Tja, jetzt war es wieder mal soweit. Ein, zwei Mal im Jahr muss ich zu Riedel, sei es in’s Stammhaus nach Kufstein, sei es in die Outlets nach Spiegelau oder Neustadt oder in eine der anderen, strategisch geschickt über die Republik verteilten Direktverkaufsstellen. Diesmal war ich aus gegebenem Anlass direkt in Kufstein im Werk. Warum? Bei ein paar hundert Riedel-Gläsern im Schrank geht immer mal wieder was kaputt und will nachgekauft sein. Tja, und wie ich zu Riedel gekommen bin, das war folgendermaßen:
Es war in den Neunzigern des letzten Jahrtausends, ich hatte gerade angefangen, ordentlich Geld zu verdienen, so ordentlich, dass am Monatsende noch was auf dem Konto war und wir anfangen konnten, uns gewisse Sperenzchen zu leisten. Da begab es sich recht schnell, dass mir eine Einladung zu einer Weinverkostung – und das auch noch kostenlos – der etablierten Glasmanufaktur Riedel auf den Schreibtisch flatterte. Warum eine Einladung zu einer Weinverkostung von einer Glasmanufaktur, und warum auch noch kostenlos, das waren zwei sehr gute Fragen, die ich aber – stolz wie Bolle, nun zu diesen Kreisen zu gehören – sehr schnell wieder verdrängte, gleichwohl ich im Nachhinein sagen muss, es wäre gut gewesen und hätte von Verstand und Instinkt gezeugt, just diesen Fragen doch noch ein Wenig nachzugehen. Nun gut, ich tat es nicht, statt den Fragen nachzugehen gingen wir einige Tage später des Abends zu besagter Weinprobe in einem Veranstaltungsraum eines ziemlich guten Hotels. Die anderen Teilnehmer waren zumeist ebenfalls Paare zwischen 30 und 40, und alle zählten offensichtlich weder zu bildungsfernen Schichten noch zu Geringverdienern. Nach einem plaudernden Stehempfang bei einem Glas Schaumwein setzte man sich an einen Platz, auf dem – glaube ich – sechs verschiedene Gläser auf einem großen Blatt Papier standen, jedes Glas akkurat in einem vorgezeichneten Kreis, daneben stand die Bezeichnung und eine Beschreibung des Glases und seiner vorgesehenen Verwendung, so in etwa „Der große Kelch dieses handgefertigte Bordeaux Glases der Serie so-und-so bringt die ganze Tiefe zeitgenössischer Weine aus Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc und Merlot zum Vorschein und überzeugt durch eine tadellose Qualität.“ Dann begann die Verkostung, vorne im Saal eine Rotte Riedel-Mitarbeiter und ein Winzer, zuerst stellte der Winzer einen seiner Weine vor, dann ein Riedel-Mitarbeiter das dazu perfekt passende Riedel-Glas, junge Damen gingen durch die Reihen, schenkten ein, wir kosteten alle mehr oder minder bar jeglichen Sachverstands, ließen ein höfliches „Oh“ oder ein verzücktes „Ach“ vernehmen und starteten das Fachsimpeln mit unseren Zufalls-Nachbarn über Farbe, Schlieren, Nase, Säurespiel, Abgang, … Rhabarberrhabarberrhabarber und hast’e nich gesehen. So ging das eine ganze Zeit über verschiedene Weine – im Nachhinein meine ich, unsere Gastgeber wollten eine gewisse Grund-Trunkenheit sicherstellen, aus gutem Grunde – bis endlich der Sack mit der freiheitsliebenden Katze kam. Wieder wurde ein Wein vorgestellt, eingeschenkt, verkostet, beschwafelt, dann ein weiterer Wein vorgestellt, in ein anderes Glas eingeschenkt, beschwafelt „… viel mehr Säure als der vorherige, deutlicheres Bouquet, und ja-ja, dieser Abgang …“, tja und dann lies der Verköstigungs-Leiter von Riedel geradezu begeistert das arme Viech aus seinem Sack: das seien nämlich gar nicht, belehrte er uns stolz, zwei verschiedene Weine gewesen, sondern ein und der selbe Wein aus unterschiedlichen Riedel-Gläsern, solchen massiven Einfluss haben die (Riedel-)Glasform auf den Weingeschmack. Wir waren in der Tat perplex, nicht ein Einziger aus der Truppe hatte gesagt „Du Idiot, das ist doch ein und der selbe Wein!“, aber angesichts unseres kaufkräftigen Dilettantismusses und dem geballten Sachverstand unserer Gastgeber hätte sich das auch niemand getraut. Was folgte war wahrscheinlich Robert King Mertons self-fulfilling prophecy in Reinkultur: ein Wein wurde nun stets in zwei unterschiedliche Gläser eingeschenkt, und alle versuchten geradezu neurotisch, die Geschmacksunterschiede aufgrund der unterschiedlichen Gläser zu finden, und wenn es keine gegeben hätte, so hätten wir sie uns selbst-suggeriert. Keine minderbemittelte Omma auf einer Hardcore-Kaffeefahrt kann so davon überzeugt worden sein, im nächsten Winter mit Gewissheit elendiglich zu erfrieren, falls sie nicht sofort sechs dieser überteuerten, minderwertigen Heizdecken ersteht, wie wir an diesem Abend, dass der Geschmack in erster Linie ja gar nicht vom Wein, sondern vom Glas stammt. Es endete, wie es enden musste, wir orderten am Ende des Abends – nichts von wegen kostenlose Weinprobe, vielmehr trickreiche Direkt-Verkaufs-Veranstaltung, so eine Art Kaffeefahrt für bessere Kreise mit Eigen-Anreise – erstmal 6 Weiß- und 6 Rotweingläser, allerdings aus der wohlfeilen Serie Vinum und nicht der hochpreisigen handgefertigten Serie Sommelier, um unserem bisherigen önologischen Barbarentum zu entfliehen.
Ach, und dabei ist es dann bis heute geblieben, aus diesem Dutzend Riedel-Gläsern von damals sind inzwischen einige Hundert geworden, mittlerweile zieren / verstopfen jeweils ein oder zwei Dutzend (auch so eine Marotte von mir, Geschirr, Gläser, Besteck kaufe ich prinzipiell nur im Dutzend oder einem Vielfachen davon) Weiß-, Rot-, Süßweingläser, Riesling-, Schnaps-, Sekt-, Tonic- und Cocktailgläser unseren Barschrank, die Wassergläser und Schnapsstamperl stammen aus alter Verbundenheit von Spiegelau (was ja auch längst zu Riedel gehört), und in einem Anfall nostalgischer Geschmacksverirrung bin ich im vergangenen Jahr bei den Cocktail-Schalen auf die anachronistischen geschliffenen Kristallglas-Monster von Nachtmann verfallen, aber die sind schön dick und schwer und halten die Kälte länger (und gehören auch längst zu Riedel). Nur bei den Alltags-Wassergläsern sind wir immer bei den zeitlos schönen und robusten Gläsern geblieben, die Kaj Franck für die Finnische Firma Iittala designt hat. Nach 25 Jahren und ich weiß nicht wieviel tausend EURO Riedel Glas muss ich sagen, alle Gläser sind bis heute nachkaufbar, wenn mal was kaputt geht, was gerade bei kleinen Kindern, trunkenen Gästen und tapsigen Küchenhilfen öfter mal der Fall ist, die Gläser sind trotz ihrer relativen Filigranität recht stabil und robust, und sie sind – sowohl was Bruch als auch was Trübung anbelangt – kompromisslos Spülmaschinen-geeignet. Mit +/- 20 EURO pro Glas ist die Vinum-Serie nicht wirklich preiswert (die Sommeliers-Serie kostet rd. das Doppelte), aber man findet auch immer wieder Sonderangebote oder im Outlet sogenannte „Zweite Wahl“ (wobei ich persönlich nicht glaube, dass das alles zweite Wahl ist, eben so wenig wie z.B. bei Rosenthal, sondern schlichtweg versteckte Rabatte, um den Handel zu umgehen). Damit bin ich noch lange kein Hard-Core-Riedel-Fetischist, von denen ich auch einige kenne. Fast jedes Jahr bringen die Kuftseiner eine neue Glasform für noch eine Reb- oder Weinsorte heraus (und sind dabei längst nicht mit allen durch), parallel haben sie eine neue Glas-Serie ohne Stil gelauncht, mit der sie jetzt auch alle Weine- und Getränkesorten durchnudeln (persönlich finde ich ja ein Stil-freies Bordeaux-Glas mehr stillos), dazu Sondereditionen, farbige Gläser, Designer-Gläser, spezielle Gastronomie-Gläser, dann diese ganzen monströsen gläsernen Scheußlichkeiten von Vasen, Schalen, Dekantern, Kunstobjekten, damit treibt Riedel die kaufstarke Kulinar-Schickeria erfolgreich vor sich her, kein Jahr vergeht, wo die einmal angefixte, ansonsten gelangweilte Beraters-Gattin nicht wenigstens ein paar neue Stücke oder Serien von Riedel bräuchte, um den Bessere-Leute-Haushalt Glasmode-technisch up to date zu halten. Dazu kommt eine konsequente Akquisitionsstrategie – Wettbewerber werden geschluckt – und offensichtlich eine aggressive Vermarktungsstrategie in Fernost, halb Asien scheint bereits aus Riedel-Gläsern zu trinken. Rund 60 Millionen EURO Umsatz macht die im Besitz der Familie Riedel befindliche Glashütte Kufstein GmbH damit, und bei 60% Eigenkapital kann man das wohl zu Recht als bumperl-gsunden Mittelständler bezeichnen.
Ach ja, bevor ich es vergesse, ich bin neuerdings stolzer Besitzer eines Dutzends spezieller Gin-Tonic Gläser von Riedel … ich weiß gar nicht, wie ich bisher meinen Gin Tonic getrunken habe … und dabei trinke ich noch nicht einmal Gin Tonic.