Pitchwood Raymond: pralles Hillbilly-Leben in tiefster Provinz

Summa summarum: authentische, sehr rustikale Provinz-Kneipe, widerliches Essen, große Auswahl an lokalen Biere und Schnäpsen, ordentliche Drinks, authentische, sehr rustikale, aber freundliche Menschen

Wir sind den ganzen Tag durch Washington gefahren, die 101 von ihrem Anfang in Olympia, den kompletten Schlenker nach Norden über Port Los Angeles wieder runter nach Aberdeen, dort haben wir auf die 105 entlang der Küste gewechselt, eigentlich wollten wir irgendwo am Meer übernachten, aber alle Etablissements entweder voll oder geschlossen oder mehr als suspekt, in Raymond am Willapa treffen wir wieder auf die 101 und haben endgültig keine Lust mehr. Wir mieten uns in einem ziemlich dubiosen Motel namens Golden Lion Inn an der Ellis Street ein, eine alte Chinesin ohne einen Zahn im Maule zeigt uns ein Kämmerlein mit klammem Bett, speckigem Boden, winzigem versifftem Bad, riesigem altem Röhrenfernseher, ungleich versiffterer Mikrowelle und dem versifftesten (es gibt tatsächlich einen Superlativ von versifft, potzblitz!) Kühlschrank, den ich jemals gesehen habe, dafür lässt sich das trübe Fenster nicht öffnen, die Tür aber dreifach verriegeln, nur Norman Bates fehlt noch, aber die alte Chinesin macht das allemal wett. Die Country Side des Imperiums wie sie leibt und lebt, wir sind mitten in’s pralle, ur-typische amerikanische Leben gefallen. Selber schuld, hätten wir mal im Voraus bei Neckermann all inclusive gebucht. Einerlei, wir sind schmutzig, durstig, hungrig, müde, and almost any motel will do it for tonight. Wir duschen, achten dabei penibel darauf, nicht barfuß auf den versifften Boden zu treten, ziehen uns um, nehmen alles, was von Wert ist, an uns, denn wir vertrauen weder diesem Motelzimmer noch diesen Türschlössern und schon gar nicht dieser chinesischen Vermieterin und treten auf die abendliche Straße. Vis-à-vis des Motels hatten wir schon beim Reinfahren eine Kneipe – Pub, Bar, Restaurant, was auch immer – ausgemacht, wir sind echt hungrig und durstig, und für ein paar Bier und nen Hamburger wird der Schuppen schon reichen, irgendwie. Aber dann kommt es anders. Irgendwie.

Trotz eines milden, wunderschönen Hochsommerabends ist der Schuppen – er heißt Pitchwood Alehouse, war früher eine raue Holzfällerkneipe, seit 9 Jahren unter neuer Leitung, die sich bemüht, gutes Essen, lokale Biere und ein Unterhaltungsprogramm anzubieten – brechend voll, draußen zu sitzen ist nicht so ein Ding der Amis, es sei denn, beim Barbecue, Picknick oder im Stadion. Die Einrichtung ist sehr rustikal, einfachste Kneipenmöbel, immerhin aus Holz, teilweise selbst gezimmerte Bänke, Tresen, Regale, das erinnert ein wenig an bundesrepublikanische Vereinsheime oder Partykeller, gebaut mit viel Eigenleistung, großen Hämmern, wenig Geld und noch weniger Stilsicherheit, aber dafür mit Hirschgeweih. Aber die Auswahl von über zehn lokalen Draft  Bieren ist erfreulich, freilich sind die großen, bunten, werbeschreienden Zapfhähne meist deutlich besser als die Biere selber, eine ziemlich große Batterie harter Spirituosen hinter der mächtigen Theke macht das aber rasch vergessen, sich stilvoll oder auch –los, je nach dem, zu betrinken ist hier keinerlei Problem, Stoff ist genügend da, sogar eiskalter Jägermeister, den Amis graut’s vor nix. Erwartet hätte ich – es lebe das Klischee – in solch einem Etablissement tatsächlich Holzfäller, Rocker, Rednecks, … aber weit gefehlt, hier sitzen Familien mit zehnjährigen Kindern, ältere Ehepaare, fröhliche Gruppen junger Leute, gewiss alles keine High Society und keine Akademiker-Ansammlung, aber eben ganz normale Leute von hier, aus Raymond, sagen will mal – obwohl wir am Meer sind – eher „Hillbillys“. Keine Chance, einen freien Tisch zu finden, aber ein vielleicht sechzigjähriges Paar lädt uns freundlich ein, uns doch zu ihnen zu setzen. Sie stellt sich als Priscilla vor, sie ist die örtliche Veterinärin in Raymond, „but“, fügt sie gleich bescheiden ein, „although I’m formaly a Dr. vet., I’m more a nurse, I delouse or castrate cats, treat little wounds, deworm dogs, splint broken legs, such things, but I do not do surgeries or such things.” Ich habe ehrlich gesagt selten jemand getroffen, der seinen eigenen Beruf gegenüber einem Wildfremden quasi schon bei der Vorstellung so klein und unbedeutend geredet hat, dabei ist Priscilla offensichtlich weder ein verschüchtertes Mäuschen noch eine unterdrückte Ehefrau, ansonsten sprüht sie vor Lebensfreude, Selbstbewusstsein, Neugierde, wenngleich – auch das muss man konzedieren – ihr Horizont nicht ganz bis nach Seattle reicht, geschwiege denn bisd nach Washington D.C. oder gar Europa oder Asien. Ich habe die Hypothese, dass sie die beste Veterinärin des gesamten Nordwestens sein könnte und keinen Bock hat, ständig auf ihr Koryphäentum angesprochen zu werden und irgendwelche blöden Fragen zu beantworten. Er heißt Sam, trägt ein typisches kariertes Holzfällerhemd und eine Kappe, er erzählt uns bar jeder Angabe, wie selbstverständlich, dass er hier mal drei Sägewerke besessen habe, aber die wirtschaftliche Lage sei immer schlechter geworden, so dass er seine Werke geschlossen habe und jetzt als Pensionär ein schönes Leben führe, außerdem kennt er München, er war als Soldat in den frühen Achtzigern dort stationiert.  Für vielleicht ein, zwei Stunden unterhalten wir uns sehr gut und angeregt, nur dummer Weise hat sich Sam jedes Mal, wenn wir uns ein Bier oder einen Whisky bestellt haben, auch einen bestellt, und nach 5 Pint Bier (noch nicht einmal fünf Halbe, und das von der fast Alkohol-freien Ami-Plörre) und ein paar Gläsern Whisky ist er so hacken dicht, dass seine überhaupt nicht amüsierte Gattin ihn Richtung Auto bugsieren muss. Sorry Priscilla und Sam, war keine Absicht.

„Best Burger in southwest Washington“ verspricht die Speisekarte. Machen wir’s kurz: die Burger ekelhaft, die Pommes („Hand Cut Fries made to order with locally grown Ziegler Family Farm organic potatoes“) verbrecherisch, das Clubsandwich zum Kotzen, das Taco mit Salat einfach nur widerlich, das Reuben-Sandwich mit Corned Beef ungenießbar und die gebratenen Austern („locally picked from Willapa Bay, the Oyster Capitol of the World“) einfach nur beschissen (und jetzt gehen mir so langsam die Kraftausdrücke aus). Wir waren beide echt hungrig, aber selten hat man mir solch eine durchgängig miserable Abfolge von verhunzten Lebensmitteln vorgesetzt, und ich rede hier nicht von einer Spur zu viel Senfpulver in der selbst gemachten Mayonnaise, ich rede von fetttriefend, schlecht geputzt, kalt was heiß sein sollte, lauwarm was kalt sein sollte, Konservierungsstoff-Orgien, labberig, sehnig, … Also lassen wir das, in solche Etablissements sollte man wirklich nur mit einem imperialen Gaumen zum Essen gehen, Menschen mit halbwegs normalem Geschmack graust es hier, hier würde es sogar Franzosen grausen, und das will was heißen. Wenn’s schon nichts zu essen gibt, leeren wir halt die Flasche des sehr ordentlichen Woodinville 100% Rye Whiskey, was uns nach dem sechsten oder siebten Glas einen Besuch des Barbesitzers am Tisch einbringt, der selber sehen will, wer hier so kräftig süffelt.

Highlight des Abends – und auch der Grund, warum es heute so brechend voll hier ist – sind drei mittelalterliche Damen in knielangen Kleidchen, die gegen 19 Uhr die kleine Bühne in einer Ecke des Raumes betreten, die dauer-flimmernden Großbildschirme verlöschen und die Mädels spielen mit Fidel, Bass und E-Gitarre traditionelle imperiale Weisen auf und geben dazu gesanglich ihr bestes. Das ist flott und nett und beschwingt, immer ambitioniert, oft schief, aber live und ehrlich. Das Publikum tobt weniger als dass es vielmehr andächtig zuhört, aber ich vermute mal, dieser Auftritt bildet für Wochen das kulturelle Highlight der weiteren Umgebung.

Gegen 21 Uhr verlassen wir das Etablissement hungrig, trunken und müde, wanken in unsere klamme Kammer auf der anderen Straßenseite, verbarrikadieren die Türe so gut es geht, legen uns in Klamotten auf’s Bett und sehen bei  Sonnenaufgang zu, dass wir hier weg und weiter kommen.


Pitchwood Alehouse & Inn
425 3rd St
Raymond, WA 98577
USA
Tel.: +1 (3 60) 9 42 53 13, +1 (3 60) 8 75 85 52
Email: pitchwood@pitchwoodalehouse.com
Online: www.pitchwoodalehouse.com

Appetizers US$ 2,50 bis 12,99, Sandwiches US$ 9,99 bis 14,99, Burgers US$ 19,49 bis 16,99, Pizzas US$ 9,99 bis 14,99

DZ US$ 91 bis US$ 143 pro Nacht (ohne Frühstück)

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