Die Trüffelschweine der Gourmands (oder warum Gourmands die Feinschmecker brauchen – und anders herum)

Die Menschen aller Kulturen kann man beim Essen in drei Gruppen unterteilen.

Da sind zum ersten die Menschen, für die Nahrungsaufnahme reine Nothdurft ist, ebenso wie atmen oder der Stuhlgang. Sie finden keinerlei Interesse an Geschmack oder Esskultur und suchen die bloße, möglich effiziente und effektive Sättigung. Sofern nicht essentieller Mangel Grund für dieses Verhalten ist, haben sie sich kulturell damit nicht vom Fressen der Tiere abgehoben.

Für einen Großteil der Menschheit hingegen ist Essen wesentlicher Bestandteil ihrer Kultur. Der Erwerb, die Zubereitung und der Verzehr der Nahrung folgt gewissen Regeln, die sich im Laufe der Jahrtausende aus hygienischen, ernährungsphysiologischen, gesundheitlichen, kommunikativen, aber auch Gründen des Umwelt- und Artenschutzes, des Harmoniebedürfnisses und der Achtung der Kreatur u.a. langsam entwickelt haben. Der Umgang mit Nahrung erfolgt immer sehr bewusst und ist – hoffentlich – einer gewissen metaphysischen Dankbarkeit verbunden. Der Sinn für Geschmack und meist auch für Ästhetik ist ordentlich ausgeprägt, so daß gutes Essen automatisch immer auch Quelle des intensiven Genusses ist. (Bei schlechtem Essen jedoch wird er nicht leiden, sondern so lange es geht besser auf das Schlechte verzichten und statt dessen lieber hungern oder auf relativ neutrale Lebensmittel wie Brot und Wasser zurückgreifen.) Diese Klasse von Menschen wird spätesten seit Brillat-Savarin als Gourmands bezeichnet, was keinesfalls gleichzusetzen ist mit Vielfraß.

Zum dritten gibt es schließlich die Klasse der sogenannten Feinschmecker, oder – wie man neudeutsch zu sagen pflegt – der Gourmets. Der Feinschmecker hat das Essen als solches zur Kunst erhoben. Essen wird ihm jenseits der bloßen Sättigung des Überlebenstriebes zum Selbstzweck. Die Freude am Essen teilt der Feinschmecker mit dem Gourmand. Auch der Geschmackssinn ist beim Gourmand sehr gut ausgebildet, beim Feinschmecker vielleicht noch etwas feiner und nuancierter. Und selbst wenn der Feinschmecker bretonische Belon nicht sicher an ihrem Nussgeschmack von der etwas fettigen Sylter Royal unterscheiden kann (ich spreche von Austern), so wird er die Belon doch zumindest an ihrer flachen Form erkennen – oder er wird heimlich in die Speisekarte geschaut haben und so tun, als erkenne er sie blind. Ein wahrer Feinschmecker wird (fast) niemals ein Völler sein, aber auch ein wahrer Gourmand isst zwar gut und viel, aber keinesfalls übermäßig. Typisches Kennzeichen für den Feinschmecker ist vielmehr die Tatsache, dass er das Essen in den Stand eines eigenständigen – wenn auch transitorischen – Kunstwerks erhoben hat. Neben der tadellosen Qualität der Rohstoffe und ihrer Zubereitung fordert er oft auch ungewöhnliche Rohstoffe und Zubereitungsarten, um den Grad der Exklusivität und Künstlichkeit zu erhöhen, obwohl sie zuweilen dem Artenschutz, der Umwelt oder sogar seiner eigenen Gesundheit (Kugelfische oder Fettammern zum Beispiel) abträglich sind. Neben den eigentlichen Akt des Essens treten neue, außerkulinarische Elemente hinzu wie Ambiente, Tafeldekoration (ich werde nie verstehen, wozu Messerbänkchen gut sein sollen – sofern das Tischtuch ordentlich sauber ist –, außer noch mehr Silber auf die Tafel zu bringen), Speisevorschriften (spreizt man ihn nun ab, den kleinen Finger, und wenn ja, warum nicht?), „Food-Design“, Sitten, Tischwäsche, Konversation, Unterhaltung, Zusammenstellung der Gästeliste, Service: alles wird weit über das Maß hinaus gesteigert, als es eigentlich für das reine Essen notwendig wäre. Dabei ist der Feinschmecker in der Regel sehr geschmack- und kunstvoll, aber eben auch künstlich. Vielfach sind Ambiente und Zeremoniell so aufgeblasen, opulent und wichtig geworden, daß der eigentliche Anlass – das Essen – dahinter zurücktritt, verblasst oder vergessen wird. Zu recht spricht Eugen Droste in seinem Essay über Speisefolgen und Speisekarten von „einer Gastronomie, in der eine hochgezüchtete Mischung aus Ästhetik und Ritual perfektioniert wird, die weniger eine Kunst der Verfeinerung als vielmehr die Verfeinerung der Künstlichkeit demonstriert.“ Jeder Gourmand und auch jeder Feinschmecker wird schon des Öfteren in Restaurants oder auf Festen gewesen sein, wo mit unglaublichem Aufwand, viel Bühnenzauber, Silber, Damast, Porzellan und edlem Kristallglas ein kulinarisches Nichts, eine Katastrophe, eine Beleidigung des guten Geschmacks aufgetischt wurde.

Dies führt unmittelbar zu dem einzigen Sonderfall (die unvermeidliche Ausnahme von der Regel) in dieser kulinarischen Dreiteilung der Menschheit, nämlich zur Kaste der Scheinschmecker. Dazu zähle ich vornehmlich Zuhälter, bestechliche Beamte, Mafiosi, Neureiche, Gernegroße, viele Berater, Geschäftsleute und ähnliches suspektes Gesindel. Diese Menschen verstehen von Spitzengastronomie soviel wie eine Kuh vom Stepptanz. Kunstvoller Geschmack und Genuss sind ihnen relativ egal, sie suchen vielmehr das Sozialprestige, das mit der Spitzengastronomie im Allgemeinen und mit dem Ruf, ein Feinschmecker zu sein, verbunden ist. Es gibt nichts Schlimmeres als einen Essdilettanten in einem schönen Restaurant zu sehen, der von nichts eine Ahnung hat, aber nicht lernen will, sondern der glaubt, ihm gehöre, wenn schon nicht die Welt, so doch zumindest dieses Restaurant und sich daher entsprechend aufführt. Dabei fühlen sich diese Scheinschmecker in der Regel noch nicht einmal richtig wohl in ihrer Haut. Nach einem Geschäftsabschluss lädt man den Partner natürlich in ein Spitzenrestaurant ein, schon um zeigen, wieviel einem an dem Geschäft(spartner) liegt. Wie oft habe ich nach solchen Essen die Lästermäuler gehört, die über das „Nobelfresschen mit seinen Kinkerlitzchen“ klagten (obwohl sie das Restaurant selber ausgesucht hatten) und die sich nach nichts mehr sehnten als nach einem „ordentlichen Teller Bratkartoffeln“. (Ob dem eingeladenen Geschäftspartner ebenfalls Bratkartoffeln lieber gewesen wären?) Diese Scheinschmecker können weder die Qualität der vorgesetzten Speisen noch das gesamte Drumherum in der Regel weder würdigen noch genießen, geschweige denn kritisieren. Sie orientieren sich allein an Michelin-Sternen, Gault-Millau-Punkten, Varta-Hauben, den „angesagten Trendschuppen“ und natürlich – ein immer unfehlbares Indiz – den Preisen (je höher je besser). Diese Scheinschmecker sind verantwortlich dafür, daß zahlreiche kulinarische Verbrecher sich bis heute am Herd halten können. Ich glaube, 80 bis 90% der Gäste unserer Toprestaurants sind solche Scheinschmecker. In Wirklichkeit – und hier wird die Dreiteilung auch wieder stringent – sind sie rustikale Gourmands, die deftige Hausmannskost schätzen oder sie interessieren sich gar nicht für ihr Essen.

 

Seltsamer Weise besteht zwischen Gourmands und Feinschmeckern seit Jahrzehnten eine innige Feindschaft. Da werden in regelmäßiger Folge lieb gewordene Klischees in immer neuen Abwandlungen öffentlich wie persönlich ausgetauscht. Der Ausdruck „gut bürgerlich“ ist mittlerweile mindestens ebenso diskreditiert wie „nouvelle cuisine“ oder die zum Glück wieder verdampfte „Molekularküche“. Dumpfe Bierseeligkeit bei fetten Haxen mit verkochtem Sauerkraut schreien die einen, Tellerikebana an Dialog von drei (!) Gemüsen auf Wassersaucenspiegel, giften die anderen zurück.

Dabei sind beide voneinander abhängig, der Gourmand braucht den Feinschmecker ebenso dringen wie der Feinschmecker den Gourmand. Eine möglichst große Gruppe innerhalb eines Volkes, die gut, gerne und bewusst isst, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, daß sich eine gute Versorgungsbasis bildet; Erzeuger, Qualitätskontrollen, Logistik- und Distributionsnetze, Umsatz ausreichender Mengen, damit Erzeugung und Handel lukrativ werden, erste Schulung von Geschmacksnerven und Esskultur bei vielen Kindern, öffentliche Akzeptanz des Essens als Kulturgut und Genussmittel: all das erfordert eine Große Menge an Gourmands innerhalb eines Volkes. Und erst wenn die Gourmands diese kulinarische Infrastruktur mit ihrer Arbeit und mit ihren Bäuchen aufgebaut haben, dann erst kann der Feinschmecker kommen und auf Basis dieser Infrastruktur seine Verfeinerungen beginnen. Doch dafür leistet der Feinschmecker im Gegenzug auch wesentliches für den Gourmand. In einer Jahrtausende alten Esskultur waren die Feinschmecker allzeit die menschlichen Versuchskaninchen, die Trüffelschweine der Esskultur (abgesehen natürlich von Notzeiten, wo die Armen gezwungen waren, die Essbarkeit aller möglichen Dinge auszuprobieren).  Seit Jahrtausenden essen die Feinschmecker tapfer alles, was an fremden Ecken der Welt neu gefunden wird, probieren neue Garmethoden, testen Gewürze auf ihre Kombinierbarkeit, bewerten neu erfundene Gerichte und so weiter und so fort. 95% all dieser temporären Neuerungen verschwinden bald wieder im Abort der Geschichte. 5% jedoch bereichern dann, getestet und für gut befunden, die Speisezettel der Gourmands. Dazu zählen Tee, Kaffee oder Schokolade ebenso wie die Kartoffel, Ananas, erträgliche Würzungen, Garstufen des Fleisches oder auch – ob man’s glaubt oder nicht – Liebigs Fleischextrakt. Die vollständige Liste wäre sehr, sehr lang. Das ist der Dienst des Feinschmeckers für den Gourmand.

Dabei ist es keinesfalls einfach, wirklicher Feinschmecker zu sein. Wer glaubt, der Feinschmecker könne sich auf sensorisches Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen stützen, wer meint, er müsse dies nur lange genug schulen und ausbilden, wer gar denkt, der Feinschmecker könne seinen gesunden Menschenverstand zum feinschmecken gebrauchen, der liegt gänzlich falsch. Dass die Feinschmeckerei (sowohl beim Zubereiten als auch beim Essen der Speisen) eine Kunst ist, ist gänzlich unbestritten. Woher, so muss man an dieser Stelle aber Fragen, nimmt die Feinschmeckerei ihre Normen und Werte, um zu Urteilen zu kommen. Die Antwort lautet ganz einfach und naheliegend: Die Feinschmeckerei ist eine normative Kunst. Ihre Normen sind historisch und kulturell relativ. Ein Drei-Sterne-Menue der fünfziger Jahre fände heute maximal noch das Prädikat gut bürgerlich. Ein mittelalterlicher Festschmaus mit seinen spezifischen Kombinationen von Zutaten und Würzungen mundete heute weniger. Und Forschungs- wie Handelsreisende sind des Öfteren gezwungen, all ihr kulturelles Erbe bei Festessen zu ihren Ehren zu vergessen, um nicht Eklats und Konflikte heraufzubeschwören. Die Normen der kulinarischen Kunst stehen also in einem kontinuierlichen Wandel.

Interessant ist in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, wer diese Normen denn aufstellt? Die Alchemie kennt das Bild der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt als Symbol des sich selbst wieder Gebärenden, des Anfangs- und Endlosen. Ähnlich verhält es sich bei Koch- und Esslust. Eine amorphe, nie genau fassbare Gruppe aus Herrschenden, Reichen, Schönen, Köchen, Zeremonienmeistern (heute heißen sie Gastronomen), Literaten und solchen, die sich dafür halten, Journalisten, Gastrokritikern, Food-Bloggern und zuweilen sogar ein paar Essern schaffen ein Meinungsklima, das in Büchern, Artikeln, wenigen Fachzeitschriften, vielen Blogs, vor allem aber auf Partys, bei Empfängen, im Gespräch und nicht zuletzt über die Abstimmung mit den Füßen (manche Restaurants sind brechend voll, andere gähnend leer) weitergetragen und dabei ständig weiter entwickelt wird. Nachdem wir das Verschwinden der Schildkrötensuppe von den Speisekarten miterleben konnten, sahen wir die Wiederkehr alter, als ordinär geltender Gemüse. Wir sehen den Bankrott veganer Langeweile und die fast schamhafte Hinwendung zu Deftigerem. All dies findet langsam statt, aber es findet statt, es gibt – außer dem Michelin natürlich – keine Bibel, keinen unfehlbaren Papst und kein wirkliches Regelwerk. Es gibt ausschließlich Moden die kommen und gehen. Im Nachhinein kann man sie immer trefflich beschreiben, aktuell ist alles – das ist das Wesen dieser Dinge – in statu nascendi.

So gesehen ist jeder Spitzenkoch eine Modeerscheinung. Köche, die über Jahre hinweg mit drei Sternchen kochen, kochen keineswegs zeitlos klassisch, wie Altvater Schiller die Antike verstand. Sie verstehen es vielmehr, rechtzeitig in diese amorphe Masse hineinzuhören und sich ihren Strömungen anzupassen und damit natürlich auch wieder – ein endloses Wechselspiel – diese amorphe Masse und ihre Moden mit zu beeinflussen.  Was an diesen Moden bestand hat, findet irgendwann Eingang in die breitere Gourmand-Küche und wird damit vom rein temporären, künstlichen Kunstprodukt zum integralen Bestandteil einer lebendigen Kultur, der des Essens nämlich. Nicht der Feinschmecker adelt das Teltower Rübchen, indem er es in sein schnelllebiges elfenbeinernes Pantheon aufnimmt, sondern vielmehr der Gourmand gibt ihm die Weihen, indem er es (wieder) zum Kulturgut macht; das Verdienst der (Wieder-)Entdeckung jedoch, das gebührt dem Feinschmecker.

Abschließend noch einige Bemerkungen zur Physiognomie der verschiedenen Gruppen von Essern. Sieht jemand im Essen allein die pure Befriedigung der Nothdurft, so sollte er jedem Menschen von Kultur immer verdächtig sein. Diese Leute stecken entweder als geniale Herrscher (was sie trotzt dieses Makels durchaus sein können) ganze Kontinente in Brand (Caesar, Napoleon oder Hitler, der zu allem Überfluss auch noch Vegetarier war) oder sie suchen ihr existentielles Lustdefizit anderweitig auszugleichen, sei es bei kleinen Mädchen, im Trunke, in religiösen Heilsleeren, blinder Arbeitswut oder anderen tadelnswerten Dingen. Ich kann mir keinen guten Menschen vorstellen, der nicht – zumindest manchmal – auch aus vollen Zügen sinnlich genießen kann. Und wer ein wirklich gutes Schnitzel goutiert, der braucht keinen kleinen Mädchen Gewalt anzutun und keine Völker zu unterjochen, auch des übermäßigen Trunkes bedarf er nicht zwingend. Der Feinschmecker hingegen zeichnet sich aus durch eine Verfeinerung der Nerven, durch eine ständige Affektiertheit der Sinne und durch eine gewisse Künstlichkeit und Gekünsteltheit der Manieren, die allesamt bei Künstlern üblich sind. Es waren Diderot und Artaud, die beide – unabhängig voneinander – bemerkten, dass alles, was feiner würde, zugleich auch schwächer würde, die wahre Kraft fände sich allein im Ursprünglichen. Eine übermäßige Verfeinerung der Sinne hat in gewissem Maße immer auch ihre Denaturierung zur Folge. Der echte Feinschmecker ist ein filigranes Kunstprodukt, der in Kriegen und Notzeiten jämmerlich zu sterben versteht, den ein altes Eigelb in der Mayonnaise leicht dahinrafft, der aber vielleicht tatsächlich die Unterschiede zwischen der Bretonischen und der Sylter (ich spreche wiederum von den Austern) blind erschmecken kann.

Die wahre Glückseligkeit findet sich hingegen – wir erinnern uns an die Lessing’sche Interpretation der Aristotelischen Katharsis – in der Mitte zwischen zwei Extremen. Zwischen Feinschmeckerei und nothdurftstillendem Stumpfsinn gibt es weitaus mehr als verkochtes Sauerkraut und fettes Fleisch. Ein Hummer, gegessen dort, wo er zuhause ist – etwa in Crozon – und von einem vertrauten Koch mit althergebrachter Kennerschaft perfekt gekocht oder gegrillt, hat nichts mit Feinschmeckerei in dem hier vertretenen Sinne zu tun, er ist schlichtweg delikat; der selbe Hummer, tausend Kilometer vom Meer entfernt, eine abenteuerliche und halsbrecherische und affig teuere Reise hinter sich, zubereitet von einem Koch, dem Hummer so fremd sind wie Erdbeeren dem Winter, der verwandelt sich mit einem Male in ein Kunstprodukt, denn es bedarf sehr viel Kunst (und Kapital), ihn nun zuzubereiten. Dem Gourmand steht die ganze Welt der sinnlichen Genüsse offen, er erkennt und schätzt Qualität, Sattheit ist ihm kein Laster, sondern eine süße Lust (ohne in Völlerei zu verfallen), und doch ist er weit davon entfernt, sich atemlos als modegetriebenes Versuchskaninchen für allerlei schicke Neuerungen herzugeben; dies überlässt der Gourmand doch schlauerweise lieber denjenigen, die ihre Affekte und Neurosen und Komplexe darin ausleben und kompensieren müssen.

Auf einer Fahrt in den Schwarzwald (ich gebe ja zu, zu jenem sagenumwobenen Dorfe, wo Gourmands heute maximal mitleidig belächelt werden) machte ich im Badischen, direkt an einer Bundesstraße in einem Kleinstädtchen Rast. Das Wirtshaus mit Metzgerei und Kastanie verhieß bodenständige Kost. Als wir eintraten, war ein großer Tisch besetzt von einem älteren und vielleicht einem halben Dutzend jüngerer Männer, alle in Arbeitskleidung. Auf dem bloßen Holztisch – ohne Tischtuch – standen eine Terrine mit Maultaschen in der Brühe, sowie mehrere Schüsseln Gulasch, Spätzle und Salat, aus denen sich alle nach belieben bedienten. Ebenso wie die Maultaschen waren die Spätzle handgemacht, sogar vom Brett geschabt, nicht aus der Presse oder vom Hobel. Das Gulaschfleisch war so fein geschnitten, daß selbst der pingeligste Esser (wozu ich gehöre) kein Gramm Fett oder Sehnen wegschneiden musste; das Fleisch selber war in einer zwar grobschlächtig gewürzten, aber sehr gehaltvollen, sämigen, dunkelbraunen Sauce butterweich geschmort und harmonierte perfekt mit den Spätzle. Der Salat war, für Süddeutschland üblich, labberig, in Essig ertränkt und weitgehend belanglos, allerdings schmeckte der Kopfsalat – oh welch ein Wunder – nach Kopfsalat, was daran lag, daß er nicht aus dem Gewächshaus, sondern aus dem eigenen Garten kam, wie sich auf Nachfragen herausstellte. Die Tischrunde, so wurde erklärt, bestehe aus einem ortsansässigen Handwerker und seinen Angestellten, die jeden Mittag zum essen kämen und jeweils gemeinsam ein Menue verzehrten: ein klassischer table d’hôte im Deutschland des dritten Jahrtausends. Ich orderte unbesehen das gleiche wie die Tafelrunde und war entzückt, wenngleich der Preis noch nicht einmal wirklich gering war, allerdings jedoch relativ gering, wie ich bald darauf in jenem sagenumwobenen Dorfe im Schwarzwald wiederholt schmerzlich feststellen musste. Das war Gourmandise (vielleicht am unteren Ende der Skala), wie Brillat-Savarin sie auch verstand. Das wahre Glück des Essers, des wahren Essers, des Gourmands, schert sich nicht um drei Sterne und 19,5 Punkte, um Moden und um Versuchskarnickel. Das wahre Glück liegt im Ein-Sterne-Bereich, so um die 15 Punkte, manchmal schon bei 13 (kaum bei zwölf, das ist schon eine ernstzunehmende Warnung des Gault-Millau). Ederer in den Achtzigern in München, seit gefühlten Ewigkeiten die Bauernstube in Tonbach, alles, was Vincent Klink anfasst, ein Dutzend Beiseln in Wien, dort wohnt die kulinarische Glückseligkeit. Den autonomen künstlerischen Akt im transitorischen Bereich, den sollte man besser den feinnervigeren Künstlern überlassen, sie vielleicht als Spinner belächeln, aber tolerieren, fungieren sie doch als ständige menschliche Trüffelschweine, neue kulinarische Welten zu entdecken, dabei das Genießbare vom Ungenießbaren im unerschrockenen Selbstversuch voneinander zu scheiden, diesen Dienst noch mit ihrem Gelde und manchmal sogar mit ihrer Gesundheit bezahlend; und was die Feinschmecker überleben und auch nach Jahren nicht aus ihrem Moderepertoire fallen lassen, das mag man getrost – geprüft, für gut und für ungefährlich befunden – in die Küche des richtigen Lebens übernehmen.

Vor lauter Freude allerdings, daß wir in letzter Zeit anscheinend immer mehr Feinschmecker hervorbringen, daß höherpreisige (nicht unbedingt höchstpreisige) Restaurants boomen, daß sich langsam eine wahrnehmbar „culinaric community“ bildet, sollten wir die zweite prägende Zeiterscheinung nicht übersehen. Nur relativ wenige Gourmands werden zu echten Feinschmeckern. Weitaus mehr „niedere Gourmands“ degenerieren immer häufiger zu puren Nothdurft-Befriedigern. Immer mehr Kinder bekommen noch nicht einmal die Möglichkeit, richtige Küche auch nur ansatzweise kennenzulernen. Auf einen „bekehrten“ neuen Feinschmecker kommen 20, 50, vielleicht 100 „degenerierte“ Gourmands. Die kulinarische Mitte bricht langsam, aber stetig weg. Eingangs wurde gesagt, dass aber genau diese kulinarische Mitte die rein materiellen und auch klimatischen Voraussetzungen für das Entstehen einer Feinschmeckerkultur schafft. Stattdessen gewinnt die weltweit genormte Diktatur von Nestlé, McDonalds und Tuborg immer mehr an Boden. Existentiell geht es mittelfristig nicht darum, ein paar tausend neue Feinschmecker heranzuziehen; es geht vielmehr darum, den Fortbestand des kulinarischen Mittelstandes zu sichern. Steuerentlastungen für regionale, artgerechte Produzenten und vor allem für einheimische Gastronomie auf der einen, gezielte Steuerqualen für konfektionierte Fooddesigner auf der anderen Seite könnten hier mehr als hilfreich sein.

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