„Es war eine liebe Zeit, die gute alte Zeit, vor Anno 14, in Bayern gleich gar. Damals hat noch seine Königliche Hoheit, der Herr Prinzregent regiert, ein kunstsinniger Monarch, denn der König war schwermütig. Das Bier war noch dunkel, die Menschen waren typisch, die Burschen schneidig, die Dirndeln sittsam, die Honoratioren a Bisser’l vornehm und a Bisser’l leger. Es war halt noch vieles in Ordnung damals …“ So beginnt der Vorspann zu Georg Lohmeiers unsterblicher Fernsehserie „Königlich Bayrisches Amtsgericht“ Zu jener Zeit, im Jahr 1900 wurde am Frauenplatz 9 in München schon seit 104 Jahren in einer Realen Gerechtsamen (was nichts anderes als Schankrecht bezeichnet) eine Restauration betrieben, der „Herr Rat“ vom Amtsgericht mag bei einem Besuch in der Residenzstadt dort durchaus die eine oder andere Maß genossen haben. 1893 übernahm Simon Bäumler das Lokal als Pächter von der Pschorr Brauerei und nannte es – aus welchen Gründen auch immer – „Nürnberger Bratwurst Glöckl“; damals waren die Umgangsformen unter Wirten anscheinend noch zivilisierter, die Nürnberger hatten nichts gegen diese Namens-Kopie ihres eigenen, an die Moritzkapelle angebauten Bratwurst Glöckleins aus dem 14. Jahrhundert. Die wechselvolle Geschichte des Bratwurst Glöckls ist oft genug erzählt worden. Bis 2003 war es im Familienbesitz, bis der letzte Spross der Familie, Michael Beck, die Goldgrube am Dom mit größenwahnsinnigen Gastronomieprojekten, dicken Autos, Spielschulden, Schicky-Micky-Feten Raufhändeln und Huren 2006 in die Insolvenz trieb (und sich 2009 auf den Philippinen das Leben nahm). Seit dem führen Jürgen Morawek als Geschäftsführer und Berndt Mencner als Küchenchef das Lokal, zuerst im Auftrag des Insolvenzverwalters, seit 2009 als offizielle Pächter der Augustiner Brauerei.
Von FJS bis Dieter Hildebrandt, von Caroline von Monaco bis Heinz Rühmann, von Roman Polanski bis Kirk Douglas war anscheinend, glaubt man den Gästebüchern, jeder von Rang und Namen im Bratwurst Glöckl. Tragisch, dass auch Erst Röhm hier seinen Stammtisch hatte und sich mit seinen schwulen Gespielen traf; nach dem „Röhmputsch“ verschwand in der folgenden „Nacht der langen Messer“ auch der Wirt Karl Zehntner spurlos und wurde später erschlagen bei Dachau aufgefunden, die Polizei stellte die Ermittlungen ergebnislos ein. Im Zweiten Weltkrieg teilte das Bratwurst Glöckl das Schicksal von 90% der alten Münchner Bausubstanz und versank in Schutt und Asche, wurde aber bereits 1949 neu aufgebaut wiedereröffnet. Heute mag man nicht glauben, dass die alten, niedrigen Stuben auf zwei Etagen mit den knarzenden Dielen und Treppen, dem dunklen Holz, den Butzenscheiben, den grobschlächtigen Tischen, Bänken und Stühlen, den alten Bildern und dekorativem Tinnef an den Wänden keine 60 Jahre alt sein sollen.
Es ist urig, es ist gemütlich, es ist heimelig im Bratwurst Glöckl am Dom, obwohl es wohl keinen München-Reiseführer weltweit geben dürfte, der es nicht als „Geheimtipp“ anführt, 628 Bewertungen der geballten Schwarmdummheit finden sich allein auf tripadvisor für das Lokal, die meisten davon „Ausgezeichnet“ oder „Sehr gut“. Dennoch kommt es dem Glöckl wohl zugute, dass es nicht unmittelbar an der Idiotenrennmeile zwischen Stachus und Marienplatz liegt, sondern etwas abseits, versteckt neben dem Dom. Dadurch ist der Publikum-Mix bis heute halbwegs authentisch-erträglich, vielleicht die Hälfte der Gäste sind Touristen, vor allem Asiaten, Besatzer und Italiener (die Speisekarte gibt es neben Deutsch auf Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Russisch, das sagt eigentlich schon alles), die andere Hälfte sind nach wie vor echte Eingeborene, weniger die Seppelhut-Trachten-Fraktion, sondern Geschäftsleute beim Lunch, feinere Herrschaften beim Bad in der proletarischen Menge, Studenten beim Bier, lärmende Männerstammtische, von Einkaufen erschöpfte, mit Tüten umringte, ihre Beute begutachtende Damen, alles sehr bodenständig. Es ist immer proppenvoll im Bratwurst Glöckl, reservieren ist schwierig, aber prinzipiell möglich. Man geht rein und hockt sich an einem der großen Tische dazu, die Meisten rücken freundlich zusammen und machen Platz für die Dazugekommenen. So ergeben sich immer wieder interessante Gespräche und Kontakte, zu denen es ansonsten nie gekommen wäre, ich habe zum Beispiel mal eine Einladung nach Seoul samt Telephonnummer und Privatadresse bekommen; allerdings waren die beiden Koreaner schon ziemlich betrunken vom Augustiner frisch aus dem Holzfass, die täten wahrscheinlich schauen, wenn ich plötzlich bei ihnen vor der Türe stünde. Und als eine Österreicherin die dritte Breze aus dem offen auf dem Tisch stehenden Brotkorb nahm, beroch, befühlte, drückte, für nicht gut genug für sich befand und angetatscht zurück in den Brotkorb legte, da habe ich die sowas an g’schert angeblafft, die die gute Dame war vollends indigniert und machte den Tisch rasch frei.
Die Speisekarte gibt sich ganz und gar bajuwarisch mit fränkischem Einschlag. Geboten werden typische Brotzeiten wie Obatzter, Wurstsalat (natürlich aus Regensburgern, wie es sich gehört) frisches Tatar oder Brotzeitbrettel, dann mal mehr, mal weniger kräftige Suppen (eine tadellose Rinderkraftbrühe steht da neben einem dünnen Hühner-, eher noch Küken-Süppchen), Weißwürste gibt es tatsächlich nur bis 12:00, maximal 13:00 Uhr, dann sind sie in der Regel aus, aber die geradezu archetypischen bayrischen Schmankerln – Fleischpflanzerl, Leberkäse, Wammerl, Schweinsbraten, gekochtes Ochsenfleisch, Schweinshaxe, Ente, dazu Knödel, Kartoffelsalat, Sauerkraut, frischer Kren, die ganze bayrische Wirtshaus-Herrlichkeit, dazu sogar Salate für die ganz G’scherten – die gibt es von 10 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts in ordentlicher Qualität; das ist sicherlich alles keine Hochküche und auch nicht der von der Großmutter handmassierte, mit geheimer Würzung nach altem Familienrezept, auf kleinster Flamme im Holzofen geschmorte Schweinebraten mit handgeriebenem und –gedrehten Kartoffelkloß, aber trotz der Enge der Küche und den Massen an Ausstoß hält sich der Convenience-Anteil in erträglichen Grenzen, sogar der Kartoffelsalat ist hausgemacht, und die Qualität ist fast durchweg – das muss man bei allem Touristenrummel und Massengeschäft konzedieren – ordentlich, teilweise sehr ordentlich sogar, gleichwohl es natürlich dann und wann Ausreißer nach unten gibt, besagtes dünnes Küken-Süppchen etwa, ein Schnitzel mit vollgesogener, fettiger Panade, weil es in zu kaltes Fett gelegt wurde, frisch geriebener Kren (= Meerrettich), der fast immer lau und langweilig ist und nicht richtig scharf den Gaumen kitzelt und die Atemwege befreit. Aber dafür sind die Preise für die innerste Münchner Innenstadt moderat, gefühlt würde ich sagen, 50% bis 100% teurer als auf dem Lande, aber da sind die Mieten/Pachten ja auch ganz andere. Beim Alten Wirt am Stadtrand in Obermenzing zahlt man 7,60 € für den Lebekäs mit Kartoffelsalat und Spiegelei, im Bratwurst Glöckl verlangen sie 10,10 €, der Schweinsbraten mit Kloß und Soß kostet am Stadtrand 8,30 €, am Dom 14,90, eine halbe Ente mit Knödel und Blaukraut in Obermenzing 11,60 €, am Dom aber glatt das Dreifache (nämlich 16,90 € für eine viertel Ente), das ist stolz. Und die Halbe Augustiner Hell vom Fass (ohnehin die einzige gültige gastronomische Vergleichswährung in Bayern) schlägt beim Alten Wirt mit 3,30 € zu Buche, im Glöckl mit 3,90 €, das ist wieder kommod.
Aber eigentlich geht man ja in’s Bratwurst Glöckl – ich zumindest – um Rostbratwürste zu essen, frisch vom Buchenholzgrill, gut durchgegrillt, stets irgendwo leicht verbrannt, auf Zinntellern serviert, mit Kartoffelsalat, Sauerkraut und/oder Brezn, dazu Senf und/oder frisch geriebener Kren; das Bratwurst Glöckl am Dom in München ist der beste Ort außerhalb Nürnbergs, Rostbratwürste nach Nürnberger Art zu essen., mit mittelgrober Körnung, ohne Brätanteil, nicht umgerötet, im engen Schafdarm auf 7 bis 9 cm abgedreht, Stückgewicht roh 20 bis 25 g, typische Majoran-Würzung, bindegewebsfreies Fleischeiweiß (BEFFE) nicht unter 12 %, absoluter Fettgehalt max. 35 %, auf offenem Buchenholzfeuer frisch gebraten – so die offizielle Regelung, was den ein Nürnberger Rostbratwürstchen geheißen werden darf – ach ja, und gemäß VERORDNUNG (EG) Nr. 1257/2003 DER KOMMISSION vom 15. Juli 2003 müssen die Würsteln in Nürnberg hergestellt sein, ansonsten tritt der 1998 gegründete, wehrhafte „Schutzverband Nürnberger Bratwürste“ auf den Plan und verklagt alles und jeden, so auch die Betreiber des Nürnberger Bratwurst Glöckls am Dom in München, alldieweil dort seit 1896 Nürnberger Rostbratwürstchen aus der hauseigenen Münchner Fleisch- und Wurstwarenfabrikation der Familie Bäumler in München gegrillt wurden, aber wo es keine echten Nürnberger Rostbratwürste serviert würden, dürfe auch der Name Nürnberger Bratwurst Glöckl nicht verwendet werden. Dieser Auffassung schloss sich das Landgericht Nürnberg 2005 an und untersagte dem Münchner Bratwurst Glöckl die Nutzung des Namensbestandteils „Nürnberger“, sofern nicht auch tatsächlich Nürnberger Rostbratwürste angeboten würden. Der damalige Wirt Michael Beck schäumte, sprach von einer „Riesensauerei“, von einer „Erpressung durch die Nürnberger Bratwurst-Mafia“ gar, von „minderwertigen Nürnberger Bratwürsten“, von Herstellern und von Rohstoffen, die allesamt nicht aus Nürnberg kämen, von „containerweise nach Nürnberg geschafftem, minderwertigem Schweinefleisch aus den Niederlanden“, und natürlich von „Revision“. Es wurde mit harten Bandagen gekämpft, damals, in den frühen Zweitausendern; und jede Menge kostenlose Medienpräsenz und damit Werbung für alle Beteiligten gab’s gratis obendrauf. Zwischenzeitlich hat sich dieser Sturm im Wasserglas längst wieder gelegt. Das Nürnberger Bratwurst Glöckl in München heißt längst wieder offiziell Nürnberger Bratwurst Glöckl, weil es neben den Bratwürsteln nach Nürnberger Art von der Münchner Traditionsmetzgerei Schmid und Gassner jetzt auch echte Nürnberger Rostbratwürstel von der 1983 gegründeten Nürnberger Wurstfabrik Schlütter auf der Karte feilbietet. Bei allem Respekt für die Nürnberger: Caro und ich haben ein „Tasting“ im Bratwurst Glöckl gemacht, für unseren Geschmack haben hier die Münchner Würstel deutlich besser abgeschnitten als die Nürnberger.
Ein paarmal im Jahr bin ich gerne im Bratwurst Glöckl in München, im Sommer auch gerne draußen, mit Blick auf den Dom und das städtische Treiben, meistens nach dem Besuch der Abteilung „Große Größen“ beim Hirmer um die Ecke, um den Frust, dass meine Konfektionsgröße noch immer nicht kleiner geworden ist, mit ein paar Bratwürstchen und – sofern ich nicht fahre – Bier herunter zu spülen: ein Teufelskreis.
Nürnberger Bratwurst Glöckl am Dom
Morawek & Mencner Gastronomie GmbH
Frauenplatz 9
80331 München
Tel: +49 (0)89 – 29 19 45 – 0
Fax: +49 (0)89 – 29 04 736
E-Mail: info@bratwurst-gloeckl.de
Online: www.bratwurst-gloeckl.de
Hauptgerichte 9,90 € (Leberkäs mit Kartoffelsalat) bis 26.90 € (Rib Eye Steak), Drei-Gänge-Menue 22,70 € bis 45,70 €,