Aus dem Kapitel „Seltsame Stilblüten des Lockdowns …“

Seit Monaten eingesperrt bin ich – um nicht vollends dem Lockdown-Blues zu verfallen – in mein Haus nach Nordhessen gefahren, Arsch der Welt, dort spürt man den Lockdown nicht so, denn eigentlich ist die Gegend seit Jahrzehnten im Lockdown, Agonie, Niedergang, die aktuellen Zwangsmaßnahmen des Merkel-Regimes on top fallen da gar nicht mehr in’s Gewicht. Dachte ich. Nach einer Woche Einsamkeit in einem Haus, das eigentlich mal für vier Familien gebaut wurde, beginnt mir die Decke buchstäblich auf den Kopf zu fallen. Meine Bestellung bei Amazon wurde storniert, angeblich kann man hier oben gerade nicht liefern. Die Take-Away-Speisekarte des einzigen noch geöffneten gutbürgerlichen Restaurants am Ort – die anderen haben längst aufgegeben und geschlossen, wahrscheinlich für immer, auch kein großer Verlust – liest sich wie die Liste der Tiefkühl-Convenience-Gerichte in Portionspackungen der Metro, der örtliche kleinstädtische Schabefleischbrater und der Hefefladenbacker sind partout nicht dazu in der Lage, Vertrauen zu erwecken, geschweige denn, etwas von ihren Feuerstellen in’s eigene Maul schieben zu wollen, der hiesige Asiate wurde vor Monaten unter reger Anteilnahme der Lokalpresse vom Gesundheitsamt geschlossen. Einen guten Metzger gibt es noch, aber nach dem dritten Male werden grobe nordhessische Bratwürste auch langweilig, mögen sie noch so genial sein. Plötzlich fängt man tatsächlich an, Lieferando – das es hier natürlich weit und breit nicht gibt – zu vermissen.

Also setze ich mich eines verzweifelten Tages zum Äußersten entschlossen in den Boliden und fahre die 30 Kilometer nach Ostwestfalen-Lippe in das Städtchen, in dem ich vor über 40 Jahren Abitur gemacht habe. Es gab weiland gleich zwei Gymnasien am Ort, ein Kloster-Lyzeum mit den heißen Mädchen und ein Städtisches Gymnasium für uns Jungs und die technisch begabten Mädels mit den rauen Händen. Zwischen beiden Bildungseinrichtungen bestand natürlich ein reger Verkehr, der von den Städtischen Gymnasiallehrern, mehr aber noch von den Nonnen sehr mit Missfallen beobachtet wurde, aber nicht wirklich unterbunden werden konnte. Jugendzentren, Diskotheken, Spielhöllen, McDoof, Starbucks und solch modernes Zeugs gab es natürlich nicht in Ostwestfalen-Lippe dieser Tage, zarte Bande wurden geknüpft in dem feineren Café am Kloster oder in dem rustikaleren Café am Städtischen Gymnasium, je nach Freistunden- und Hormonlage pilgerten die Jungs und die Mädels in das jeweilige Café der anderen Fraktion, um Bande zu knüpfen (oft aber auch, um sie wieder zu lösen, Schluss machen per SMS oder Whatsapp gab’s damals auch noch nicht) oder einfach nur um zu ratschen. Am späten Nachmittag traf man sich einhellig in einer uralten, echten westfälischen Kneipe aus Fachwerk und Ziegeln, es gab – und gäbe bis heute, dürfte die Kneipe auf haben – Rheder Bier, dazu rauchten wir, politisierten, knutschten, schimpften über Lehrer und aßen Feldkiecker-Brote. Wenn man sich kulinarisch aber was ganz Besonderes leisten wollte – an richtige Restaurant-Besuche war bei unser fast aller Taschengeld nicht zu denken –, dann ging man gemeinsam in den örtlichen Imbiss, ein klassischer deutscher Imbiss, den es heute kaum mehr gibt, weil dieser traditionelle Hort germanischer Verköstigung brutal verdrängt wurde von den imperialen Fleischklops-in-Labberbrötchen-Ketten einerseits und von den Multi-Kulti-Ethno-Schmuddel-Buden andererseits (was nicht heißen soll, dass die deutsche Imbissbude als solche nicht auch schmuddlig sein kann; ein gewisser Grad der Schmuddligkeit gehört wohl per se zur Imbissbude). Dieser Imbiss war ein langer, tief in ein altes Haus in der Innenstadt in Nähe des Städtischen Gymnasiums hineinragender Raum, Fenster nur an der schmalen Straßenseite, düster, links ein paar einfach Tische mit Kunstblumen, Aschenbechern, Pfeffer- und Salz-Streuern, Wände verkleidet mit billigen Holzpanelen aus dem Baumarkt, gelb-brauner, immer irgendwie klebriger Fliesenboden, Bier-Reklame-Schilder aus Email, ein verblichenes Plakat vom Annentag, das monströse Puzzle einer Alpenlandschaft in einem unsäglich kitschigen Rahmen, rechts eine lange Theke aus Metall, dahinter zwei stets heiße, riesige Fritteusen, eine große Platte zum braten von Würsten und Bratkartoffeln, ein Curry-Wurst-Hexler, Warmhalte-Töpfchen mit verschiedenen Sößchen, ein monströser Grill, in dem sich immer ein paar Hähnchen goldgelb und duftend drehten, über allem eine große, von Neon beleuchtete Speisekarte, nach hinten, in einer Art primitivem Holzverschlag, eine Art Küche, dass alles garniert mit einer atemberaubenden Melange aus Zigarettenrauch, Frittierfett, Hähnchenduft, Ketchup und Schweiß, sowas muss man zum einen erstmal hinbekommen, zum anderen aber auch erstmal ertragen. Wir konnten es nicht nur ertragen, wir konnten es genießen, wir waren die Härtesten. In diesem kulinarischen Walhalla war uns Jung-Teutonen so kannibalisch wohl als wie den allseits bekannten – Herrn Ernst sei Dank – fünfhundert Säuen. Das kleine Programm, das waren Pommes rot-weiß, wenn uns großer Hunger oder auch mal die Feierlaune anfielen, dann war eine Currywurst angesagt, natürlich extrascharf (oder was wir damals für scharf hielten, ha-ha), die ganz große Kür, nur bei hohen Feiertagen, Zeugnisausgaben und erfolgreichem durch die Latein-Klausur geschummelt haben, das war aber ein Zigeunerschnitzel mit Pommes für sagenhafte 5 Mark, ein Vermögen für einen normalen Gymnasiasten in Ost-Westfalen Lippe damals.

An besagtem verzweifelten Tage während des Lockdowns in der Jetzt-Zeit stehe ich also des Mittags vor besagtem Imbiss, es gibt ihn tatsächlich noch bis heute, schwer zu finden, da irgendwelche Städtebaulichen Irrwische den halben Stadtkern umgestaltet haben mit Fußgängerzonen, Einbahnstraßen, Parkverboten, Blumenkübeln, Denkmalen, die an unser aller kollektive Nazi-Vergangenheit erinnern, Durchfahrtbeschränkungen, Verkehrsberuhigungen und sonstigem Mumpitz, auf jeden Fall haben diese Irrwische es damit zuverlässig geschafft, auch diese Innenstadt verlässlich zu töten, Dönerläden gibt es noch, Grüne Parteibüros, BUND-Geschäftsstellen, Banken, Spielhöllen und Leerstand, unendlich viel Leerstand, leere Schaufenster, tote Augenhöhlen gestorbener Einzelhandelsläden, mit verwelkten Topfpflanzen und verstaubten Kunstdrucken darinnen … und eben diesen alten, diesen mittlerweile uralten Imbiss. Wenig hat sich verändert, zumindest in meiner Erinnerung. Langer, düster, holzverkleideter Raum, die Aschenbecher fehlen, die Stühle sind heutzutage abweissagend auf die Tische gestellt, die lange Metalltheke rechts scheint unverändert, nur der duftende Hähnchengrill fehlt, ob hier seit 1979 mal geputzt wurde, wer weiß, der Boden jedenfalls klebt wie die Hölle, nur an der Eingangstür belehrt ein Schild den Hungrigen, dass man Essen nur to go abholen könne und dass man beim Betreten ein Maultäschle zu tragen habe, das gab es früher nicht. Drinnen erwartet mich – nein, sie erwartet mich nicht wirklich, mein tatsächliches Eintreten erschreckt sie eher – eine einsame, ältere Frau, das Maultäschle leger auf das Kinn herunter geschoben, über die Metalltheke gebeugt, beim intensiven Studium des hiesigen kostenlosen Anzeigenblättchens, vielleicht liest sie ja die Kontaktanzeigen. Als sie meiner gewahr wird, frumselt sie rasch und beflissen ihr Maultäschle hoch, als Fremder könnte ich ja schließlich auch leicht ein verdeckter Agent der Merkelschen Corona-Polizei sein und fragt mehr genervt denn dienstbar nach meinem Begehr. Zigeunerschnitzel begehre ich, wie weiland, mit Pommes, extra-kross, nicht diese EU-Blasslinge, mit Extra-Salz. Sie macht sich an’s Werk, wirft als erstes zwei Hände tiefgefrorener Kartoffelschnitze in die stets auf Betriebstemperatur befindliche Fritteuse, schüttelt den Frittierkorb kurz, dackelt dann nach hinten, in den holzverkleideten Küchenverschlag, vor 40 Jahren hörte man dann von hinten das fröhliche Klopfen, mit dem ein Stück frisches totes Schwein in Form gebracht wurde und sodann paniert, nichts von dem heute, die Alte kommt mit einem Drumm tiefgefrorenen vorgefertigten panierten Formfleischs in der Hand zurück und wirft es in die zweite, ebenfalls heiße Fritteuse. Während ich mich umblicke und in Erinnerungen schwelge (war das tatsächlich mal der Nabel meiner kulinarischen Welt? – Nein, das war – Dank meiner Eltern – Düsterdick in Neuhaus) stochert die Alte mit einer langen Gabel in den Fritteusen herum, als würde sie damit den Wohlgeschmack oder den Gargrad der Speisen beeinflussen können: kann sie nicht. Irgendwann befindet sie die Pommes für wenig bleich genug, holt sie aus dem Fett, lässt sie abtropfen, würzt sie mit viel Paprika (gibt auch Farbe, wo die Röststoffe verboten sind) und wenig Salz (obwohl ich viel Salz bestellt hatte) und füllt sie in eine Papp-Schale, die sie in dickes rosa Fleischer-Papier einwickelt. Dann ist das das Schnitzel-Formfleisch dran, das kommt in eine Styropor-Schale, ich habe ein wenig Sorge, das Styropor könnte in Verbindung mit dem heißen Frittierfett schmelzen, die Alte rührt in einem Soßen-Töpfchen und gießt zwei Kellen eines dicken braun-rötlichen Breis mit offenbar Gemüse-Stückchen darinnen über das frittierte Schnitzel-Formfleisch in der Styropor-Schale. 8,60 EURO kostet der Spaß heute, verglichen mit 5 Mark vor 41 Jahren entspricht dies einer jährlichen Preissteigerung von 2,99%, ich hab’s nur so mal ausgerechnet. Ich nehme meine Beute verpackt in einem dünnen weißem Plastiktütchen entgegen, zahle 8,60 EURO – „Machen Sie Neun.“, mehr Trinkgeld war das Alles wahrlich nicht wert), trolle mich, aus diesem unwirtlichen und unwirklichen, fast schon surrealen Hort und setze mich fast direkt vor dem Haus an einen kleinen Ahorn in einem verkehrsberuhigenden Pflanzkübel, mit Sitzbank und Mülleimer integriert, wie praktisch. Tja, die Pommes sind Pommes sind Pommes, um Getrude Stein hier zu bemühen, nur leider zu wenig gesalzen. Das Schnitzel-Formfleisch in Industrie-Panade ist übelstes Schnitzel-Formfleisch in Industrie-Panade, wässrig, zäh, leider nicht geschmacklos, sondern mit einer penetranten Ammoniak-Note, die Panade wabblig und dick am Fleisch klebend, das Sößchen dazu ein ganz besonderer Höhepunkt deutscher Kochkunst: durch und durch breiige Konsistenz, dominiert von Streichholz-dicken Stiften süßlicher Gurken, dazu alles, was im Kühlhaus an Pflanzlichem weg musste, unverfänglich klein geschnitten, alles umhüllt von einer rot-braunen Sauce, die Farbe erinnert fatal an Menstruations-Blut, vorgeblich aus Tomaten, der Geschmack primär süß, dann unami, dann kräftig salzig, dann zart scharf, ganz leicht säuerlich, nur das Bittere bleibt gänzlich auf der Strecke, aber das will der geübte teutonische Gaumen ja auch nicht. Nach einigen Bissen fange ich tatsächlich an, mich ein wenig selber zu bewundern, dass ich so etwas einstmals ein paarmal im Monat freiwillig essen, ja genießen konnte. Wojatzek hatte schon recht, als er predigte „Kleinstadt verdirbt den Charakter“ … „und den Geschmack“, sollte man ergänzen. Ich nehme lustlos noch ein paar Bissen dieses kulinarischen Trauerspiels, dann entsorge ich die Reste im örtlichen Mülleimer, „Similis simili gaudet“ hätte mein alter Lateinlehrer wahrscheinlich gesagt. Ich fahre zurück nach Hause mit einer Gefühls-Melange aus Traurigkeit, Hunger und Übelkeit, hole mir beim örtlichen Metzger 100 Gramm Ahle Worscht und esse zwei Wurstbrote. Macht auch satt.

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