Nehmen wir einmal an, es wäre das Jahr 2013 und ich wollte den neunundsechzigtausenddreihundertvierten Gin diese Welt kreieren, nicht etwa, weil ich der Meinung wäre, neunundsechzigtausenddreihundertdrei Gins reichten nicht aus, diese Welt zu beglücken und hinlänglich trunken zu machen, sondern weil ich klug erkannt hätte, dass Gin seit Jahrzehnten eine never-ending Story auf dem Alkoholiker-Markt ist und dass es – trotz der riesigen Konkurrenz – immer noch Platz für mehr, neue Angebote gibt. Zuerst muss man sich entscheiden, ob Massenmarkt oder Nische. Wenn – mit Bertold Brecht – das nötige Geld vorhanden ist, so wird das Ende meistens gut, sprich, wenn man ein neues Produkt mit dem nötigen Werbedruck in großer Stückzahl in Bars, Supermarktregale und Kehlen pressen kann, dann kann man auch heute damit durchaus noch in den Massenmarkt entern, Mare oder Boar sind da gute Beispiele, aber entweder braucht man das Geld eines Sprit-Multis im Hintergrund oder man muss sich von vornherein an eine große Lebensmittelkette verkaufen, das hochpreisige Segment ist einem dabei in der Regel verschlossen, aber 1.000.000 Stück mal 10 Cent Marge ist auch schöner als 10.000 Stück mal 2 EURO Marge. Jedoch in dieses Massengeschäft will und kann kaum einer der jungen Gin-Macher, selbst wann man selber aus einer Sprit-Dynastie kommt, wie etwa der junge Hardenberg mit seinem – gar nicht mal so schlechten – von hallers gin. Den jungen Gin-Machern haben in der Regel nur zwei Chancen: entweder, sie lassen in einer fremden Lohn-Brennerei destillieren, wie etwa die Scharlatane von Siegfried Rheinland Gin, die die Plörre in Ahrweiler brennen lassen, und selber nur das Marketing – sprich virales Tam-Tam-Buff mit ganz viel Nibelungen- und Siegfried- und Rheinland-Worthülsen – machen, ohne offensichtlich selber Ahnung vom Schnaps-Machen zu haben. Oder aber, man besorgt sich selber eine Brennlizenz und baut oder übernimmt eine Destille. Das ist für einen Mann etwa so wie eine Modelleisenbahn in ganz groß und ganz teuer und ganz toll. Massenproduktion ist hier natürlich – vorerst – nicht möglich, also kommen erst einmal die ganzen buzz-words, die wir bis zum Erbrechen kennen, in’s Spiel: micro batch, handcrafted, regional, traditionell, ehrlich, handwerklich, ohne industrielle Hilfsmittel und künstliche Aromen, hochwertigste Qualität, Manufaktur, kleine Stückzahlen, handgesammelte heimische Botanicals … Ja Danke, kennen wir, alle Zwerge haben mal klein angefangen. Aber distinktiv ist diese „Ich bin klein / meine Brennblase ist rein“ – Nummer heute längst nicht mehr, da muss schon ein anderer USP her. Auch Geschmack ist heutzutage nicht wirklich mehr ein distinktives Merkmal, reiner Alkohol halt, mit Wachholder und ein paar anderen Kräutlein, es sei denn, man kreiert Monster wie Tanqueray Rangpur, Gordon’s Premium Pink oder ungava (Letzterer bei Kennern auch Elchpisse genannt). Connaisseurs, echte Keeper und Kenner mögen hier schmecken, vergleichen, bewerten, philosophieren und tatsächlich Vorzüge und Schwächen erkennen, das gemeine Saufpublikum interessiert das nicht, ein Mikrogramm mehr oder weniger Wachholder pro Liter Gin, vermischt mit reichlich Chinin-Limonade, Eis und Zitrone, das schmeckt doch eh kein Mensch. Das ist es ja, was Gin – und auch Vodka – so populär macht, beide sind reiner Schnaps mit ein paar gewollten Verunreinigungen. Vodka ist reiner, das ist schön, aber dafür gibt’s beim Vodka auch weniger zu erzählen, zu philosophieren und zu schwafeln. Gin mit seinen Botanicals, der gibt jedem Gelegenheit, irgendwie mitzureden, und das ist auch nicht so schwer wie beim Whisky, wo es ja richtig dolle Unterschiede gibt und wo man echte Kenntnisse haben sollte, bevor man hier das Maul aufmacht – jenseits von „Schmeckt mir persönlich.“ und „Schmeckt mir persönlich nicht.“. Beim Gin hingegen, „Also, mir ist der ja zu Wachholder-lastig, aber die Beeren in der Nase kommen gut.“, diesen Satz kann eigentlich fast jeder fast immer problem- und gefahrlos daherschwafeln, ohne sich wirklich als völlig ahnungslos zu outen. Gin ist richtig kommunikativ, und er ist Dank seines zurückhaltenden Eigengeschmacks – neben Vodka – die ideale Basis für Mixgetränke.
Aber einen wahren USP für einen neuen Gin zu finden, das ist heute schwer geworden. Lange Zeit haben die Rezept-Märchen dominiert, allen voran der Royal Airforce Mensch, der im Berliner Zoo zugange war, dort auf den Affen gekommen ist, und später im Schwarzwald nach angeblich alten, vergessenen, wiedergefundenen Rezepten des Schnapsbrennen begonnen hat. Es folgten hunderte von Gins, bei denen jungen Leute vorgaben, Urgroßvaters vergessene oder verschollene Rezepte in alten Truhen auf Dachboden, in Spinnweben-verhangenen Kellern, in ungelesenen Tagebüchern, vergilbten Geschäftskladden und sonst wo gefunden zu haben. Dann kamen mit einem Male die regionalen Gins, jedes Kuhdorf – ganz vorne dabei natürlich München mit seinem Duke – musste plötzlich seinen eigenen Kuhdorf-Gin haben, und um den regionalen Bezug zu unterstreichen, kam überall noch eine typische regionale Spezialität in Form eines zusätzlichen Botanicals rein, Hopfen etwa in der Bierstadt München, oder Waldmeister in der Stadt, wo alle – allen voran die politische Klasse und ihre medialen Handlanger – nur im Wald stehen, Zitrus im Italienschen Moncalieri, Birkenblätter und (natürlich was sonst?) Cranberries im Finnischen Napue, Weinblüten im Französischen Charente, das ist in der Cognac-Ecke, natürlich wieder und wieder Fichtennadeln bei all den Schwarzwald-Gins, der unsägliche August aus Augsburg setzt Zirbenspäne hinzu, die Zirbelnuss ist ein altes Symbol Augsburgs, die vollständige Liste würde hier sehr lang werden, das Prinzip ist immer das gleiche: man macht einen mehr oder – meist – minder guten Gin, kippt irgendein Botanical dazu, dass in einer bestimmten, typischen Relation zur Region steht, lässt sich eine schöne Marketing-Mär einfallen, ruft guru-guru und beginnt, die Plörre gemeinsam mit den örtlichen Szene-Gastronomen, dem lokalen Facheinzelhandel und willfährigen, unkritischen Lokalmedien in den Markt zu drücken; und wenn das klappt, dann geht’s zum einen rasch an die regionale Expansion, heute gehört uns Kleinkleckersdorf, morgen die ganze Welt und zum anderen an die Diversifikation, denn wenn man schon eine Marke aus dem Nichts kreiert hat, dann kann man das auch gescheit monetarisieren, mit einem weiteren Gin, mit Jahrgangs-Editionen, mit Sonderarbfüllungen, T-Shirts, alles, was halt Geld bringt. Diese „Jedem Kuhdorf seinen eigenen Gin“-Masche hat sich noch lange nicht tot gelaufen, es finden sich wöchentlich, wenn nicht täglich neue findige Milchbubis, die neue lokale Märchen-Gins erfinden und tatsächlich erfolgreich in einen überfüllten Markt drücken. Aber neue Neuerungen mussten und müssen her, um den neuen Gin Craze zu befeuern. Gin, dieses eigentlich feine, nuancierte, nur dem wirklichen Kenner zugängliche Destillation-Kunstwerk wurde in alte Rum-, Wein-, Portfässer gelagert und kommt dann braun daher, fast wie ein Whisky, der Dictador aus Kolumbien ist gar nicht mal schlecht, Kriege um Kalt- oder Heiß-Mazeration entbrannten, um die VERORDNUNG (EG) Nr. 110/2008 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 15. Januar 2008 zur Begriffsbestimmung, Bezeichnung, Aufmachung und Etikettierung von Spirituosen sowie zum Schutz geografischer Angaben für Spirituosen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 1576/89 auszuhebeln wurde der New Western Style Gin erfunden, der eben nicht in diesem Verordnungsmonster gemaßregelt wird und letztendlich nichts anderes ist als ein „everthing goes“ Schnaps, und dabei ist etwa der Botanist von der Bruichladdich Distillery richtig lecker.
Aber so langsam wird’s schwierig, wirklich neue, tatsächlich distinktive, distinktive Merkmale zu finden, wenn man den nächsten Gin in den Markt drücken will. Irgendwann vor 2013 saß ein Tourismusunternehmer namens Tor Petter W. Christensen im Dunklen, nämlich in der Polarnacht in Lyngen, zusammen mit einem Allgemeinmediziner und einer Friseuse, ein Schelm, wer Böses dabei denkt, und da kamen die Drei auf die Idee, die nördlichste Destilliere der Welt zu bauen, und ein Ressort noch gleich dazu, damit die Besoffenen nicht auch noch fahren müssen. Man reiste nach Schottland, sah sich dort das Brennwesen an, kaperte sich einen erfahrenen Brenner, gründete 2013 die Aurora Spirit AS, Norway und schon 2015 die steuerlich weitaus attraktivere AuroraSpirit UK Ltd, Munlochy, United Kingdom. Ach ja, gebaut wurde auch, ganz hübsch-ökologisch-modern am Fjord mitten im Nirgendwo, 10 Fahrtstunden nördlich des Polarkreises, das ist mal richtig nördlich, da wird es schwer, eine noch nördlicher gelegene Destille aufzumachen. Und was dieser Tor Petter W. Christensen dann auch noch an Marketing-Blub-Blub produziert, ist an verlogener Widerlichkeit kaum zu überbieten, ja hält der uns den alle für total blöde? Biv, so wird man belehrt, steht in einem alten Norwegischen Idiom für zitternd, wackelig, und Rost für Weg, Pfad, und zusammen bedeutet Bivrost Nordlicht, und das Nordlicht sei von den alten Wikingern als der wacklige, gefährliche Weg nach Asgard, den Wikinger-Himmel gesehen worden, im dem ruhmreich in der Schlacht verreckte Krieger ihren verdroschenen Arsch auf ewig in Puderzucker wälzen konnten. Für Menschen war dieser Pfad voller Fährnisse, nur die Götter konnten ihn gefahrlos nutzen, wenn es ihnen in Asgard zu langweilig wurde und sie ein wenig menschliche Abwechslung suchten. Ein Gin benannt nach dem Weg in’s Jenseits, das hat was … was Geschmackloses, fast so geschmacklos wie der Belgische Amuerte oder der Britische Black Death. Dann folgen Tiraden über Wikinger, Trinkrituale, Götter, Helden, Natur, Heimat, small batch, handcrafted, reinstes, 5.000 Jahre altes Gletscherwasser, local botanicals … Apropos local botanicals: „Our products are based on pure Arctic ingredients. We source local plants, herbs and berries, which contain high levels of omega-3 and are rich in antioxidants.” schreiben die Macher des Bivrost Gins. Meines Wissens wächst weit und breit um den 69. nördlichen Breitengrad nix, aber rein gar nix, aus dem man was vergären könnte, um Alkohol draus zu machen, es sei denn vielleicht Moose-Maische oder alkoholisch vergorenes Robben-Fett. Das heißt aber, das dieser ehemalige Hersteller von nachhaltigen Öko-Toiletten und ähnlichem Umwelt-Unfug Roh-Alkohol oder Maische tausende von Kilometern in seine nördlichste Destille der Welt karren lassen muss, um dort dann seine Guru-Gure-Schnäpse mit pure Artic ingredients zu finishen. Das ist alles so verlogen, ebenso verlogen wie die ganzen gekauften Goldmedaillen und Auszeichnungen, die die Macher für ihr Machwerk in kostenpflichtigen Wettbewerben erworben haben.
Ach ja, der Bivost Gin selber, der kann ja nichts zu alledem. Es gibt ihn in einer aufwändigeren blauen und einer betont schlichten hellen Flasche, 35 EURO für den halben Liter ist mittleres Preissegment, kräftige 44 Umdrehungen, schwacher Geruch nach künstlichen Fruchtesthern und Banane (ich bestehe auf Banane, die hier ja nun rein gar nix verloren hat, aber Caro meint ebenfalls, Banane gerochen zu haben), geschmacksarm auf der Zunge, ein leichter Hauch künstlichen Himbeer- und Brombeeraromen im Abgang, danach Leere im Maul. Der Bivost könnte glatt als etwas seltsamer Vodka durchgehen, aber als Gin hat er das Thema komplett verfehlt.