Das Pupp und ich oder wie das Wirtschaftswunder sich selber feierte. (4/8)

Nach 1945 hatte es sich in unserer Familie aus nahe liegenden Gründen erst einmal ausgepuppt. Vertreibung, wieder Fuß fassen, Essen besorgen, Quartier machen, Job finden, Entschädigungsansprüche anmelden, Haus bauen, zurück in die Normalität kämpfen, dann gleich auch heiraten, wie selbstverständlich Kinder zeugen (ich bin eines davon), neue Existenz aufbauen … das alles dauerte locker bis in die Sechziger. Irgendwann waren dann ein gewisser Wohlstand und eine gewisse Sicherheit erreicht, der Eiserne Vorhang lockerte sich und es war wieder an Reisen in die alte Heimat denkbar. Die ersten Expeditionen unternahmen mein Vater und mein Onkel angesichts der ungewissen Fährnisse in dem einstmals eigenen, zwischenzeitlich fremd-kommunistisch-tschechoslowakischem Lande alleine, sie kehrten unversehrt zurück und berichteten, die Versorgungslage sei zwar dürftig, aber der allgemeine Landfriede weithin gegeben. Außerdem berichteten sie von Lebenshaltungskosten, die ein Bruchteil der Westdeutschen betrügen, ein Land des fetten Wohllebens also. Von da ab setzte eine rege Reisetätigkeit der gesamten Familie in die Tschechoslowakei  ein, jedes Jahr wenigstens einmal, und wir Kinder mussten nicht immer, so doch oft mit, angebliche Heimatluft schnuppern, wohl auch, uns mental auf die Rückkehr in die ehemalige Heimat vorzubereiten. Nun gut, mit der Rückkehr in die vermeidliche Heimat wurde es nie was, aber das Leben als Gast in der Tschechoslowakei gestaltete sich ausgesprochen interessant. Der Zwangsumtausch betrug, wenn ich mich Recht entsinne, pro Tag Aufenthalt und Erwachsenem 30 D-Mark zum offiziellen Kurs von +/- 1:4, den musste man an offiziellen Stellen tätigen, sich per Quittung bestätigen lassen und diese Quittungen bei der Ausreise vorweisen, sonst gab es Stress ohne Ende, denn der Staat brauchte West-Devisen und wachte streng über deren Eintreibung. 30 D-Mark waren also rd. 120 Kronen, und mit 120 Kronen kam man in der damaligen Tschechoslowakei verdammt weit. Man stelle sich vor, die Preise in Kronen waren ungefähr so wie die Preise in DM in Deutschland, ein Schnitzel kostete vielleicht 8 Kronen (= 2 DM), ein Bier 2 Kronen (= 50 Pfennig), eine Übernachtung in einem Luxushotel (wie dem Pupp) 100 Kronen (= 25 DM). Aber es kam noch besser. Jenseits des Zwangsumtausches interessierte es keinen Menschen (auch nicht Polizei oder Geheimpolizei), wie die restlichen Devisen ins Land kamen. Also blühte ein reger Schwarz-Umtausch, in der Regel zum Kurs von 1:10, in „ganz guten Zeiten“ auch 1:12. Für 1 DM bekam man also – schwarz – 10 oder sogar 12 Kronen. Eine Übernachtung im Pupp kostete also mit einem Male noch 10 DM, selbst für damalige Verhältnisse ein lächerlich geringer Betrag. Natürlich musste man genau aufpassen, wo man umtauschte. Als erkennbarer West-Tourist wurde man in den touristischen Ballungszentren – Prag, Marienbad, Karlsbad, Krumau, Ostrau … – an jeder Ecke angesprochen: „Wollen tauschen? Sehr günstige Kurs …“ Zuweilen wurden einem da auch 1:14 oder 1:20 angeboten, was damit endete, dass man auf offener Straße einem wildfremden Menschen ein paar Hundert-Mark-Scheine in die Hand drückte, im Gegenzug ein dickes Bündel Papier mit je einer Hundert-Kronen-Note oben und unten erhielt, dann erschallte plötzlich der Ruf „Geheimpolizei“ oder einfach nur „Polizei“, die konspirative Straßen-Klein-Versammlung stob auseinander, die Geldwechsler rannten mit ihren DM davon, der West-Tourist, der sich gerade eines gerichtsmassigen Devisen-Verstoßes strafbar gemacht hatte, versuchte, das dicke Bündel Scheine unauffällig zu verstauen (wenn er es nicht gleich im hohen Bogen davon warf) und sich Lapaloma-pfeifender Dings zu verkrümeln. Und wenn sich die Aufregung gelegt hatte, stellte der verbrecherische Tourist fest, dass er ein Bündel zurechtgeschnittenen Zeitungspapiers mit je einer Hundert-Kronen-Note oben und unten in der Hand hielt. Recht so, kein Mitleid, Recht muss Recht bleiben. Man musste also aufpassen, wo man seiner individuellen verbrecherischen Tätigkeit nachging. Die sicherste Bank waren hier die Portiers der Hotels, da waren die Kurse zwar regelmäßig schlechter als auf dem „freien Markt“, aber die konnten wenigstens nicht wegrennen, und die konnten einem zudem auch eine – wie auch immer geartete – Bescheinigung ausstellen, wie man sich mit 120 Kronen Zwangsumtausch ein 100 Kronen Hotel plus allgemeine Lebenshaltungskosten leisten konnte. So fuhr die Familie wenigstens einmal pro Jahr in die verlorene Heimat – für mich war es nie „Heimat“, ich fühlte und fühle mich immer als fremder Gast – zur Fettlebe und nostalgischen Wehmut. Das Programm war immer das gleiche. Bei Eger über eine der wenigen, streng bewachten Grenzübergangsstellen, ich weiß nicht mehr, ob man ein Visum brauchte, hochnotpeinliche Überprüfung der Papiere, oft auch Öffnen des Gepäcks in der Grenzbaracke und Inspektion des Wagens, meist lange Schlangen und Warten vor der Grenze, die tschechoslowakischen  Grenzer hatten es nicht eilig. Und dann gab es zuweilen ein ganz besonderes, beidseitig liebevoll gepflegtes Ritual: wenn der Grenzer in die Papiere meines Vaters blickte und höflich, aber bestimmt in Deutsch mit starkem Akzent fragte „Ach, Sie sind im Kreis Petschau geboren. Warum haben Sie die CSSR verlassen?“ und meine Vater antwortete „Wir wurden vertrieben!“, heidewitzka, dann ging’s rund. Die „richtige“ Antwort wäre gewesen „Wir haben die CSSR freiwillig verlassen.“, was zwar nicht der Fall war, aber die Mächtigen in Prag sahen das so und wollten, dass auch alle anderen das so sähen. „Zur Strafe“ für diese „falsche Antwort“ wurde man sofort aus der Schlange der wartenden Autos herausgewunken und auf einen etwas abgelegen Parkplatz gelotst. Beim ersten Mal fiel mir das Herz in die Hose, ich dachte, jetzt würden wir verhaftet oder erschossen. Aber das war keineswegs der Fall, eigentlich waren die Tschechen ganz umgängliche Kommunisten, aber Strafe musste sein. Diese bestand darin, dass das komplette Gepäck durchwühlt und das Auto weitgehend zerlegt wurde: Motorraum auf, Rückbank raus, Kofferraum leeren, Radkästen, Handschuhfach, Ersatzradkuhle, … einmal haben die den elterlichen Benz sogar aufgebockt und alle vier Räder abgeschraubt. Nach zwei, drei Stunden – gefühlten Ewigkeiten – war der Spuk vorbei, die Grenzer sagten freundlich „Alles in Ordnung, Sie können weiterfahren.“, und man stand da vor seinem durchwühlten Gepäck und seinem zerlegten Auto mit den Einzelteilen drum herum. Da keiner in der Familie besonders handwerklich begabt war – mit Ausnahme meines Onkels – dauerte es nochmals Stunden, bis wir die Karre wieder zusammengepuzzelt hatten. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses doofe Spiel unfreiwillig mitmachen musste, irgendwann hatte ich mich dran gewöhnt und fand es nur lästig und zeitraubend – und albern von meinem Vater, der aber hielt eisern an diesem Ritual fest. Von Eger ging es nach Karlsbad, und dort – natürlich – in’s Pupp, das damals in auf Anordnung der Kommunisten Grandhotel Moskva hieß. Zimmer hatten wir nie vorbestellt (wahrscheinlich wurde ein Anruf ins Ausland als zu teuer empfunden), stattdessen ging mein Vater zur Rezeption, spielte mit einem Fünf- oder Zehnmarktschein in seinen Händen und fragte, ob noch so-und-soviel Zimmer im Riverside-Trakt frei seien. Angesichts des Spielzeugs meines Vaters waren immer Zimmer frei, Zimmerschlüssel und DM-Schein wurden diskret ausgetauscht, dann musste noch der Anmeldeschein ausgefüllt werden, ein ellenlanges Dokument, wahrscheinlich muss man heute für eine Greencard bei den Amis weniger Angaben machen. Sodann folgte die währungstechnisch interessante Umtausch-Prozedur, pro Tag und Erwachsenem 30 DM, dafür erhielt man 120 Kronen und einen offiziellen Zettel mit Stempel, dass man dem Zwangsumtausch genüge getan habe, und den musste man bei der Ausreise für jeden Tag vorlegen, sodann wurden nochmals 100 DM getauscht, dafür bekam man dann – ohne offiziellen Zettel mit Stempel – 1.000 Kronen, und bei den Preisen für ein Schnitzel von 8 Kronen und für ein Bier von 2 Kronen mag man sich vergegenwärtigen, welche lokale Kaufkraft man da in Händen hielt. Allzu viel konnte man mit dem Vermögen allerdings nicht anfangen, denn erstens schafft selbst der beste Fresser nicht mehr als zwei, drei Schnitzel pro Tag, zweitens war das Angebot an sonstigen Waren nicht wirklich üppig, drittens gab es noch keine EU und die Zollbestimmungen nach Deutschland waren restriktiv. Böhmisches Glas konnte man kaufen, Becherovka Kräuterlikör, Karl Marx gesammelte Werke auf Deutsch in Leder gebunden, wenn man Glück hatte mal eine Tasche oder Handschuhe, und das war’s dann eigentlich schon mit Kaufrausch angesichts übervoller Börsen; ach ja, meine gesamte Einrichtung an Glasgeräten für mein privates Chemielabor habe ich auch wohlfeil aus der CSSR mitgeschleppt, um damit dann Poly-Merkaptane herzustellen und eine Wette zu gewinnen, aber das ist ganz eine andere Geschichte. Was man aber mit dem Geld machen konnte war Essen gehen. Jede Fahrt in die Tschechoslowakei war damals eine Fressorgie ohne Ende in den besten Restaurants, die wir finden konnten, kostete ja fast nix. Man musste nur aufpassen, an die richtigen Adressen zu geraten, neben Devisen-bringenden West-Touristen gab es ja auch reichlich Reisende aus den sozialistischen Bruderländern, vor allem Ost-Deutsche, Russen und Ungarn, die die Schönheiten und Heilbäder Böhmens genießen wollten, und die waren nur widerwillig willkommen. Eines Morgens irrten wir einmal verschlafen durch die Gänge des Pupp auf der Suche nach dem Frühstücksraum. Wir fanden ihn, und darin fanden wir grobe Industrietische, große Blechbehälter zum Selber-Zapfen dünnen Kaffees, Berge von zwei Sorten Wurst, einer Sorte Schinken und zwei Sorten Käses lieblos aufgeschnitten und auf Plastikschalen gestapelt, Wabbelbrot, Margarine, … dazu wenig mürrisches und weitgehend tatenlos herumstehendes – herumlungerndes wäre der bessere Ausdruck – Personal. Kennen Sie das Gefühl, im falschen Film zu sein? Waren wir tatsächlich, bzw. im falschen Speisesaal. Besagte Touristen aus den sozialistischen Bruderländern wurden nämlich prinzipiell im Parkside-Flügel des Hotels untergebracht, einem Anbau jüngeren Datums, in dem die Zimmer längst nicht so luxuriös ausgestattet waren wie im Hauptbau und dem Riverside-Flügel (auch heute noch unbedingt Zimmer im Riverside-Flügel mit Blick zur Tepel buchen) und auch die Versorgung alles andere als luxuriös. Nach einigen Irritationen unsererseits fragte uns eine der lungernden Servicekräfte ziemlich barsch nach unserer Zimmernummer, und als wir diese nannten, geschah etwas ganz Außergewöhnliches, gar Wundersames: dieser Mann schaltete nach Nennung unserer Zimmernummer in Sekundenbruchteilen von barsch-mürrisch auf devot-freundlich-servil um, als hätte man bei einem Roboter den Schalter umgelegt. Höflich erklärte er uns, dass dieser Speisesaal nicht für Gäste aus dem Westen bestimmt sei, dieser sei vielmehr im Hauptteil des Gebäudekomplexes, in den neobarocken Restauranträumen bei der großen Halle, wohin er uns sodann hilfsbereit und höflich geleitete, und dort war dann alles wieder wie immer mit großem Buffet, hübscher Aufmachung, höflichem, flottem Personal. Ich mochte damals das Verhalten dieses Kellners nicht und mag es bis heute nicht: er war nicht freundlich zu uns, sondern nur zu unserer Zimmernummer. Der Rest dieser Reisen war dann Ritual: nach Petschau, die alte Schule meines Vaters anschauen (die gab es noch, aber wir gingen – ich weiß nicht, warum – nie hinein), ein Spaziergang um die Burg, die über Jahrzehnte hinweg langsam, aber stetig renoviert wurde, dann Fahrt auf den Berg nach Neudorf, zum hundertsten Male die Geschichte gehört, dass dies der tägliche Schulweg war, auch bei Neuschnee hoch bis zu den Hüften, in Neudorf auf das verwilderte Fleckchen Land geschaut, wo mal der eigene Hof stand, über den alten Friedhof gegangen, wo verdammt viele Opls verscharrt liegen, in die alte, verkommene Kirche gegangen, wo die Familie über Generationen getauft, verheiratet und ausgesegnet wurde, dann noch um das alte verwaiste Schulhaus, ein wenig geseufzt und Trübsal geblasen, dann nach Marienbad ins Esplanade, unten im Tal einmal durch den Kurpark gelatsch, opulent gespeist, dann weiter nach Prag, immer in’s Alcron (ich weiß nicht, vielleicht weil es Hitlers Lieblings-Hotel in Prag war?), Wenzelsplatz, Karlsbrücke, Hradschin, Goldenes Gässchen, Klosterschule meines Vaters, Bierkneipen auf der Kleinseite, … Jahr für Jahr das selbe Ritual, relativ zügig mochte ich diese Reisen nicht mehr, wären da nicht die wirklich ausschweifenden Besuche in den aller-besten Restaurants der Sozialistischen Republik gewesen.

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