Aber wenn dann alle hier sind, ist es mit einem Male nicht mehr schön

Ich sitze im tiefsten Bayrischen Wald nahe der tschechischen und österreichischen Grenze, weitab von den Fünf-Sterne-Ressorts weiter im Norden, in einem kleinen, abgelegenen Landgasthof in tiefem Tal in noch tieferem Forst, es ist schön hier, sehr schön, und – zumeist – ruhig. Die Landschaft ist rau, ursprünglich, die Natur ist um diese Jahreszeit noch nicht so weit wie unten im Tal an der Donau, die Bäume fangen gerade erst zaghaft an, zu blühen, es ist bergig, keine verfluchten Flapp-Flapps auf allen Anhöhen, keine Autobahnen, wenig Bundesstraßen, meist kleine Kreissträßchen, das Gros ohne Mittelmarkierung, so schmal sind sie, kleine Dörfer, kleine Städtchen, die nächste richtige Stadt ist 35 Kilometer entfernt, propere, aber unprätentiöse Häuser, gepflegt, aber keines protzig, kaum Mehrfamilienhäuser, und wenn, dann Generationenhäuser, keine Schlösser, Burgen, Sehenswürdigkeiten – außer Wald, Natur und Berge –, die Kirchen keine Kathedralen oder prächtige barocke Gotteshäuser, sondern eher gedrungen, erdverbunden, stämmig, massiv, etliche Bauernhöfe, Industrie und Handwerker, aber keine großen Betriebe, auch keine heruntergekommenen Quetschen, sondern solide Anwesen, es gibt viele Sägewerke mit eigenem Mühlbach, klar, macht ja auch Sinn, Wald und Wasser ergibt Bauholz, Getreide und Ölfrüchte wachsen hier oben kaum, die gedeihen unten, auf den fetten Böden des Gäu um Straubing, eine Jahrhunderte-lange Symbiose, Holz gegen Getreide, kaum Leerstand und Verfall, mit Ausnahme etlicher aufgegebener Gasthöfe – leider –, keine aufgemotzten Autos, durchweg pragmatische Unter- und Mittelklasse-Wagen, dazu reichlich Traktoren, Mercedes und Porsche sind hier deutlich unterrepräsentiert, und wenn, dann haben sie meist auswärtige Kennzeichen, auch keine aufgemotzten, herausgeputzten  Menschen, Arbeitskleidung und konservative Stangen-Textilien sind hier die Wahl, Paradiesvögel würden hier wahrscheinlich gemobbt, Fahrräder, Autos, Häuser werden selten abgeschlossen, man kennt sich, hier kommt nichts weg, auf der Straße grüßen sich die Menschen im Vorbeigehen, die meisten per Du, verweilen zu einem kleinen Plausch, selbst mich, den Fremden, grüßen die – reichlichen – Kinder artig, wenn sie den Gasthof betreten, vor dem ich in der Abendsonne beim Bier sitze, eine ganz eigene, eigentümliche Welt.

In meinem kleinen, abgelegenen Landgasthof sind außer mir noch vier ältere Ehepaare in den einfachen Zimmern zu Gast, die hier wandern, ansonsten ist das Lokal ausschließlich – und gut – von Einheimischen frequentiert, das Essen ist rustikal-brachial, aber wohl authentisch, der Chef kocht selbst, seine Frau macht mit einem jungen Mann den Service, meist steht sie jedoch freundlich schwätzend an den Tischen, der junge Mann muss den Stechschritt einlegen. Zu Mittag war eine Geburtstagsgesellschaft im kleinen Saal neben der Wirtsstube zu Gast, eine große Familie mit vielen Kindern, es gab Suppe, Schweinsbraten oder Schnitzel (Vegetarier scheint es in der Familie nicht zu geben), Eis mit Sahne, am Nachmittag noch Kaffee und mitgebrachten Kuchen, ab Zwei bröselte die Feier, um Vier war alles vorbei. Um Fünf fährt eine Runde von jungen Männern standesgemäß auf einem Pferdewagen, gezogen von zwei stattlichen Kaltblütern, begleitet von einem Akkordeon Spieler vor dem Haus vor und entert den kleinen Saal, ein Junggesellen-Abschied, grölend, schon gut angetrunken, überhaupt scheinen unmäßiger Alkoholgenuss, genüsslich vorgetragene, meist peinliche Geschichten aus dem Vorleben des Bräutigams, kollektives Gelächter und gemeinsamer Gesang von heimischen Weisen und Schlager-Schnulzen die Hauptzwecke dieser Zusammenkunft zu sein. Den jungen Männern scheint’s zu gefallen, es sei ihnen gegönnt, sie sind hier ja quasi zuhause, derweil ich nur durchreisender – gleichwohl ob des Lärms etwas enervierter – Gast bin.

Als sich die Truppe besorgniserregend dem kollektiven Delirium Tremens nähert, kommt einer von ihnen – offensichtlich noch nicht ganz so alkoholisiert – zu mir an den Tisch und stellt sich vor: „Griaß di, i bin da Toni. Wos schreibst du do de ganze Zeid in deine Computa?“ Artig stelle auch ich mich vor und erkläre, ich müsse noch arbeiten, leider. (Ich verzichte im Folgenden weitgehend auf die – versuchte – originale Wiedergabe des bajuwarischen Idioms von Toni und begnüge mich mit einer hochdeutschen Transkription, soweit ich dazu fähig bin.) „Du bist aber keiner von den Journalisten, die dann irgendwo schreiben, wie schön es hier ist, und nachher kommen noch mehr Touristen-Scharen und verschandeln uns die Landschaft?“ „Nein,“ lüge ich, „ich bin Berater und muss für einen Klienten noch dringend was bis Montag fertig machen, ich hatte mir mein Wochenende hier auch anders vorgestellt, aber Klient ist Klient.“ „Armer Hund, an so einem schönen Wochenende noch arbeiten müssen … aber so seid Ihr Stadtmenschen nun mal. Immer Geld scheffeln.“ „Die Miete will halt bezahlt sein.“ entgegne ich. „Nicht, wenn man im eigenen Haus wohnt. Hier hat jeder sein eigenes Haus, wir zahlen alle keine Miete.“ „Wer ko, der ko!“ versuche ich bajuwarisch zu antworten. „Aber Supermarkt, Versicherungen, Handys, Rente zahlen sich auch nicht von selber.“ „Basst scho‘“ sagt Toni versöhnlich. „Warum hast Du“ – wie selbstverständlich duze ich den Toni, ohne, dass es mir selber aufgefallen wäre – „denn was gegen Journalisten, die über diese wirklich tolle Gegend schreiben?“ „Weil das unser Wald, unsere Heimat ist, und hier leben wir unser Leben. Nicht, dass Du mich falsch verstehst, wir“ – ist das nun die kollektive Meinung, die er wiedergibt oder plural majestatis, frage ich mich – „haben hier nichts gegen Fremde, wir sind keine Nazis oder so. Aber wenn man sieht, wie immer mehr und mehr Leute von anderswo kommen, unsere Straßen verstopfen, unsere Wälder platttrampeln, unsere Wirtshäuser belagern, und dann wird Wald abgeholzt, um noch breitere Straßen zu bauen, auf denen dann noch mehr Fremde kommen, und die breiteren Straßen sind wieder verstopft, dann bauen sie Riesen-Hotelklötze in die Landschaft, die sich unsereins gar nicht leisten kann, mit Schwimmbädern und Saunen und Sonnenterrassen und Riesen-Parkplätzen und was weiß ich, da beschäftigen sie dann nicht unsere Leute, sondern billige Arbeitskräfte aus Tschechien, Rumänien, sogar der Türkei, und dann servieren sie Saltimboccia“ (er sagte ‚boccia‘) „Romana und Kaviar und so’n Frass, der mit der hiesigen Küche rein garnix zu tun hat, die Lebensmittel kaufen sie in der Metro und werweißwo im Ausland und nicht bei unseren Bauern, die Gäste latschen in Scharen durch unsere Wälder und verschrecken das Wild oder fahren mit ihren dicken SUVs durch’s Unterholz, wo sie rein garnix verloren haben, und wenn sie stecken bleiben, müssen wir sie mit unseren Traktoren rausziehen, und dafür geben sie uns großzügig einen Fuffi, und wir sollen das doch bitte für uns behalten und nichts der Polizei sagen, dann kriege ich so einen Hals …“ Toni hat sich in Rage geredet. „Tom“ – Tom, so heißt der Stechschritt-geplagte Jung-Kellner – „bring uns mal zwei Halbe und zwei Bärwurz!“ Mir wird mulmig, der Bayrische Wald kennt zwei Kräuterbitter, den Bär- und den Blutwurz; man kann es sich einfach merken: Blut = gut für den Menschen, Bär = schlecht für den Menschen, und der Toni hat den Bärwurz geordert, und der ist sehr, sehr gewöhnungsbedürftig, vielleicht will er mich ja testen … „Am schlimmsten war ja die Ski-Saison, wenn sie den Großen Arber gestürmt haben, um die paar Meter da runterzurutschen. Da ging hier teilweise an Wochenenden gar nichts mehr, verstehst‘ schon, verkehrstechnisch meine ich: alles zu, auch für uns Einheimische, Stau ohne Ende, dazu zugeparkte Privatgrundstücke und Rettungswege. Soll ich Dir was sagen – mir ist die angebliche Klimaerwärmung gar nicht so unsympathisch. Erstens müssen wir weniger heizen, zweitens wird dieser Ski-Wahnsinn ausgebremst, sollen die doch in die Alpen fahren zum Schneerutschen und uns in Ruhe lassen. Schlecht ist nur, dass der Wolf und der Bär zurückkommen. Jahrtausende lang haben unsere Vorfahren diese Bestien ausgerottet, und jetzt reißen sie wieder Schafe und Rehe, und diese Stadtfräcke in ihren sicheren Berlins und Münchens finden das ganz toll und ökologisch und lassen uns nichts dagegen unternehmen. Denen sollte mal ein Kalb auf offener Koppel aufgefressen werden. Und niemand zahlt unseren Bauern was dafür. Weißt Du, was ich mir wünsche: so eine weltverbessernde Öko-Grünen-Gutmenschen-Gruppe sollte auf ihrem Selbsterfahrungs-Wander-Trip durch den Bayrischen Wald mal in ein hungriges Wolfsrudel oder an eine wütende Bärenmutter geraten, sie müssen ja nicht gleich mit Haut und Haaren aufgefressen werden, aber mal gehörig in den Arsch gebissen, das würde ich denen von Herzen wünschen …“ Irgendwie droht der Wut-Monolog vom Toni zu entgleisen. „Aber es ist ja auch zu schön, hier bei Euch.“ versuche ich, irgendwie abzulenken. „Das ist ja genau das Problem!“ braust Toni auf. „Natürlich ist es schön hier. Aber wenn alle unten im Tal merken, wie schön es hier ist, dann wollen auch alle hierher, die einen als Urlauber, schlimmer sind die, die sich hier Wochenendhäuser und Villen bauen lassen, die dann fast das ganze Jahr unbewohnt in der Landschaft rumstehen. Aber wenn dann alle hier sind, ist es mit einem Male nicht mehr schön, dann wird das hier sowas wie der Ballermann von Süddeutschland, bestenfalls. Halli-Galli und McDonalds an jeder Ecke. Und wenn es dann nicht mehr schön ist, verschwinden diese Touristen-Heuschrecken wieder, hinterlassen ein verwüstetes Land, das plötzlich nicht mehr schön und urig ist, sondern verhunzt, und die suchen sich eine neue schöne Opferlandschaft zum Verschandeln.“ Der Toni ist echt in Rage, aber seine Kumpane drängen zum Aufbruch, er will sie nicht weiter warten lassen. Ungeachtet des vorangegangenen Worteschwalls verabschiedet sich der Toni sehr rasch und schmallippig, als wäre ich ein Zuhörer, den man an- und ausknipsen kann, die beiden Bier und Bärwurz finden sich später am Abend auf meiner Rechnung wieder: Danke Toni.

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