Helvetia Zürich: die Mitarbeiter halten es distinktiv

Summa summarum: tolle Lage, tolle Location, karge Zimmer, nicht alles lässt sich mit dem Prädikat Boutique-Hotel entschuldigen, sehr gute Bars, sehr schöne Terrasse zum Sihl, seit Jahren langsam, aber kontinuierlich abnehmende Küchenleistung und dazu eines der besten und freundlichsten Service-Teams, das ich kenne.

Das Hotel Restaurant Bar Helvetia in Zürich, das sind eigentlich zwei Geschichten. Die eine Geschichte ist die von der „Helveti“, der legendären Bar in den siebziger und achtziger Jahren, als man in Zürich um Mitternacht noch bürgerlich-brav die Bürgersteige hochgeklappte, nur in der Helveti wurde Dank einer Sondergenehmigung der Stadt bis in den frühe Morgen Bier ausgeschenkt, und so diskutierten hier Bohème und Bourgeoisie alkoholschwanger über Zukunftskonzepte einer neuen Schweiz, über den freien Blick zum Mittelmeer und ganz gewiss über jede Menge anderen Schmarrn, und dann kam der Mythos „Züri brännt“. In den achtziger Jahren zog die Helveti ein paar hundert Meter weiter in sein heutiges Domizil am Stauffacherquai 1, die Bar wurde nobler, Marmor hielt Einzug, dazu im ersten Stock ein viel beachtetes und sehr gutes Restaurant, in dem Françoise Wicki, der Tramp unter den Schweizer Köchinnen, rasch 14 Gault Milau Punkte erkochte, die Diego von Büren als Küchenchef bis heute hält, womit auch immer. Die ehemalige Bohème etablierte sich und wurde bourgeoise, was nachkam an jungen Leuten waren Junior-Banker und -Berater mit 100.000 CHF Jahresgehalt noch vor dem dreißigsten Lebensjahr, dergestalt etabliert und gepampert zündelt man nicht mehr, sondern löscht, wo notwendig, um den steten Pampers-Nachschub nicht zu gefährden, und wenn man den freien Blick auf’s Mittelmeer wünscht, setzt man sich in seinen über-motorisierten Dienstwagen und rauscht über die Alpen. So wurde aus der einst semi-revolutionären Helveti unvermeidlich das „Wohnzimmer Zürichs“, beschaulich und angepasst am Sihl zwischen Spielbank und staatstragender Tamedia gelegen, es riecht förmlich nach biedermeierlicher Beschaulichkeit. Und genau da beginnt die andere Geschichte des Helvetia, als 2008 der Architekt Leopold Walter Weinberg und der Wirtschaftsjurist und Investmentbanker Adrian Hagenbach das Haus übernahmen, die „konzeptgetriebenen Immobilienentwickler“ (wie sie sich selber nennen) modernisierten Bar, Restaurant und natürlich Küche, quartierten die Studenten, die in den Stockwerken darüber preiswerte Studentenbuden hatten, kurzerhand aus (und tschüss, Bohème) und installierte statt dessen kleine, aber nette Hotelzimmerchen, die karge Ausstattung machte man mit dem Attribut „Boutique Hotel“ wett, auf dem Dach entstand der legendäre Dachgarten, Ort rauschender Feste mit Blick über Zürich (und Horror jedes Mieters des Business-Appartements darunter). Dennoch war es heimelig im Helvetia, neben der Bar die winzige Rezeption, wo man beim Tresenpersonal nebenher bei einem Bier einchecken konnte und dann nach hinten in den Hausflur zu dem alten, knarzigen Lift ging. 2014 wurde das denkmalgeschützte Nebengebäude des Helvetia langfristig von der Stadt Zürich gepachtet, wiederum entmietet, vollständig saniert und 16 weitere Hotelzimmerchen eingebaut, dazu eine Freiluftbar am Sihl – „Poolbar“ geheißen, nur ohne Pool, aber mit rollbarer, bepflanzter Badewanne -, zwei Tagungszimmerchen und eine Rezeption – Lobby wäre zu viel gesagt – mit zeitgenössischen Kunstwerken, kuratiert vom Galeristen Stefan von Bartha, von wegen „Kunst als natürlichen Bestandteil des Lebens zu etablieren“ und so. Wenn man heute im wirtschaftlichen Umfeld des Helvetia recherchiert, so entdeckt man nicht viel in der diskreten Schweiz, auf der Homepage fehlt gleich jegliche rechtliche Firmierung. Stattdessen findet man neben den Namen Leopold Walter Weinberg (inzwischen Prof. Dr.) und Adrian Hagenbach ein Geflecht von Jugendstil AG, („Die Gesellschaft bezweckt die Verwaltung und den Betrieb von Gastronomieunternehmen und Beherbergungsunternehmen.“), WAC Advisory GmbH („Wir stellen die Liegenschaft mit ihrer Geschichte, Architektur und Lage in den Mittelpunkt unserer Betrachtung und versuchen auf den Standort abgestimmte Nutzungskonzepte (Inhalte) zu entwickeln und gegebenenfalls zu betreiben.“), Turbinen Event GmbH („Die Gesellschaft bezweckt die Planung und Durchführung von kulturellen Veranstaltungen sowie die Verwaltung und den Betrieb von Gastronomie- und Beherbergungsunternehmen.“), sodann Volkshaus Basel (mehrgängige Menues für bis zu 1.300 Personen), George (ein Restaurant-Concept im Penthaus der Zürcher Spielbank), Restaurant Münsterhof (in bester Zürcher Innenstadtlage), Helvti Diner, usw. usf. Das riecht alles nicht nach Bohème, sondern nur noch ganz profan nach Bourgeoisie, ihrem diskreten Charme und ihrem Geld. Aber eine Marke – zumal eine Marke wie das Helvetia mit einem Asset wie dem Gebäude am Stauffacherquai – kann viel, aber eben nicht alles ab.

Karg waren die Zimmer im Helvetia schon immer, aber für drei Sterne in fast bester Zürcher Innenstadtlage zu dem Preis schon ok. Die neu hinzugekommenen Zimmer im Nachbarhaus haben gute Isolier-Verglasung (das braucht’s bei dem Krach in der Innenstadt), eine gute Klimaanlage mit einer kryptischen Scheiß-Bedienung („Legen passwort“ verlangt das Display von mir, wer hat das wohl übersetzt?), gute Matratzen, gute Bettwäsche, und das war’s dann auch. In einem Zimmer der (zweit-teuersten) Kategorie „Large“ gibt es nur einen einzigen nachgemachten, wackligen Thonet-Stuhl und einen gestrickten unförmigen braunen Sitzhaufen, der Schreibtisch ist so winzig, dass Laptop und Ordner nicht gleichzeitig drauf passen, das Lichtdesign der Funzeldeckenleuchte muss von einem Maulwurf stammen, im Bad gibt es keine einzige Ablagefläche für den Kulturbeutel oder auch nur ein Zahnbürste, es gibt zwar einen Flachbildfernseher, aber auf dem ist kein einziges Radioprogramm zu empfangen (von solchen üblichen Annehmlichkeiten wie Docking Station und Lautsprechern ganz zu schweigen), das möchte-gern-retro Telephon mit funktionsloser Wahlscheibe und Knöpfen ist einfach nur albern, da wäre ein Safe oder gescheite Leselampen am Bett oder zwei Kofferbänkchen im Doppelzimmer oder ein Ganzkörperspiegel schon gescheiter. „Der Einrichtungsmix vereint die luftige Geometrie im Stile eines Camille Graeser mit bourgeoiser Strenge und führt so die Tradition des Hotels in Interaktion mit der Kunst fort“. schreibt die Schweizer Hotelrevue etwas schwülstig, aber man kann nicht jede Knausrigkeit als Design oder Boutique verkaufen.

Dennoch – bevor Caro mich wieder schimpft, dass ich immer nur grantele – ist das Helvetia nach wie vor liebenswert. Und das liegt auch nicht an besagter Küche besagten Diego von Bürens. Viel von der Handschrift von Françoise Wicki ist dieser Tage noch da, allen voran der (in Zürich legendäre) „Hackbraten Helvetia mit Kartoffelstock, Pilzen, Speck und Kalbsjus“, der heute jedoch mit kulinarischem Mainstream-Allerwelts-Zeugs wie „Gebackene Falafel auf geräucherter Auberginencrème mit Sesam Mayonnaise und Feta“ die Speisekarte teilen muss. Sollte ich persönlich die Küche des Herrn von Büren einordnen, so wären das irgendwas zwischen 9 Gault Millau Punkten (Bierschwämme mit lokaler Tradition) und max. 11 Punkten (ambitionierter Dorf-Wirt), aber niemals 14 Punkte, was oft die Vorstufe zum ersten Stern darstellt. Die kleine pürierte Bohnensuppe zum Lunch ist tadellos, ausgesprochen wohlschmeckend, nur für 35 Grad im Schatten viel zu sahnig, das Brot dazu exzeptionell (Chapeau für die Wahl des Bäckers). Danach die Onsen-Eier sind zu wenig gegart, das Eiweiß ist auch nicht ansatzweise gestockt, sondern nur weißer Glibber; der Sahne-Spinat ist offenbar keine TK-Ware, gut geputzt, gut gegart, gut gewürzt, nicht zerkocht, nur für 35 Grad im Schatten viel zu sahnig. Und der Kartoffelstock dazu ist bester Helvetia-Standard, nur für 35 Grad im Schatten viel zu sahnig. Am späten Nachmittag mixt uns Sandro Lötscher, Barchef an der Poolbar, ein paar Cocktails, obwohl wir am anderen Ende der beiden Häuser auf der Sihl-Terrasse des Restaurants sitzen. Mixen, das kann er, der Sandro, er weiß, was gewaschenes Eis ist und er macht mich mit dem Turicum Gin aus Zürich bekannt, beides sehr löblich. Und ein „Geht nicht, da müssen Sie in die Bar gehen!“ gibt es im Helvetia nicht, wenn der Gast einen Martini Cocktail mit gewaschenem Eis verlangt, dann rennt die Bedienung quer durch beide Häuser, und kriegt das mit den unterschiedlichen Rechnungen auch irgendwie hin. Danach essen wir frisch gecuttertes Tatar aus bestem Schweizer Rinderfilet, nach Wunsch sanft oder scharf gewürzt, dazu wieder das leckere Brot oder hausgemachte Pommes (frittiert ohne die verfluchte Verordnung (EU) 2017/2158 der Kommission vom 20. November 2017 zur Festlegung von Minimierungsmaßnahmen und Richtwerten für die Senkung des Acrylamidgehalts in Lebensmitteln – vulgo Lex Pommes), alles kein Sterne-Hexenwerk, aber sehr, sehr gut. Die Scheiben vom gebeizten Bündner Lachs mit Ginger Ale-Soja Sud, Gurke und Koriander sind gewöhnungsbedürftig: der Lachs jedenfalls ist von sehr guter Qualität, aber eine Mischung aus süßem Ginge Ale und salzig-unamischer Soja-Sauce, das stellt gewisse Anforderungen an die Geschmacksknospen. Ebenso gewöhnungsbedürftig die Fregola mit Ricotta, Salbei und Zucchini. Fregola sind eine Pastaspezialität aus Sardinien, die man hierzulande kaum kennt. Die kleinen Pastakügelchen – ähnlich den israelischen Ptitim oder den marokkanischen Berkoukes – werden aus Grießmehl hergestellt, und sie werden nicht getrocknet, sondern gebacken. Die Nudeln kommen eher breiig-schwer daher, Ricotta und Gemüse machen den Teller geschmackvoller-leichter, wobei der Komparativ zu beachten ist. Das Zürcher Geschnetzelte – bis heute kann man wie selbstverständlich im Helvetia wählen, ob mit oder ohne Nieren; das Original Zürcher Geschnetzelte ist mit Nieren – ist heute in Schatten seiner selbst, große Brocken harten Fleisches, ich beiße auf eine Sehne, dünnes Sößchen, die mäßigen Rösti dazu in ovaler Form – ich habe noch nie ovale Rösti gesehen – lassen einen schlimmen, einen sehr schlimmen Verdacht aufkommen. Das Kalbsschnitzel schließlich vollkommen inakzeptabel, wieder hartes, wässriges Fleisch, bei viel zu geringer Temperatur in die Pfanne gegeben, so dass die Panade fettgetränkt ist. Das Eis zum Nachtisch mit vier frischen Himbeeren macht dieses kulinarische Trauerspiel dann auch nicht mehr wett.

Spartanisch eingerichtete Zimmer, in denen es an Vielem – nicht an Allem, so doch an Vielem – fehlt, Mainstream-infizierte Speisekarte, mäßige Küchenleistung … und trotzdem ist das Helvetia noch immer liebenswert. Und das machen allein die Menschen: ich habe nur selten ein so durch die Bank weg engagiertes, kompetentes, freundliches, fröhliches, hilfsbereites Team in einem Hotel erlebt wie im Helvetia, Chapeau!


Hotel Restaurant Bar Helvetia
Direktor: Daniel Zelger
Stauffacherquai 1
CH-8004 Zürich
Tel.: +41 (44) 2 97 99 99
Mail: info@hotel-helvetia.ch
Online: https://hotel-helvetia.ch

DZ 149 bis 319 CHF (reguläres Frühstück im Restaurant derzeit nicht möglich, statt dessen kostenloses sehr kleines Frühstück im Hotel selber)

Hauptgerichte von 30 CHF (Gebackene Falafel, Auberginencreme, Feta) bis 46 CHF (Kalbsschnitzel, Kartoffel-Gurken-Salat), Drei-Gänge-Menue von 49 CHF bis 87 CHF

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