Pariser Lieblingslokale: Chez Jenny (4/4)

Gänzlich anders mein drittes Pariser Lieblingslokal, ein fast schon industrialisierter Großbetrieb, bei dem ich keinen Patron, keinen Koch, keinen Maître d’hôtel, keinen guten, prägenden Geist persönlich kennen würde, vielleicht gibt es eine/n irgendwo im Hintergrund, vielleicht ist das auch einfach nur ein gut gemanagtes Großlokal, einerlei, ich mag es. Jahrelang fand meine Ex-Frau Rechnungen von einem Chez Jenny in meinen Anzügen und entsprechende Abbuchungen auf den Kreditkartenabrechnungen, immer nachdem ich in Paris war. Ich glaube, sie war schon etwas misstrauisch, Chez Jenny wäre ja auch ein prima Name für ein Puff, muss man ja zugeben. Eines Tages jedenfalls flog sie nach Paris, und mit das Erste, was sie tat, war zum Place de la République zu fahren und sich dort das Chez Jenny persönlich anzuschauen. Zu meinem Glück doch kein Puff, sondern ein gestandenes Elsässisches Restaurant, das 1931 zur Pariser Kolonialausstellung von Robert Jenny ursprünglich als Winstub eröffnet wurde. Heute hat sich Chez Jenny zu einer gestandenen Brasserie mit weit über 100 Plätzen auf zwei Ebenen und zur schönen Jahreszeit auch zahlreichen Tischen vor dem Haus unter mächtigen roten Markisen mit Blick auf den quirligen Place de la République entwickelt. Das Interieur ist gediegen, die Wände mit hellbraunem Holz mit Schnitzereien verkleidet, dazu Wandgemälde von Charles Spindler mit Elsässischen Motiven. Schwere Teppichböden, schwere Stühle, mit rotem Kunstleder bezogene Sitzbänke, gelbes Licht von altertümlichen Lüstern, große Kunstpflanzen-Arrangements, wertige Leinen-Tischwäsche, Kellner in schwarzen Anzügen und weißen Hemden, die Atmosphäre ist weder Bistro-ungezwungen-leicht noch Sterne-Fresstempel-steif, sondern irgendwo dazwischen­, und zu den Stoßzeiten ziemlich geschäftig bis zuweilen hektisch. Zur Mittags- und Abendessenszeit brummt das Chez Jenny richtig, und das zu jeder Jahreszeit. Das Publikum hier ist gänzlich anders als im Le Quincy oder im l’évasion, hier werden keine Touristen verscheucht, hier werden alle Kreditkarten akzeptiert, die Preise sind halbwegs erschwinglich (für Pariser Verhältnisse wohlgemerkt). Wegen (ich schreibe nicht Dank) der touristisch bevorzugten Lage mit dem vermaledeiten Crowne Plaza (ein echt mieser Schuppen, dreimal hatte mich meine Sekretärin dort eingebucht … andererseits, nur so konnte ich das Chez Jenny finden) und anderen Hotels rund um den Place de la République sind wenigsten die Hälfte der Gäste Touristen, Amis, die Flammenkuchen zur Cola mit der Hand essen, Koreaner vor einer Choucroute garnie (und wenn die anfangen, die gepökelten Schweinestelzen darauf auszulutschen wird’s echt unappetitlich), Japaner wacker vor einer mehrstöckigen Etagere mit allerlei kaltem, rohen Meeresgetier, Russen beim Champagner, … das ganze touristische Inventar einer Weltstadt halt, die Speisekarte gibt’s nicht nur auf Französisch und Englisch, sondern gleich in acht weiteren Sprachen, eigentlich kein gutes Zeichen für ein Restaurant, sowas ist meist ein sicheres Indiz für eine Touristenfalle. Und das Chez Jenny über www.deliveroo.fr Homedelivery machen lässt, ist auch nicht vertrauenserweckend. Aber die andere Hälfte der Gäste sind tatsächlich Eingeborene, die sich von der Französischen Küche bei gutem Essen kulinarisch erholen wollen, auffallend viele junge Menschen, dazu Geschäftsleute beim leichten Lunch in der Mittagspause oder beim opulenten Geschäftsessen auf Spesen, Rentnerehepaare, Damenkränzchen, ein breiter Querschnitt der Pariser Gesellschaft, der sich ein Essen für 50 EURO oder mehr leisten kann und will.

Kulinarisch hat des Chez Jenny zwei massive Standbeine. Das eine ist natürlich die Elsässische Küche in ihrer ganzen Breite und Qualität, das andere Standbein sind Meeresfrüchte, vorwiegend aus den Häfen der Bretagne und den Austernbänken der Normandie, nur der Hummer kommt aus Kanada (taugt aber auch nichts).  Die Elsässischen Gerichte sind durch die Bank weg authentisch, meist perfekt zubereitet und hervorragend, besser kriegt man das in Colmar oder Barr auch nicht, und schon gar nicht in Straßburg. Ein Salat von grünen Bohnen mit einer klassischen, fast schon altertümlichen Senf-Vinaigrette und gerösteten Haselnüssen, fleischige Burgunder Schnecken, Lothringer Quiche, natürlich Foie Gras mit Pflaumenchutney und getoasteter Brioche, dazu eine Gewürztraminer Spätlese, das alles sind unspektakuläre, un-innovative, aber perfekt gemachte, bereits mächtige Vorspeisen, die dennoch Lust auf mehr machen. Einerseits sind dann da natürlich die diversen Flammenkuchen, ganz traditionell mit Zwiebeln, Speck, Käse oder auch mit Sauerkraut, Munster oder Ziegenkäse mit Honig, aber immer hauchdünn, knusprig, heiß. Andererseits ist da das Sauerkraut. Im Chez Jenny gibt es exzeptionelles Sauerkraut, knackig, fruchtig-säuerlich, wohlriechend, wohlschmeckend, Dank des hohen Durchsatzes in dem großen Lokal immer frisch, schlichtweg schon für sich eine kleine Delikatesse (so man denn Sauerkraut mag), entweder als klassische Choucroute mit allerlei Würsten, Haxen und Fleisch darauf, oder auch mit Hummer, oder Enten-Confit, oder Fisch (Caro liebt das Chez Jenny Sauerkraut mir gebratenem Lachs, ich werde nie verstehen, warum). Daneben bietet die Speisekarte weitere Elsässische Standard-Gerichte, frisch mit dem Messer geschnittenes Tatar vom Charolais Rind (ebenfalls nie verstehen werde ich, warum  die Franzosen zum Tatar Pommes servieren), Kurzgebratenes, Schweinehaxen, Geflügel, das kann man alles essen, das ist ordentlicher Standard, nur die Baeckeoffe ist traditionell lausig im Chez Jenny, ich weiß auch nicht, warum die die nicht hinbekommen.

Das zweite große Standbein des Chez Jenny ist Meeresgetier, allen voran die großen gekühlten Etageren mit Austern, Schnecken, Muscheln, Krabben, Garnelen, Langusten, das ist so alles gar nicht meines, jedoch wiederum Dank des hohen Durchsatzes immer frisch und kalt begehrt. Aber Gillardeau-Austern sind selbst für Pariser Verhältnisse keine Selbstverständlichkeit und mit 4 EURO das Stück wirklich fair bereist, und so ein kleines Austern-Tasting mit frischen Cadoret-Austern aus Riec sur Bélon, La Taihou-Austern von der Île de Taihou, Marennes-Oléron-Austern aus der Region Charente-Maritime und eben Gillardeau-Austern von der Île dOléron vor La Rochelle, das hat selbst für den Nicht-Austern-Fan schon etwas Interessantes, und – bei Gottfried – die Glibberdinger haben tatsächlich sehr deutliche Konsistenz- und Geschmacksunterschiede. Daneben gibt es eine umfängliche Fischkarte mit gebratenem und gesottenem Fisch aller Art, den pochierten Schellfisch in Buttersauce habe ich mal probiert, der war sehr lecker, aber ansonsten reicht mir persönlich die Elsässer Küche im Chez Jenny vollumfänglich. Traditionell-schwer wieder die Nachtische, das Chez Jenny ist einer der wenigen Orte, wo es heute noch echte, am Tisch flambierte Crêpe Suzette gibt, oder hausgemachten Apfelstrudel, Profiteroles in Schokosauce, … und bis vor wenigen Jahren gab es auch Baba au rhum auf der Dessertkarte, mit frischen Früchten und Sahne, dazu wurde eine ordentliche Rumflasche auf den Tisch gestellt, und der Gast konnte seinen Napfkuchen nach Belieben in beliebiger Menge tränken, dieses Gericht ist leider von der Karte genommen worden (warum wohl nur … hicks). Dazu gibt es Kronenbourg Bier aus Obernai und Belgische Leffe-Plörre aus dem Anheuser-Busch-Konzern. Die Weinkarte macht diesen Fauxpas halbwegs wett, vor allem natürlich mit ordentlichen Elsässischen Weinen, viele davon offen, ein paar sonstige Französische Flaschen, keine wirklich großen Gewächse, keine Position über 70 EURO, selbst der Roederer Champagner schlägt hier nur mit humanen 85 EURO zu Buche. So lässt’s sich leben, selbst in Paris.

 

Brasserie Chez Jenny
39 Boulevard du Temple
75003 Paris
Frankreich
Online:  www.chez-jenny.com
Tel: +33 (1) 44 54 39 00

Hauptgerichte von 13,90 € (traditioneller Flammenkuchen) bis 80 € (große Meeresfrüchteplatte – für 1 Person!), Drei-Gänge-Menue von 28,80 € bis 113,50 €

 

P.S.: Nicht, das der sehr gegeigte Leser jetzt denken möge, ich hätte etwas gegen Frankreich oder die Franzosen. Ich mag Frankreich. Nur halt das Essen nicht … oder nur selten. Und Paris mag ich nicht, und Marseille und die ganze Côte d’Azur ebenfalls nicht. Ich weiß, dass ich damit ziemlich alleine dastehe, aber man muss ja nicht alles mögen, und schon gar nicht das, was Alle mögen. Den Rest von Frankreich mag ich. Allen voran das Zentralmassiv und den Golf von Biskaya, das Finistère, Bordeaux, die Pyrenäen, die Gegend um Grenoble … Frankreich hat so viele schöne Ecken und tolle Menschen. Punktum.

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