Das Pupp und ich oder wie meine Urgroßtante ihre Ehre verlor und mein Urgroßvater ein Kind gewann. (3/8)

Nicht nur mein Taufpate arbeite im Pupp, vor ihm, am Ende des vorletzten Jahrhunderts, schaffte dort bereits eine andere Verwandte, eine Nichte meines Urgroßvaters (und das müsste, wenn ich die Genealogie richtig verstehe, meine Urgroßtante gewesen sein), nicht etwa sprachbegabt als Kellnerin, sondern ganz banal und bodenständig als Zimmermädchen.  Ich weiß noch nicht einmal, wie sie hieß, in der Familie wurde nicht viel über sie gesprochen, und wenn über sie gesprochen wurde, dann sprach man nur von der „Mutter von der Elsa“, ihr eigener Name fiel meines Wissens niemals. Ein junges, hübsches, scheues, gottestfürchtiges Ding, das nach ein paar Jahren Volksschule beim Pfarrer auf dem Dorfe nach Karlsbad in’s Pupp gegeben wurde, einerseits, damit ein Esser weniger auf dem elterlichen Hofe war, andererseits, damit sie sich dort selber einige Jahre lang ihre Aussteuer verdienen möge, bevor sie nach Neudorf zurückkehrte und einen Bauernburschen, am besten natürlich einen Bauerssohn denn einen Knecht, ehelichte. Aber es kam ganz anders. Dieses junge, hübsche, scheue, gottestfürchtige Ding muss einem Gast des Pupp, einem Reichsdeutschen, mehr weiß ich auch nicht von ihm, bei dem sie das Zimmer machte, ausgesprochen gut gefallen haben, und er begehrte den Beischlaf mit ihr. Ironie der Geschichte: so, wie die Sudetendeutschen auf die Tschechen herabblickten, so blickten die Reichsdeutschen auf die Sudetendeutschen herab. Ein junges Mädel hatte in dieser Zeit bei dererlei Ansinnen in dieser Konstellation tatsächlich einige Entscheidungs-Optionen. Die einfachste war gewiss, Nämliches wie der Gast zu begehren und sich voller Wollust hinzugeben. Nun geht selbst in der Männerwelt das hartnäckige Gerücht, dass es Weibspersonen geben soll, die tatsächlich nicht allzeit bereit sein sollen. Aber auch in diesem Fall gab es Optionen. Die einfachste war vielleicht, Augen zu, Beine breit und durch (ich sehe Alice Schwarzer vor meinem geistigen Auge gerade toben und schnauben: es war eine andere Zeit, Frau Schwarzer). Die schwierigere Option war die Verweigerung. Nur im besten Fall hätte der Herr Reichsdeutsche selbige akzeptiert. Hätte er sie nicht akzeptiert und dem Mädel Gewalt angetan, so what, wer glaubte schon „so einer“ (sofern sie nicht allzu schlimm zugerichtet wurde und offensichtliche Blessuren trug), die ohne Grund den Herrn Reichdeutschen beschuldigen würde. Und hätte der Herr Reichsdeutsche die Verweigerung akzeptiert, so hätte immer noch die Gefahr bestanden, dass er sich bei der Hotelleitung über das Mädel beschwert, sie sei unhöflich oder frech gewesen oder habe gestohlen, jede dieser Anschuldigungen hätten ohne Anhörung der Beschuldigten oder Überprüfung des Sachverhaltes zur sofortigen Kündigung unter Einbehaltung des letzten Lohnes geführt, so einfach waren die Verhältnisse damals. Und damals gab es weder Gewerkschaften noch Arbeitslosengeld noch die Chance, sich einfach ohne Zeugnis im nächsten Haus zu verdingen; dies hätte die Heimkehr nach Hause und das Eingeständnis des eigenen Scheiterns bedeutet, und selbst im Elternhause hätte man noch eher dem Reichsdeutschen als der eigenen Tochter geglaubt.  Wenn meine Urgroßtanten keine allzeit wollüstige Henne war, war dies ganz klar eine loose-loose-Situation für sie. Wie dem auch sei, ich weiß nicht, ob der Beischlaf einvernehmlich erfolgte oder nicht, Fakt ist, dass er erfolgte, und ihm entsprang ein – wie man es damals diskret nannte – Malheur, ein Malheur namens Elsa. Engelsmacherinnen waren im streng katholischen Sudetenland wohl Mangelware, so wurde das Kind in Karlsbad entbunden, die junge Mutter schaffte es irgendwie, den längst abgereisten Vater ausfindig zu machen und ihn zur Zahlung von Alimenten – geringe monatliche Summen, aber ausreichend, um ein Kind großzuziehen – zu bewegen. Einen Bastard im Sudentenland, das war für viele reichsdeutsche Chauvies damals wohl eine Art „Prestigeobjekt“, überhaupt habe ich den Eindruck, was heute Thailand für perverse deutsche Schweine ist war damals das Sudetenland. Einerlei, das Kind war finanziell halbwegs abgesichert und die Mutter gab es samt den monatlichen Alimenten zu Pflegeeltern, einem kinderlosen Konditorehepaar in Zwickau, auf der anderen Seite des Erzgebirges. Die Mutter selber, deren Namen ich noch nicht einmal kenne und die diese Schande über die Familie gebracht hatte (nach dem Verständnis der damaligen Zeit, Frau Schwarzer), verschwand, ohne sich bei den Eltern und der Familie zu verabschieden, still und heimlich, irgendwohin nach Süddeutschland, weit weg. Als mein Urgroßvater, damals Familienoberhaupt und Bauer auf dem Hof, nach Monaten davon erfuhr, das Kind war längst entbunden und weggegeben und die Mutter verschwunden (es gab weder Telephon noch Internet, es gab auch keine Veranlassung offizieller Stellen oder der Arbeitgeber, die Eltern über das Verschwinden der minderjährigen Tochter zu informieren, ein Scherenschleifer soll die Geschichte nach Neudorf getragen haben), schäumte er vor Wut. „Eine Opl wächst nicht bei fremden Leuten auf!“, soll er immer wieder gesagt haben, erzählte mein Großvater. Jedenfalls machte sich mein schäumender Urahn zu Fuß über’s Erzgebirge nach Zwickau auf, schlief in Feldscheunen, aß seinen mitgenommenen Laib Brot und Speck, trank Wasser aus Bächen (nix Züge und Gasthäuser, das Reisen war für die einfachen Leute damals alles andere als einfach) und forderte von dem Konditor-Ehepaar die Herausgabe seiner Großnichte. Wahrscheinlich ging er dabei nicht sonderlich diplomatisch vor, außerdem muss Elsa ein entzückendes Kind gewesen sein, das dem kinderlosen Ehepaar viel Freude bereitete, und die monatliche Alimentenzahlungen mögen des ihre getan haben, jedenfalls verweigerten sie die Herausgabe des Kindes. Dreimal stapfte mein Urgroßvater über das Erzgebirge, bis er alle Bescheinigungen, Schriftstücke und weiß der Geier was beisammen hatte, so dass die Zwickauer Konditoren das Kind herausgeben mussten. Wer weiß, vielleicht hätte Klein-Elsa im Zuckerbäckerland eine schönere Kindheit gehabt als auf dem kargen Bauernhof im Sudetenland, aber Familie ist Familie. Und hätten all die Süßigkeiten die Tristesse eines Einzelkind-Daseins aufwiegen können? Mein Urgroßvater nahm Elsa an Kindes statt und behandelte sie so wie all seine – etwa gleichaltrigen – leiblichen Kinder, mit denselben Pflichten, mit denselben Rechten (wobei erstere traditionell viele, letztere traditionell wenige waren). Für meinen Großvater war Elsa immer wie eine Schwester, er bezeichnete und behandelte sie sein ganzes Leben auch so. Und wenn die Kinder in der Schule übermütig wurden, Elsa als „so eine“ bezeichneten und hänselten und schnitten, so half die eine oder andere Ohrfeige des Urgroßvaters (Kindesmisshandlung würde man das heute nennen), die soziale Integration des  Kindes nachhaltig zu fördern. Nur in einer Hinsicht nahm Elsa eine Sonderrolle ein. Für die leiblichen Töchter wurde nach und nach eine Aussteuer angeschafft, der älteste Sohn sollte den Hof bekommen, der zweitälteste bekam eine Tischlerausbildung, der drittälteste wurde zum Militär geschickt (wo er sich relativ zügig und erfolgreich totschießen ließ). Die Alimente für Elsa aber, eine nicht unwesentliche Summe für einen Bauernhaushalt, vereinnahmte der Urgroßvater nicht – was ja nur fair gewesen wäre – für Kost und Logis, sondern legte sie auf ein gesondertes Konto als Aussteuer für Elsa, weil „so eine“ es einst schwer haben würde, einen Mann zu finden. Wie dem auch sei, Elsa gedieh prächtig, fand einen Mann, einen netten, guten und wohlhabenden dazu, gebar ihm drei wundervolle Kinder, überstand auch die Vertreibung halbwegs, und war samt ihrer Familie allzeit gern gesehener Gast in unserem Hause. Ihre Mutter suchte und fand sie in den Fünfzigern oder Sechzigern auch wieder, irgendwo in Süddeutschland, unverheiratet, alleine, ohne weitere Kinder, mit einem schlechten Job in ärmlichen Verhältnissen. Die Frau hatte ihr Leben mit Karacho an die Wand gefahren … oder wurde von ihrem Leben mit Karacho an die Wand gefahren. Es entspann sich nie etwas wie eine späte Mutter-Tochter-Beziehung, Elsa sagte ganz offen, dass sie diese Frau nicht mochte, und sie mied sie nach wenigen Besuchen auch. Ein verdammt hoher Preis für ein Schäferstündchen, sei es einvernehmlich gewesen, ungleich höher, wenn es es nicht war.

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