Mona hat angerufen. Sie ist auf dem Weg nach Moldawien und hat einen Stopover in Wien, den sie über’s Wochenende verlängern will, um uns zu sehen. Siegrid hat sie schon gesprochen, die hätte Zeit, wie es bei mir aussähe. Klar habe ich Zeit, ich habe fast immer Zeit, um Mona und Siegrid zu sehen. Und Caro solle ich mitbringen, sagt Mona, die würde sie auch gerne einmal wiedersehen.
Freitag habe ich dann früher Schluss gemacht, Caro abgeholt, ohne Stau über den Irschenberg und das Deutsche Eck, die Westautobahn schrubben wir brav mit 130 in Kolonne runter, zum Sonnenuntergang sind wir in Wien. Einchecken im Hotel, kurz Duschen, mit der D-Linie fahren wir von der Oper nach Nussdorf, vorbei an einer vermaledeiten Plachuta-Filiale mehr, zum Gasthaus Renner. Hier habe ich schon meinen Tafelspitz gegessen, als der alte Werner Renner, seit 2011 sogar Kommerzialrat Renner noch selber hinter der Theke stand, Andechser Bier zapfte (tatsächlich, hier gibt es traditionell Andechser Bier, mitten in Österreich) und höchstpersönlich das servierte Fleisch selber schlachtete und zerlegte. Heute hat Susanne Beer das Zepter in den Gaststuben übernommen, aber merklich geändert hat sich (zum Glück) nichts, noch immer wird jeden Monat ein Milchkalb aus dem Pielachtal im der hauseigenen Fleischhauerei geschlachtet, dazu etliches anderes Getier, vorwiegend aber Rind, denn der Renner ist ein klassisches Wiener Rindfleischlokal. Die schönsten Fleischstücke begrüßen den eintretenden Gast in einer gefliesten, gekühlten Wandnische hinter einer großen Glastür (lange habe ich – auch wenn man’s nicht merkt – an dieser Formulierung gebastelt: das ist kein konventioneller Kühlschrank, das ist auch kein Kühlraum, es ist halt tatsächlich eine geflieste Wandnische mit Kühlung und Glastüre, neuerdings steht hier noch was von dem heutzutage wohl unvermeidlichen „dry aged“ auf einem Schild). Für den sehr schönen Gastgarten im Innenhof ist es leider zu kalt, wir sitzen in der Schankstube, blanker Steinfußboden, halbhoch holzvertäfelte Wände, grobschlächtige Tische und Stühle, Papierservietten, allerlei zierender Tinnef und Bilder an den Wänden, alles blitzsauber und aufgeräumt: unprätentiös würde ich das nennen, unaufgeregt, ganz entspannt im Hier und Jetzt. Hier erschaudert man als Gast nicht ehrfürchtig beim Eintreten, hier wartet man nicht wie in bestimmten „In-Lokalen“ im Türrahmen auf beschürzte Schießhunde, die einem dann höflich, aber bestimmt mitteilen, dass ohne Reservierung gar nichts geht, hier geht man rein, schaut, ob auf einem Tisch kein Reserviert-Schild steht und hockt sich nieder, so einfach ist das beim Renner. Dann kommt die Bedienung im Dirndl-ähnlichen Gewand, murmelt freundlich auf Wienerisch mit leicht tschechischem Einschlag „Bist o mal wieder do? Was woll’zern trinka?“ und reicht uns die Speisekarten. Klar trinkt man als Pifke beim Renner Wein, genau genommen Österreichischen Wein, denn andere gibt’s nicht (und auch das ist gut so). Die offenen Bouteillen wechseln, ich weiß nicht, nach welchem Prinzip, diesmal werden gleich zwei Gemischter Satz aus Wien angeboten, einer davon vom Christ in Jedlersdorf. Gemischter Satz, das ist auch wieder so eine Spezialität der Weinbauern in Wien und in der Steiermark: das ist keine Cuvée, sondern für den Gemischten Satz werden verschiedene Rebsorten – u.a. Grüner Veltliner, Riesling, Gewürztraminer, Grauburgunder, Chardonnay, Neuburger, Weißburgunder – in einem Weinberg angebaut, gemeinsam geerntet, gekeltert und vinifiziert. Solche Lagen für Gemischten Satz sind i.d.R. durch die Sortenvielfalt die gesündesten, robustesten, vielfältigsten, kräftigsten Weinberge. Durch die unterschiedlichen Sorten, Reifegrade, Zucker- und Säuregehalte usw. ist Gemischter Satz unglaublich komplex, aber – im Gegensatz zur Cuvée – nur sehr bedingt durch den Winzer steuerbar; hier brechen sich die Natur und das Wetter einen direkten Weg in’s Weinglas (und auch das ist gut so). Caro und ich trinken also Gemischten Satz. Vor dem Essen ist eine Portion von „Renners Pragerschinken“ mit frisch geriebenem Kren (=Meerrettich) Pflicht; beim Renner ist der Pragerschinken – Jungschweinekeulen werden mehrere Wochen mit Salz, Kräutern und Gewürzen gepökelt, dann über Buchenholz geräuchert und schließlich noch gekocht – unglaublich zart, mürbe und doch kräftig, kein Vergleich zu dem oft zähen, fast violett schimmernden Gummizeugs, das manch andere als Pragerschinken anbieten. Der Renner ist – wie gesagt – ansonsten ein klassisches Wiener Rindfleisch-Lokal; Schnitzel und Schweinegerichte werden zwar auch in verschiedenen Varianten angeboten, die sind nicht schlecht, aber die gibt’s woanders besser. Zum Renner geht man wegen des Rindfleisches (dieser Genitiv geht an Herrn Axel K. aus G. – private Joke). Allein vom gekochten Ochsenfleisch gibt es ein halbes Dutzend verschiedene Versionen: Tafelspitz, Weißes Scherzel, Hüferschwanzel, Beinfleisch, Schulterscherzel, sogar eine Ochsenzunge. Dabei kennt die Wiener Küche noch viel mehr kochbare Stücke vom Rind: Tafelstück, Schwarzes Scherzl, Mageres Meisl, Fettes Meisl, Paffenstück, Bürgermeisterstück, sogar eine Fledermaus gibt es (so nennt man in Wien das Schalblattel). Das gekochte Rindfleisch wird traditionell im Topf in Brühe mit Karotten, Gelben Rüben, Lauch, Sellerie und Petersilienwurzel serviert. Zuerst isst man einen Teller der Brühe als Vorsuppe, dazu kann man sich noch Leberknödel, Frittaten (Pfannkuchenstreifen) oder Nudeln bestellen. Zum gekochten Rindfleisch gibt es traditionell Röstkartoffeln (das sind in Wien keine Bratkartoffel, hier werden gekochte Kartoffeln in vielleicht Daumennagel-große Scheibchen gehobelt, mit Zwiebeln und recht viel Fett rasch gebräunt, in eine runde Form gedrückt und sodann auf den Teller gestürzt) und entweder Cremespinat oder Schnittlauchsauce und Apfelkren serviert; ich streite ebenfalls traditionell mit den Bedienungen, weil ich immer beides haben will. (Falls auf einer Speisekarte übrigens „Semmelkren“ erscheint: Finger weg, das ist ein schleimiges, überflüssiges Zeugs!) Ich esse heute das Weiße Scherzel, das besonders mürbe und mager ist, und alles ist wie immer perfekt. Caro hat auf der Speisekarte den Vanillerostbraten entdeckt, auch wieder so eine Wiener Spezialität. Knoblauch, so sagte man früher in Wien, sei die Vanille des armen Mannes, und so ist ein Vanillerostbraten gebratener toter Ochse mit viel Knoblauch, hier sind es zwei dünne, durchzogene, aber gut abgehangene und zarte Scheiben vom Beiried, dazu gibt es ein kurzes Sößchen und Braterdäpfel, die wieder etwas völlig anderes sind als Röstkartoffeln, nämlich gebratene Viertel von gekochten Kartoffeln. Statt Nachtisch teilen wir uns eine Platte mit Österreichischen Käsen, hier schwafelt niemand von affiniert und so, das sind einfach gut gemachte, gut gelagerte, perfekt ess-reife einheimische Käse, Rotschimmel und passierter Grünschimmel von der Kuh, Weißschimmel und Frischkäse vom Schaf, Schnittkäse und Weißschimmel von der Ziege – wo sonst findet man solche Vielfalt jenseits der Spitzengastronomie? Dazu leisten wir uns eine rote österreichische Cuvée, besonders im Burgenland machen hier junge Winzer zwischenzeitlich ganz famose Dinge, die noch gar nicht so recht vom Wein-Establishment wahrgenommen werden, z.B. der „In Signo Leonis“ vom Heribert Bayer aus Neckenmarkt, die „Cuvée Kerschbaum“ von Paul Kerschbaum aus Horitschon, ganz phantastisch der „Phantom“ von Walter und Irmgard Kirnbauer aus Deutschkreutz und der „Vulcano“ vom Hans Igler auch aus Deutschkreuz. Zurück nehmen wir ein Taxi in die Philharmonikerstraße, nach dem Tag sind wir beide zu müde, um noch auf die Bim – wie die Wiener liebevoll ihre Straßenbahn nennen – zu warten, und – woast eh, Taxi san büllig in Wean. Selbst für einen Absacker in der Hotelbar sind wir zu müde, wir fallen nur noch in’s Bett.