„Wollt Ihr einen Hotspot Wiens sehen?“, fragt Siegrid. „Dann gehen wir kurz in die Sky-Bar. Die gibt’s zwar schon seit den späten Neunzigern, aber jetzt ist sie richtig angesagt, und keiner weiß so genau, warum.“ Wir gehen raus in die Kälte, laufen am Stadtpark entlang die Johannesgasse, über den Ring, bis zur Kärtner Straße, kurz rechts, dann stehen wir vor dem Eingang zu einer Art Shoppingcenter mit allerlei Tinnef-Geschäften, in denen der nicht enden wollende Schwall von Touristen Tag für Tag gehörig abkassiert wird; kein Wiener käme je auf die Idee, in der Kärtner Straße einkaufen zu wollen, der echte Wiener geht natürlich in die Mariahilfer Straße zum Shoppen. Nichts deutet hier auf eine In-Kneipe hin, wo sonst jede Würstchenbude mit großen, schrillen Schildern beworben wird, aber vielleicht ist das ja ein Teil des Geheimnisses. Irgendwo innen führt ein Panoramalift nach Oben, vorbei an den Geschäften, und irgendwann steht man dann im Eingangsbereich der Sky-Bar, rechts Restaurant, links Bar, nobel wird man nach der Reservierung gefragt, „Wir haben keine, wollen nur kurz was trinken, sind nach einem Drink wieder weg.“, sagt Siegrid burschikos und lässt den Fragenden nicht nur symbolisch, sondern auch wörtlich links liegen, wir folgen ihr. Die Bar ist halt ne Bar, nichts, was einen vom Hocker risse: lange, gewölbte Theke aus hellem Holz, passend zur Wandverkleidung, ein paar Barhocker, niedrige beige Ledersessel mit kleinen runden Tischchen davor, Boden aus dunklerem Holz, stimmiges Lichtkonzept, wenn Sommer wäre, könnte man auf der Terrasse in Rattan-Imitat-Möbeln unter hell-beigen Sonnenschirmen sitzen, das Dach des Stephansdoms mal – vorbei an Satellitenschüsseln, hinweg über reichlich unspektakuläre Innenhöfe und Dächer des 1. Bezirks – von der Südseite betrachten (da hat man von der – miserablen, überlaufenen und überteuerten Onyx Bar im miserablen, überlaufenen und überteuerten DO & CO Hotel des Catering-Tycoons Attila Doğudan vis à vis vom Stephansdom einen deutlich besseren Blick (sofern nicht, wie so oft, dauerknipsende Asiaten und Imperial-Amerikaner die Fensterfront verstellen) oder auch – allerdings von der Ferne, dafür aber auch mit Überblick – vom LOFT Restaurant Bar und Lounge im 18.Stock des neuen Sofitel im 2. Bezirk direkt am Donaukanal; hier verantwortet jetzt Carsten Kypke, manchem vielleicht noch aus dem Bellevue Palace in Bern oder dem Rathaus in Rapperswil in Erinnerung, wo er frischen Wind in Schweizer kulinarische Behäbigkeit brachte, die Küche und versucht mal wieder den Spagat zwischen Wiener Tradition, Sterne-Firlefanz, Ami-Fütterung und Asia-Cross-Over; spätestens beim Rindertatar mit Auster auf der Karte wird mir persönlich klar, dass das mal wieder nichts werden kann); Skybar, da stelle zumindest ich mir was anderes vor als eine Kneipe mit Terrasse im 6. Stock eines Einkaufszentrum mit Blick über Innenstadt-Hinterhöfe, aber was soll’s: „Hauptsach, mir san in!“, sang die Spider Murphy Gang weiland. „Einer meiner Klienten hat mich das erste Mal hierher geschleppt …“ „Klienten?“, unterbreche ich Siegrid, ich dachte, Du bist Ärztin mit Patienten.“ „Ich ziehe den Ausdruck ‚Klienten‘ vor, ‚Patienten‘, das klingt so nach krank, und krank sind die ja alle wirklich nicht, außer vielleicht manchmal …“ – Siegrid hält nachdenkend kurz inne, um dann fortzufahren – „… meistens im Kopf.“ Der Kellner bringt uns die Barkarte, und ich muss zugeben, so wenig mich die Location selber bisher beeindruckt hat, die Barkarte tut es in der Tat. Der Martini Cocktail wird hier angeboten mit dem – durch seine starke Zitrus-Note recht gewöhnungsbedürftigen – Bulldog Gin, natürlich trockenem Martini und – statt Olive oder Lemon Twist – ganz klassisch und traditionell mit Angostura Bitter, was wiederum zu der Zitrusnote sehr gut passt, aber heute gänzlich aus der Mode gekommen ist. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen echten Martinez auf eine Barkarte gesehen habe, wieder ganz klassisch mit Bols Genever, Martini Rosso und Maraschino von Monin (der Firmensitz von Monin ist in Bourges, und Bourges ist eine der Partnerstädte Augsburgs; nahezu alle Gäste aus Bourges, die im Rahmen diverser Austausch-Programme über die Jahre bei uns zu Gast waren, brachten Monin-Sirups als Gastgeschenke mit, ich kann das Zeugs nicht mehr sehen, Monin ist heute in den meisten besseren Bars zwar Standard, aber da gibt es weitaus besseres, bei Maraschino z.B. der Maraska aus Zadar). Der wird tatsächlich mit Champagner – zwar nur Moet & Chandon, aber immerhin – aufgegossen; auch die Caipirinha wird ohne den vermaledeiten Limejuice gemacht, nur frisch zerdrückte Limetten, brauner Zucker, dazu echter Cachaca, leider einer, der im Holzfass nachreifte, und die Barrique-Note passt so gar nicht zur Frische der Limetten. Bei allem anfänglichen Nörgeln, diese Karte ist sehr, sehr guter, gehobener Cocktail-Bar Standard, klassische Rezepte, gute Spirituosen, große Auswahl, ich bin beeindruckt. Unvermittelt prustet Caro, die bisher still neben mir ins Studium der Barkarte vertieft saß, heraus: „Den will ich!“ und zeigt auf ein Cocktail-Monstrum namens Pornstar Martini in der Karte, mit Vanille aromatisierter Stolichnaya Vodka, Passionsfruchtlikör, Granatapfel-Sirup, Limetten und Prosecco, eine Mixtur, die wahrlich zu halten verspricht, was der Name ankündigt. Das tut Caro gewiss nur, um mich zu ärgern, „So etwas trinkt doch kein Mensch, der bei Verstand ist!“, knurre ich, „Kopfschmerzen sollst Du bekommen, und Magengrummeln!“ „Alter Martini-Purist, ach was, Martini-Asket!“, lacht mich Caro an und nimmt mich in den Arm; wie bitte soll man da verärgert sein, alles macht sie mir kaputt! So gut das Bar-Angebot von der Papierform her ist, so lala ist dann wieder die Bar-Leistung selber. Als ich mein Sprüchlein vom „extra, extra trockenem Martini, nur gewaschenes Eis, allen Wermut abgegossen“ aufsagen will, fällt mir der Keeper in’s Wort: „So etwas machen wir hier nicht, wir gießen keinen Alkohol weg. Wir parfümieren das Eis mit einem Flacon.“ Geht im Prinzip ja auch, denke ich mir, gleichwohl so richtig trocken kriegt man den Martini damit nicht. Eigentlich sollte ich den Kerl jetzt anblaffen, dass mir scheißegal ist, was die hier sonst machen, und dass ich der Gast bin und einen klaren, deutlichen, problemlos erfüllbaren Wunsch geäußert habe und dass der gefälligst seinen arroganten Hintern bewegen soll und mir meinen Wunsch erfüllen. Aber ich habe an dem Abend keine Lust zu blaffen, statt dessen drei Dinge. Erstens: Der Barkeeper in der Skybar in Wien hat sich zumindest mir gegenüber ziemlich arrogant und unprofessionell verhalten. Zweitens: Auch die sonstige Bar-Leistung ließ an dem Abend, an dem wir dort waren, deutlich zu wünschen übrig. Drittens: Ich werde die Skybar ohne Not nicht wieder betreten und kann einen Besuch alldorten auch nicht empfehlen. So, dem hab‘ ich’s gegeben, ich großer Held. Unsere Drinks jedenfalls werden nicht mit kaltem Bareis gemixt, sondern mit Eis aus dem Thermo-Kübel, die Gläser werden aus dem Tiefkühler genommen, lange bevor die Drinks fertig sind (mit dem Erfolg, dass die Gläser wieder zimmerwarm sind, als die Cocktails reingegossen werden), Siegrids Champagner ist der Nachtwächter (der Rest aus einer am Vortag geöffneten Flasche), den sie empört zurückgehen lässt, Caro schaut ausgesprochen sparsam in ihren Pornstar Martini, der allein vom Geruch her seinem Namen alle Ehre macht, nur Mona hat alles richtig gemacht mit ihrem doppelten Zacapa XO. Und bei einem Glas Schnaps für 60 € und 3 Getränken für zusammen nochmals fast 50 € hätte ich schon ein paar Nüsslein oder so auf dem Tisch erwartet, aber auch die gibt’s nicht, also bestellen wir für 7,00 € zusätzlich zwei Portionen angeblich hausgemachte Chips zum Knabbern. „Warum also Klienten und nicht Patienten?“, nimmt Mona die vormalige Diskussion wieder auf. „Ach weißt Du, Patienten sind krank, sie haben ein Gebrechen, das ihr Leben bedroht, das Schmerzen bereitet, das die Lebensqualität beeinträchtigt, das die Mobilität einschränkt … all das ist meinen ‚Kunden‘ ja nicht der Fall.“ „Und wie findest Du dann Deine ‚Kunden‘?“, will Caro wissen. Sie nippt kurz an ihrem Pornstar Martini, verzieht das Gesicht und fährt fort: „Sitzt Du in Deiner Praxis und wartest, oder schaltest Du Anzeigen, oder was?“ „Eine eigentlich Praxis habe ich ja gar nicht, ich habe in einer alten Villa draußen in Hietzing eine Etage gemietet, imposanter Eingang, großes Vestibül, pompöser Besprechungsraum, ein kleiner Untersuchungsraum, ein Büro für mich, eines für die Buchhaltung, Raum für die Sprechstundenhilfe, Kaffeeküche, mehr brauche ich eigentlich nicht. Ach ja, und ein großes, eingewachsenes Parkgrundstück um das Haus, in das man diskret, ohne gesehen zu werden, reinfahren kann und das Haus ungesehen betreten, totale Diskretion, das ist ganz wichtig. Ich habe noch nicht mal feste Belegbetten, und dass, obwohl ich wahrscheinlich eine der am besten verdienenden Chirurginnen Wiens bin, …“, Siegrid sagt das ganz ohne Angabe oder Stolz, als würde es ihr nichts bedeuten, so en passant halt, „ … ich miete die Betten so, wie ich sie gerade brauche. Einerseits, viele Operationen habe ich eh‘ nicht in Wien, aber wenn, dann wollen meine Klienten meist einen ganzen Gang oder eine ganze Etage, nicht nur für sich, sondern auch gleich für ihr ganzes bucklichtes Gefolge. Aber meistens reise ich mit meinem OP-Team zu meinen Klienten, gerade die Araber finden es immer wieder toll, eine komplette 737 zu schicken, um uns abzuholen, ansonsten fliegen wir First Class, habe ich so in meine AGBs reingeschrieben, und bisher hat sich noch keiner beschwert, dass sind da auch eher Peanuts.“ Siegrid nimmt einen kräftigen Schluck von ihrem Champagner – sie ist nicht der Typ, der fein am Glas nippt – und wirft Caro einen Blick zu, der mich schon wieder unruhig werden lässt. Was für Siegrid Peanuts sind, das ist für mich wahrscheinlich ein Monatslohn, aber zu Glück interessiert Caro so etwas reichlich wenig – hoffe ich. „Anfänglich“, fährt Siegrid fort, „da hat mich dieser ganze Jet-Set-Zirkus noch fasziniert und beeindruckt, heute langweilt das alles nur noch, ist aber zumindest praktisch. Mir tun die Leute leid, die sich über so einen Quatsch definieren müssen.“ „Das beantwortet aber noch nicht meine Frage, wie Du Deine ‚Klienten‘ findest.“, hakt Caro nach. „Schon in meiner Assistenzarzt-Zeit war ich in meinem Fach äußerst geschickt, mein alter Professor sagte immer, das liege allein an meinen göttlichen – so nannte er sie wirklich – Händen. Nun ja, und Kerle lassen sich nun viel lieber von einer Frau da rumfummel und furwerken als von einem Mann. Und so kam eins zum anderen. Heute werde ich in gewissen Kreisen als ‚Geheimtipp‘ rumgereicht, Männer tuscheln meinen Namen auf Luxuspartys hinter vorgehaltener Hand, meine Adresse wird auf Servietten geschrieben und heimlich eingesteckt, zuweilen sollen die Kerle sogar gemeinsam auf’s Klo gehen, um meine Leistungen live vorzuführen … äh, habe ich gehört.“, stammelt Siegrid jetzt doch etwas verlegen ob ihres offenherzigen Redeschwalls. Die Weiber grinsen sich vielsagend an, ich bin gerade peinlich berührt, aber in der Minderheit. „Wollen wir weiter?“, frage ich, „So toll find‘ ich’s hier nun auch nicht. Warum ist der Laden eigentlich so angesagt?“, frage ich Siegrid, die uns ja hierher geschleppt hat und die schließlich in Wien lebt. „Wenn ich das recht sehe, dann sind es die Live-Acts, die hier regelmäßig stattfinden, später am Abend. Die müssen teilweise ziemlich genial sein. Außerdem kann man den ganzen Schuppen für Privatveranstaltungen mieten, samt Catering und allem. So bin ich ja auch das erste Mal hierher geraten, die Botschaft von so’nem Typen hatte den ganzen Laden für eine Fete gemietet, und als ‚intime Freundin des Herrscherhauses‘“ – Siegrid lächelt hintergründig – „war ich halt auch eingeladen. Habe an dem Abend auch gleich zwei neue Klienten gewonnen.“ „Wollen wir zahlen?“, insistiere ich. „Ich nehme noch einen Rum“, sagt Mona, „draußen ist’s kalt.“ „Ich schließe mich an“, sagt Siegrid, „nur mit diesem Champagner wird’s heute Abend nichts.“ „Und ich brauche was, um diesen grässlichen Pornstar runterzuspülen!“, sagt Caro, und ich sage schadenfroh “Told you so.“ „Arschloch!“ antwortet Caro zärtlich. Ich gehe an die Theke, bestelle noch vier doppelte Rum für 60 € das Glas (man gönnt sich ja sonst nichts) und zahle auch gleich für alle. Das Grabes-Gesicht des Kellners, als ich schon wieder keine Anstalten mache, auch nur einen Cent Trinkgeld zu geben, macht den ganzen Ärger über den arroganten Mixer und die mäßigen Drinks wieder wett, und ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob er uns nicht vielleicht in die Rum gespuckt hat, aus Rache, so böse wie der guckte … „Gibt’s Keita noch?“, fragt Mona. „Klar!“ antworten Siegrid und ich fast zeitgleich. „Also Keita?!“ fragt Mona in ihrer typischen Art, wo Frage und Befehl zu einer Einheit verschmelzen. „Also Keita.“ Antworten Siegrid und ich wieder uni so. „Who the hell is Keita?“ fällt Caro ein. „Trust me. I know what I’m doing.“ antworte ich ihr mit den unsterblichen Worten von David Rasche in seiner Rolle als Sledge Hammer. Wir trinken unsere Gläser schneller aus als es vielleicht gut ist, bei einem 40prozentigen Rum, schnappen unsere Sachen, verlassen grußlos im Pulk das Etablissement, fahren nach unten, mummeln und dick ein, ein kalter Wind schlägt uns von draußen entgegen, wir überqueren die noch immer gut frequentierte Kärtner Straße, es nieselt, am Neuen Markt finden wir zum Glück sofort ein Taxi, die Mädels quetschen sich zu dritt auf den Rücksitz, ich darf nach vorne, komfortabler, aber weniger kuschelig, außerdem darf der, der vorne sitzt, zahlen.