmeißt ein Glas um: alles geschenkt, dafür sind’s Kinder. Aber wenn die Kleinen andauern mit weit ausgestreckten Armen und lauten Brumm-Geräuschen quer durch’s Lokal rennen und Flugzeug spielen, natürlich auf den freien Hauptwegen, wo wir mit dem heißen Essen langgehen, und die Eltern bremsen sie nicht ein, sowas geht gar nicht. Wenn ein Baby nicht nur mal einen Mucks macht, sondern eine viertel Stunde lang laut schreit, vielleicht weil es Zähne bekommt, dann kann ich als Mutter oder Vater das doch nicht einfach hinnehmen und stoisch weiteressen, dann nehme ich das Kind oder den Kinderwagen und gehe nach draußen, bis sich das Plag beruhigt hat, schon aus Rücksicht auf die anderen Gäste. Am besten war allerdings die junge Mutter, die ihrem Baby mitten im Lokal auf dem Tisch neben Pfeffer und Salz die Windel wechseln wollte; als ich sie höflich darauf hinwies, dass es vor den Toiletten extra einen Wickeltisch gäbe, ist die Person dann richtig patzig und laut geworden, das sei ihr gutes Recht, ich sei kinderfeindlich, bla-bla-bla, das ganze Lokal hat zugehört. Ich habe sie dann vor die Wahl gestellt, Wickeltisch vor den Toiletten oder Hausrecht, sie hat dann unter bösem Gemurmel den Wickeltisch genommen … and, guess what … keinen Cent Trinkgeld gegeben. Also, genau genommen, das muss ich auch noch sagen, sind es – fast – niemals die Kinder, die nerven. Es sind – fast –immer die Eltern, die die Kneipe oder das Restaurant als erziehungs- und manieren-freie Zone deklarieren.

Schlimm sind auch die … wir nennen sie Gastro-Messies. Die hinterlassen einen Tisch, als hätte eine Bombe eingeschlagen, vollkommen zugemüllt und verdreckt. Tischtuch, Obertuch, Servietten voller Flecken, gerne wird auch mal in die Stoffserviette geschnäuzt, Krümel, Pommes, Brot, Salat am Boden, eigentlich alles, was runterfallen kann, fällt bei diesen Leuten auch runter – oder wird absichtlich runtergeworfen, gerne auch noch gleich in den Teppichboden eingetreten, Essensreste wild auf dem Teller und natürlich auf dem Tischtuch, dazu vielleicht selbst gebastelte Kügelchen aus Brot oder einen Stapel abgenagte Geflügelknochen, benutzte Zahnstocher, zerknickte Bierdeckel, die scheinen zusätzlichen extra Müll von daheim mitzubringen oder sie leeren ihre Taschen aus, um einen Tisch so zu verwüsten. Solche Tische abzuräumen, kann für den Service zuweilen richtig eklig sein.

Dann kommen mir die Gastro-Autisten in den Sinn, die dich als Bedienung behandeln, als wärest du Luft. Ich hab‘ mal in einem Lokal gearbeitet, die hatten ein altes Kellergewölbe für private Feiern, kein Speiseaufzug, jedes Mal 18 Stufen runter, 18 Stufen hoch, an sich schon Strafe genug für den Service. In dem Keller hatten wir ein gesetztes Menue mit 22 Personen, alles hübsch eindeckt mit Blumen und Stoffservietten. Den Aperitif zu servieren war noch kein Problem. Dann kommst du mit den Tellern mit der heißen Suppe, die Leute reden miteinander, ignorieren dich einfach und vor ihnen steht die gefaltete Serviette wie eine Eins auf ihrem Platz, keine Chance, den Suppenteller irgendwohin abzustellen. Ja wissen diese feinen Herrschaften nicht, dass die Serviette bei Tisch als erstes auf den Schoß gehört, um Platz für die Teller zu machen? Wenigsten jetzt, wenn du neben ihnen mit den Tellern stehst, nehmen sie auch nicht die Serviette weg, sondern ignorieren dich und reden munter weiter. Solchen Leuten möchte ich die heiße Suppe über den Schoß kippen. Manchmal muss man zwei und drei Mal bitten, die verschissene Serviette jetzt endlich beiseitezunehmen, damit man die Suppe eindecken kann. Dann räumt man ab, kommt irgendwann mit dem Hauptgang zurück, die Teller sind verdammt heiß vom Salamander am Pass, und was liegt vor den Leuten auf ihrem Platz auf dem Tisch? Wieder die vermaledeite Serviette, diesmal nur zerknittert, und wieder wirst du geflissentlich ignoriert und stattdessen weiter mit dem Nachbarn geschnattert. Wenn es der Teller zulässt und er nicht etwa voll mit Sauce ist, sage ich mittlerweile nichts mehr, sondern knalle den Teller mitten auf die Serviette. Dann hat man plötzlich die Aufmerksamkeit der Leute, die einen schauen verwundert, die meisten aber böse. Nach dem Essen gehe ich von Gast zu Gast, frage, ob sie Kaffee oder einen Digestiv wünschen, die meisten ignorieren dich wie gehabt, sagen noch nicht mal ‚Nein Danke‘, sondern ignorieren dich einfach, also fragst du den nächsten Gast. Dann bist du um den Tisch rum, hast drei Bestellungen, zwei Espressi und einen Averna, 18 Stufen hoch, mit drei Getränken 18 Stufen runter, du servierst, andere sehen das, rufen plötzlich ‚Ach ja, einen Kaffee würde ich auch noch nehmen.‘ Du fragst laut und deutlich ‚Möchte sonst noch jemand einen Kaffee oder einen Digestiv?‘ Diesmal gehst du mit vielleicht vier Bestellungen die 18 Stufen hoch, mit vier Getränken 18 Stufen runter, servierst, und wieder geht es los, obwohl du vor fünf Minuten die ganze Runde laut nach weiteren Wünschen gefragt hattest: ‚Och so’n Kaffee und ein Schnapserl hätte ich jetzt auch gerne.‘ Mit drei oder vier Treppengängen könnte man die ganze Bagage reichlich mit Kaffee und Digestiv versorgen, stattdessen ignorieren sie mich weidlich und lassen mich dann sechs oder sieben Mal laufen, meine Kilometer sind ja pauschal abgegolten, ist ja egal, wie oft ich diese vermaledeite Treppe hoch- und runterlatsche. Aber selber laut rumjammern, wenn sie zum Bieseln hochmüssen, weil im Keller keine Toilette ist. ‚Also, Ihr Chef könnte hier wirklich ruhig mal einen Aufzug einbauen!‘ bekomme ich dann zu hören, haha, einen Aufzug in ein 500 Jahre altes Haus, lauf gefällig die Treppe, du ignoranter Autist.‘

Was ich gar nicht abkann, ist zu enger Körperkontakt, nicht nur bei den Gästen, sondern auch bei den Kollegen oder Kolleginnen, und das hat absolut nichts mit sexueller Belästigung zu tun. Klar, an manchen Stellen in der Gastro ist es baulich etwas eng, hinter der Theke, an schmalen Türen, im Lager, oder wenn sich die Gäste selten-dämlich hinsetzen, so dass fast kein Durchkommen mehr ist. Da zwängt man sich schon mal Arsch an Arsch oder Brust an Brust durch, ohne jeden Hintergedanken, unangenehm ist’s mir trotzdem. Aber egal ob Kollege oder Gast, so ein vertrauliches Handauflegen auf den Unterarm, ein Klopfer auf die Schulter, beim Sprechen so nahekommen, dass man das Parfum oder den Mundgeruch riecht, … geht alles nicht, ich spreche da nicht von dem klar sexistischen Klapps auf den Po, ich spreche von viel weniger das auch nie gerichtsmassig werden kann, ich mag sowas nicht, weder von Männern noch von Frauen. Wen ich wie nahe an meine Pelle lasse, will ich schon selbst bestimmen. Ich glaube, ich habe mal gelesen, im Mitteleuropa wären 40 bis 50 cm die gesellschaftlich übliche Minimal-Distanz zwischen Fremden, im Süden tendentiell etwas weniger, im Norden eher etwas mehr, und dabei sollte es auch bleiben. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Ich hatte in einem Restaurant mal ein altes Ehepaar als Stammgäste, beide sicherlich schon fast 90, wenn ich sie in die Vier-mal-vier-mal-vier-mal-vier-Schublade stecke: eher 10.000 als 1.000 EURO Klamotten, vom Wesen her sehr distinguiert, aber auch unglaublich freundlich, perfekt bei den Tischmanieren, dennoch ist ihnen wegen altersbedingtem Zittern hin und wieder mal ein Böhnchen von der Gabel gefallen, niemand außer mir hat’s bemerkt, und trotzdem war es den beiden furchtbar peinlich, Trinkgeld-mäßig waren sie so die 15-Prozent-Fraktion, die wussten, was sie taten: ein paar Prozent mehr als das Übliche, aber nicht großkotzig zu viel. Die kamen jeden Mittwoch zum Abendessen, jeden Samstag zum Lunch. Sie haben nie reserviert, das haben wir automatisch gemacht, weil wir wussten, die sind zuverlässig wie ein Uhrwerk. Einmal kamen sie zwei Wochen nicht, da hat der Chef telephoniert, viel telephoniert. Schließlich kam raus, dass der alte Herr gestürzt war, mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag und sich seine Frau auch im Krankenhaus eingemietet hatte, um bei ihrem Mann zu sein. Der Chef ist sofort in’s Krankenhaus, von da ab haben wir dreimal die Woche Maultaschen und Saure Linsen in’s Krankenhaus geliefert, damit der alte Herr wieder zu Kräften kam. Das mag jetzt alles zu weit führen, aber der alte Herr hatte etliche Firmen, zwischenzeitlich von seinen Söhnen gemanaged. Er hat wohl tatsächlich Anweisung gegeben, dass Firmen-Events größtmöglich bei meinem Ex-Chef stattzufinden hätten und dass 15 Prozent Trinkgeld gesetzt seien. Aber, verdammt, darum geht es hier gar nicht, ich schweife ab. Was ich erzählen wollte, wenn ich beim Bezahlen den Geldbeutel auf dem Tisch hatte – die beiden haben immer bar bezahlt, ich glaube, die hatten gar keine Kreditkarte, aber sicherlich Schotter ohne Ende – tätschelte der alte Herr ganz sacht meinen Handrücken, vor den Augen seiner Frau, und sagte freundlich irgend sowas wie ‚Grad schön war’s wieder, gut haben Sie’s gemacht, Fräulein.‘ Das war dann wieder sowas wie ein herzliches Lob vom eigenen Opa, das war schön. Aber wer meinen Handrücken tätscheln darf, das entscheide ich noch immer ganz alleine. Wenn der Voll-Proll mit dem Porsche-Schlüssel auf dem Tisch meinen Handrücken mit demselben Spruch tätschelt, dem möchte ich eine reinsemmeln dürfen.“

Wir gehen zu den fulminanten Nachtischen von Donna Francesca über, Silke nimmt noch einen Rum, „Gerne etwas mehr.“ sagt sie beim Einschenken zu Caro. Bei den Nachtischen – auch die phantastisch, ein Tiramisu zum Niederknien, eine Panna Cotta mit Himbeer-Coulis mit Schuss, Pflaumen-Crostata alla Vaniglia, frittierte Polenta mit Amarenakirschen, kleine Stücke einer Zitronen-Tarte – erzählt Silke weiter. „Es sind ja nicht nur die Gäste, die nerven können, es sind zuweilen auch die eigenen Kollegen. Ein Lokal steht und fällt mit dem Wirt, das ist eine Binsenweisheit. Es gibt Wirte, die behandeln unsereins wie eine minderwertige Selbstverständlichkeit, Mindestlohn, rauer Umgangston, der Chef selber rührt keinen Finger, chronisch zu wenig Personal – klar, für solche Ärsche arbeitet niemand gerne, und wenn jemand dauerhaft für so ein Arschloch arbeitet, ist er meist selbst ein Arschloch und wird Schicht- oder sogar Restaurantleiter und gibt den Druck vom Chef selber gerne weiter –, du läufst dir die Hacken ab, kriegst das Genörgel der Gäste ab, weil das Essen meist mies ist und die Getränke vorsätzlich schlecht eingeschenkt sind, wenn du was trinken willst, weil du dir beim Rennen die Seele aus dem Leib schwitzt, ist Leitungswasser kostenlos, alles andere musst die mit Mitarbeiter-Rabatt selber zahlen, und nach Betriebsschluss gibt’s dann Streitereien um die Verteilung des Trinkgeldes. Danke nein. Mein Albaner war so einer. Es gibt natürlich auch andere Chefs: etwas mehr als Mindestlohn, dein Trinkgeld bleibt bei dir oder wird zumindest fair in der Crew verteilt, ein kostenloses Essen von der Karte pro Schicht, solange es nicht gerade das Filetsteak ist, Getränke sowieso kostenlos, und wenn die Crew nach Betriebsschluss noch ein gemeinsames Bier trinkt, alles kein Problem und auf Kosten des Hauses. Ich hatte mal einen Chef, der hat abends nach Betriebsschluss immer selber für alle Kollegen Bier oder Prosecco serviert, vom Restaurantchef bis zur Küchenhilfe, wir saßen noch eine viertel Stunde, manchmal auch viel länger zusammen, haben was getrunken und haben die Schicht Revue passieren lassen, was war gut, was war schlecht, woran hat’s gehakt, was können wir morgen besser machen? Und er hat uns explizit aufgefordert, dieses Feierabend-Bier als Arbeitszeit abzurechnen. Das war ein ziemlich gutes Lokal, klar, sobald was schieflief, wusste es der Chef meistens und konnte was dagegen unternehmen. Nun gut, arschige Kollegen gibt es immer, die meisten sind aber ganz in Ordnung.

Azubis sind so’n Thema. Wer mit seinem Haupt- oder Realschul-Abschluss in die Gastro in den Service geht, ist meist eine Dumpfbacke. Bei den Koch-Lehrligen ist ja oft noch Herzblut und Passion dabei. Aber im Service, dass sind meist Leute, denen ist’s auf dem Bau zu hart und im Büro zu langweilig und im Verkauf nicht kommod. Oder Kinder aus Gastwirt-Familien, aber die machen meist eine gescheite Ausbildung, weil’s die Eltern besser wissen und ein gut ausgebildetes Kind als Nachfolger brauchen. Die kommen mit solchen Vorstellungen in die Gastro, wie Freibier ohne Ende, dem Millionär den Tausend-Euro-Bordeaux samt Probeschluck kredenzen, nach drei Jahren Ausbildung die eigene Kneipe oder sogar das Sternelokal eröffnen, aber meistens ganz ohne Vorstellung, dann mach‘ ich das halt mal, war grad nichts anderes zu bekommen, statt als Bäcker morgens um 03:00 Uhr aufstehen zu müssen, dann schon lieber mal bis 02:00 Uhr morgens arbeiten. Sorry to say, aber die meisten Azubis im Service sind untermotivierte Dumpfbacken. Noch schlimmer sind nur die Leute, die das Arbeitsamt schickt, da will kaum einer wirklich arbeiten, die kommen nur, um wieder gefeuert zu werden und weiter Stütze zu bekommen. Da hab‘ ich so einen Hals, wenn ich sehe, was von meinem Monatslohn, für den ich mir den Arsch aufgerissen habe, an Steuern weggeht, für solche Leute, die im Service immer nur eine ruhige Kugel geschoben haben, dazu noch meistens krank waren. Dann schon lieber engagierte Schüler und Studies, denen der Job Spaß macht, die die Erfahrungen und die Lessons dabei inhalieren, die auch ein wenig oder manchmal auch viel in der Birne haben, die mitdenken. Ich gehe so weit, zu sagen, dass die studentischen Aushilfskräfte aktuell das personelle Rückgrat der deutschen Gastronomie sind. Klar gibt es den perfekt ausgebildeten Kellner, der mit Herzblut bei der Sache ist, die geniale Restaurantleiterin, die aus einer Dorfkneipe ein gastronomisches Highlight macht, aber die sind heute so selten wie Einhörner. Typischer ist dann schon der Kellner mit mangelnden beruflichen Perspektiven und Alkoholproblem und die Restaurantleiterin, der betriebswirtschaftliche Optimierung oder persönliche Work-Live-Balance wichtiger sind als zufriedene Kunden und zufriedenes Personal. Ohne Studenten wäre die gesamte einfache und mittlere deutsche Gastronomie am Arsch. Punktum.

Schlimm können Köche sein, sie wissen, dass das Lokal schließen muss oder auf Sparflamme mit verkürzter Speisekarte fahren muss, wenn sie kündigen oder – noch schlimmer – auf krank machen, bis sie gefeuert werden. Akzeptable – ich sage jetzt noch nicht mal ‚gute‘ – Köche scheinen seit Jahren Mangelware zu sein. Klar, einen TK-Flammenkuchen in den Ofen schieben oder ein vorkonfektioniertes Schnitzel zusammen mit Pommes in die Fritteuse werfen, das kann jeder, selbst der illegal zum Hungerlohn beschäftigte abgelehnte Asylbewerber. Aber sobald du als Gastronom irgendwie ein bisschen Qualität und eigene kulinarische Handschrift bieten willst, bist du auf deinen Chefkoch angewiesen. Die meisten kochen alle – mehr oder weniger – gut oder sehr gut, lieben ihren Job und machen ihn professionell ohne Mullen und Knullen, auch wenn’s mal happiger wird. Aber es gibt auch richtige Kotzbrocken unter den Chefköchen. Wenn du mit einer Umbestellung kommst – Bratkartoffeln statt Pommes – gibt’s einen Anschiss, für die Bedienung wohlgemerkt, weil sowas sie aus ihrem Trott rausreißt und zusätzliche Arbeit erfordert, wenn dem Spüler ein Teller runterfällt, brennt in der Küche die Luft, obwohl’s gar nicht sein Teller war, wenn der Chef fragt, ob’s zur Spargelzeit nicht vielleicht selbst gemachte Hollandaise statt dem Convenience-Tetrapack-Zeugs von Unilever Foodsolutions geben könne, fragt der Chefkoch eiskalt zurück, ob der Chef jetzt total spinne: selber so erlebt. Die meisten dieser Arsch-Köche haben ein massives Drogen-Problem – aber auch viele, ganz viele ‚liebe‘ Köche haben solche Probleme. Über den schnellen Joint vor der Küchentüre im Hinterhof sage ich ja gar nichts, der ist ja sowieso bald legal. Schlimm sind Alkohol und Koks. Mit dem Zeugs funktionieren die Leute noch, aber sind irgendwie unberechenbar. Ich war mal in einem Lokal, da verschwanden pro Woche drei Flaschen Sambuca in der Küche, nicht zum Kochen, der Chefkoch brauchte seine halbe Flasche Schnaps pro Schicht, sonst wurde er unausstehlich; der Chef wusste das, hat aber nichts gesagt, um seinen Chefkoch nicht zu verlieren. Verloren hat er ihn dann doch, Leberzirrhose mit 55, ging dann plötzlich ganz schnell. Kennen Sie das Coventry Pub in der Kurt-Schumacher-Straße hier in Frankfurt?“ Caro blickt verlegen, sehr verlegen. „Dort treffen sich die Leute aus der Gastro nach Dienstschluss, vom Chefconcierge bis zum Aushilfskellner, vom Fünf-Sterne-Schuppen bis zur Frittenbude, so ab Elf Uhr abends geht’s richtig los, gegen Fünf, Sechs Uhr morgens trudeln die letzten Gäste, die in den Clubs arbeiten, ein. Hier ist die Gastro-Szene unter sich, da wird gelästert, gejammert, abgekotzt, nach besseren Jobs gesucht. Und gedealt. Was da an kleinen Briefchen mit was weiß ich für Teufelszeug den Besitzer wechselt, geht auf keine Kuhhaut. Das ist der Drogen-Hotspot der Gastro-Szene. Da scheint es auch eine Art Gentleman-Agreement mit der Polizei zu geben, die Bullen und Staatsanwälte wissen wohl, dass sie sich in keinem Frankfurter Restaurant mehr blicken lassen können, wenn sie den Laden hochnehmen.“ „Ich weiß!“, sage ich wissend, und Caro möchte schier im Boden versinken. Das war meine Rache für ihren „blöden Blog“-Spruch.

Schwerer Tobac, sowas. Wie die Geschichte ausgegangen ist? Ganz anders, kein hochnotpeinlicher Prozess mit Kronzeugen, Winkeladvokatereien, gekauften Aussagen oder so. Caro hat den albanischen Gastro-Betreiber einfach mal von einer einschlägigen Wirtschafts-Detektei durchleuchten lassen, nichts Großes, das war einfach, mit minimalem Aufwand, wahrscheinlich auch mit minimalen Cash-out-Kosten, ich will ja nicht rassistisch sein, aber ich schätze mal, bei zig-Prozent aller albanischen Wirte in Deutschland lassen sich ohne viel Aufhebens gerichtsmassige Unregelmäßigkeiten nachweisen. Caro hat garantiert wieder so eine Barter-Geschichte abgezogen, eine Hand wäscht die andere und so, die niemals in irgendwelchen Büchern erscheint, der Wirtschaftsdetektiv hat nie eine umsatzsteuerpflichtige Leistung für Caro erbracht, und Caro wird niemals im Gegenzug eine umsatzsteuerpflichtige Leistung für diesen Wirtschaftsdetektiv erbringen, man hilft sich halt, wo man kann – und wo es angebracht ist … außerhalb der Bücher, auf „rein freundschaftlicher Basis“. Jede Anwältin braucht mal einen guten Detektiv, jeder Detektiv braucht mal eine gute Anwältin – warum das über die Bücher laufen lassen, wenn man sowas auch mit Handschlag regeln kann? Gegenüber dem Wirt selber ist Caro nie in Erscheinung getreten, sie weiß viel zu gut, wie schnell man Genussnießer einer spontanen kulturellen Bereicherung – alles nur lokale Einzelfälle, versteht sich! – werden kann, ein nächtliches Messer in der Niere, ein unfreiwilliges Bad im Main mit Betonschuhen, eine Überdosis bei einer Frau, die nie Drogen nehmen würde (außer Alc wohlgemerkt), … Der Wirtschaftsdetektiv hatte halt einfach gesagt, er sei beauftragt, im Namen der örtlichen Brauerei die Pächterschaft der Brauerei-Wirtschaften sauber zu halten, da habe er die eine oder andere offensichtliche Unregelmäßigkeit finden müssen, und dann dazu noch so ein anhängiger Meineid-Prozess mit dem Ami und dem Albaner als Kronzeugen, das sei nun mal einfach schlecht für die örtliche Brauerei, und wo nun mal sowieso schon Mängel ersichtlich seien, da seien weitere Anschuldigungen nicht weit, sprich: wer Steuern hinterzieht und sein Klo nicht putzt, der leistet auch schon mal einen Meineid. Milchmädchenrechnung, aber gar nicht mal von so weit hergeholt. Der Albaner muss dann sinngemäß entgegnet haben, er habe eine große Familie, und er könne nicht dafür geradestehen, ob nicht ein Groß-Neffe oder Ur-Enkel die Ehre der Familie reinwaschen wollen könnte. Der Wirtschaftsdetektiv muss den Albaner dann für seine vorzüglichen Familienbande gratuliert haben, er selber habe so etwas überhaupt nicht mehr – vulgo: niemanden zum Abmurxen –, aber dafür Freunde, vor allem Russen und Serben, die sich sehr für andererleute Familienbande interessierten, die würden auch schon mal spontan aus dem Ausland anreisen – und sofort wieder dorthin verschwinden –, um ihrem Interesse spontanen Ausdruck zu verleihen. Es lebe die kulturelle Bereicherung, der albanische Wirt hatte spontan begriffen, dass seine Art der kulturellen Bereicherung ihm und seiner Familie massiv auf die Füße fallen könnte, in Form einer weiteren kulturellen Bereicherung. Am nächsten Tag nach diesem „überaus freundlichen“ Gespräch war er bei seinem Anwalt, eine neue Sprachregelung festlegen, und dann bei der Polizei, um zu erklären, dass „sprachliche Barrieren“ die Kommunikation erschwert hätten, dass Caros Mandantin keinesfalls aktiv sexuell belästigt hätte, sondern passiv sexuell belästigt worden wäre, mit einem Male eine ganz andere Sprachregelung. Es ging noch nicht einmal aus wie das Hornberger-Schießen, sondern nochmals harmloser. Der Ami bekam – in Abwesenheit, er war nicht zu dem Prozess in Frankfurt angereist, selbst seine Bostoner Star-Kanzlei ließ sich durch einen deutschen Korrespondenz-Anwalt vertreten – eine lächerliche Geldstrafe und eine ungleich lächerlichere Wiedergutmachung aufgebrummt, die widerspruchslos akzeptiert wurde; die Amis zogen ihre Klage zurück, sie beriefen sich auf sprachliche und kulturelle „Indifferenzen“, allerdings wurde ihnen die Übernahme der Prozesskosten inklusive Silkes Anwältin aufgebrummt, auch das haben die Amis klaglos akzeptiert. Und Caro hat grinsend eine fulminante Rechnung geschrieben, für einen Prozess, in dem sie nie mit einem Pfennig gerechnet hatte.

Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Back to Top