„Take another plane“, so lautet ein Running Gag bei genervten Vielfliegern, sei die wirkliche Bedeutung von „TAP“, und nicht etwa „Transportes Aéreos Portugueses“, die halbstaatliche Portugiesische Luftfahrtgesellschaft. Natürlich hat die Abendmaschine nach Lissabon am Gründonnerstag Verspätung. Also erstmal um ein Abendessen kümmern, bloß nicht den Fraß im Flieger. Die Flughafen-Fressstelle von dem Fonse liegt direkt am Gate. Die Nürnberger sind lausig und lauwarm, das Chili-Sahne-Sauerkraut gar nicht mal schlecht, wäre es nicht lauwarm, das Kartoffelpüree aus der Tüte (und lauwarm), die „frische Breze“ labbrig und von anno dunnemals (aber immerhin nicht lauwarm); der Räucherlachs ebenfalls einfach lausig; die Bedienung murrig und lahm. Warum glauben eigentlich alle Gastronomen, wenn sie ein Flughafen-Restaurant betreiben, miese Qualität und miesen Service zu völlig überteuerten Preisen am Gate bieten zu können? Die ebenso banale wie richtige Antwort lautet: weil sie’s können. Weiland das Schuhbeck’s Check Inn in Egelsbach, das war doch halbwegs passabel … ach ja, das hat ja mit Pauken und Trompeten pleite gemacht. Mit einer Stunde Verspätung geht’s los, der alte Airbus ist speckig, die Sitzreihen eng, die grünlichen Wraps sind echt widerlich, der Rotwein lausig und der Airline eines großen Weinanbau-Landes nicht würdig, aber dafür gibt’s reichlich davon. Drei Stunden Nachtflug in bedrängender Enge, so geht Weltenbummlertum.
Gegen Mitternacht erreichen wir den Flughafen Humberto Delgado, benannt nach der Symbolfigur der anti-salazaristischen Opposition, o General sem Medo, außerdem ganz nebenbei Gründer der TAP für Salazar und 1965 ermordet von António Rosa Casaco, einem Inspektor der Portugiesischen Geheimpolizei PIDE/DGS, Helden-Vitae sind auch nicht immer ganz friktionsfrei, aber da habe ich mich als Ausländer nicht einzumischen. Zum Glück liegt der Flughafen nah an der Stadt. Die Kids sind schon da und holen uns ab. Großes Hallo und Wangenküsse links und rechts, wie in Portugal üblich. Mit zwei Taxis geht’s in unser Quartier, wir wohnen in der Alfama, dem ältesten Teil Lissabons, ursprünglich Maurisch, unter den Ruinen der Festung Castelo de São Jorge und der bis heute prächtigen Kirche Igreja de São Miguel, ursprünglich aus dem 11. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert im Stil des Barock und des Manierismus neu erbaut, innen reichlich ausgeschmückt mit Gold aus Brasilien und Gemälden von José Ferreira de Araújo und 16 mächtigen, kunstvoll geschnitzten, reichlich vergoldeten und versilberten Bilderrahmen, unzerstört von dem Erdbeben 1755 und vom Stadtbrand 1988, daher wirklich authentisch, drum herum meist steile, sehr enge Gassen und Straßen, hier kommen im Fall der Fälle weder Feuerwehr noch Rettungskräfte durch, wie geschaffen für den Guerilla-Straßenkampf, Napoleon und Stalin wussten schon, warum sie ihre Städte mit breiten, militärtauglichen Boulevards durchziehen ließen, holpriges Pflaster, sehr enge Bürgersteige, wenn überhaupt, die meisten Sträßchen sind Einbahnstraßen oder per Ampel geregelt, dazwischen quälen sich die gelben, uralten, anscheinend unkaputtbaren Straßenbahnen bergauf und bergab mit lautem Quietschen, Klingeln, Ächzen, Knarzen und – man höre und staune – freiem WiFi, alte Häuser und sehr alte Häuser, es gibt ein enges Netz von öffentliche Toiletten und Waschgelegenheiten, nicht etwa groß beschildert für notdurftende Touristenströme, sondern eher unscheinbar-unauffällig, für die Einheimischen, für die Bewohner von Häusern ohne Wasser- und Kanalanschluss, und davon gibt es offensichtlich reichlich, in der EU im Jahre 2019, Kabel scheinbar chaotisch kreuz und quer an die Hauswände genagelt, dann und wann kleine Kneipen, an buchstäblich jeder Ecke eine typische Pastelaria, eine Mischung aus Konditorei, Bäckerei, und Café, in der in langen Glastheken Berge von selbst gemachten Backwaren angeboten werden, nicht etwa aufgebackene Backlinge oder angelieferte Ware aus der industriellen Großbäckerei vor der Stadt, hier wird noch selber direkt vor Ort geknetet und gebacken, jeder Lissaboner, der was auf sich hält, hat seine eigene Lieblings-Pastelaria und schwört Stein auf Bein, dass nur und ausschließlich dort die besten Pastéis de Nata gemacht werden, zu Deutsch Sahne-Pastetchen, kleine Törtchen aus einer Art Blätterteig, gefüllt mit einer Puddingmasse, die in einem sehr heißen Ofen gebacken werden, bis die Oberfläche schwarze Stellen hat, erst dann sind sie richtig, serviert werden sie am besten noch lauwarm, dann unmittelbar am Tisch sehr dick mit Zimt und Puderzucker überstreut, der Tisch muss dabei schmutzig werden, sonst sind es keine richtigen Pastéis de Nata und mit zwei oder drei Bissen gegessen, daneben gibt es Dutzende anderer frischer Backwaren, die meisten süß oder sehr süß, nur ein paar nicht süße Varianten, etwa eine Art Würstel im Schlafrock oder Stockfisch-Bällchen oder – eigentlich indische – Samosa (u.a. Bombay war ja mal Portugiesisch), die Menschen kommen hier ganztägig her, besonders aber Morgens, trinken einen Kaffee, essen ein süßes Stückchen im Stehen an der langen Theke, halten ein Schwätzchen mit den Wirt / der Wirtin oder dem Nachbarn / der Nachbarin, die Wenigsten setzen sich an die wenigen Tischlein, lassen ein paar Münzen liegen und verschwinden wieder: typisches Portugiesisches Frühstück. Unsere Wohnung liegt im Erdgeschoss eines dieser alten zweistöckigen Häuser, fast schon luxusrenoviert, als Schlüssel der dick mit Metall beschlagenen Wohnungstür dient eine Art zweibartiger Tresorschlüssel, der innen nicht etwa nur ein Schloss sperrt, sondern auch zwei massive Metallriegel in der Decke und dem Boden entsperrt; auch alle Fenster nach draußen zur Straße und den angrenzenden Gässchen sind nicht nur durch stabile Gitter außen gesichert, dazu auch noch durch metallbeschlage Innen-Fensterläden, die wieder von Riegeln unten und oben fixiert werden: so viel zur Sicherheitslage in der Alfama. Die ganze Wohnung ist um einen kleinen, abgeschlossenen Innenhof gebaut, hier allein fällt Tageslicht durch raumhohe Glaswände in ein geräumiges Wohnzimmer mit avantgardistischen Lümmel-Lounge-Möbeln, eine moderne Home-Entertainment Medienecke und die große, offene, voll ausgestattete Essküche mit einem massiven Esstisch mit 12 Plätzen, um diesen Living-Media-Eating-Cooking-Bereich herum ein großer Hauswirtschaftsraum samt Waschmaschine, Trockner, Mangel, Tiefkühler, Gästebad, schließlich drei große Schlafzimmer mit drei großen, weiß gekachelten eigenen Bädern, wertige Wäsche und dicke flauschige Handtücher, alles pikobello sauber und in Schuss, stylisch, modern, funktional möbliert, verhalten-geschmackvoll dekoriert, allerdings mit der vom 05:00 bis 02:00 direkt vor den verbarrikadierten Fenstern vorbeirumplender Straßenbahn nicht wirklich leise: so geht Portugiesische Fettlebe.
Wir werfen unser Gepäck in die Wohnung, draußen warten diesmal zwei Uber-Wagen. Eigentlich mag ich Uber nicht. Aber die Mädels belehren mich, wenn sie Uber bestellen, ist genau dokumentiert, welcher Fahrer sie wann und wo aufgepickt und wieder rausgelassen hat, direktes Bezahlen entfällt ebenfalls, weil bei Uber eine Kreditkartennummer hinterlegt sei, und die Abbuchungen erfolgten immer mega-korrekt; alles in allem sei das wesentlich einfacher und vor allem sicherer, zumal für junge Frauen, als in irgendein anonymes Taxi zu steigen, außerdem sei Uber deutlich billiger als die herkömmlichen Taxis. Irgendwie überzeugend diese Argumentation. Ich mag Uber trotzdem nicht.
Wir fahren zum Abendessen zum Illegalen Chinesen. Der Illegale Chinese ist – soweit ich bisher weiß – eine Lissabonner Spezialität. Durch die Kolonie Macau hatte Portugal schon im 16. Jahrhundert Kontakte nach China und Chinesen wanderten Jahrhunderte lang regelmäßig nach Portugal aus, allerdings nur wenige. Erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kamen im Rahmen der Dekolonialisierung massig Chinesen aus Mozambique nach Portugal (keine Ahnung, was die zuvor in Mozambique getrieben hatten), bis 1999 dann auch aus Macau. So hat Portugal heute eine signifikante Chinesische Gemeinschaft, die offensichtlich recht gut integriert ist. Seit der Jahrtausendwende kommen jetzt auch Chinesische Investoren und kaufen sich in Portugiesische Unternehmen ein. Vor 20 Jahren, so erfahre ich, war der Illegale Chinese tatsächlich ein neues, unerhörtes Restaurant-Konzept. Chinesische Familien fingen in ihren Wohnungen an, zu kochen und zahlende Gäste zu bewirten, ohne Lizenz, ohne Steuern, ohne Sozialabgaben, ohne Hygiene-Kontrollen. Zum einen verlangten die Portugiesischen Chinesen wohl nach authentischem heimischem Futter, und zum anderen wollten sie dieses wohlfeil haben: der Illegale Chinese war geboren, zahlreiche Chinesische Familien räumten ihre Wohnzimmer um, stellten einfache Tische rein und fingen das Kochen an. Anfänglich wurden diese Adressen als Geheimtipp per Mundpropaganda in der Chinesischen Community weitergegeben. Irgendwann kamen dann wohl auch Portugiesen zum Illegalen Chinesen, tja, und heute nun auch Touristen. So geheim kann der Illegale Chinese dann auch nicht mehr sein, und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass angesichts dieses offenen Geheimnisses der Portugiesische Fiskus, das Gewerbeaufsichtsamt und die Gesundheitsbehörde alle Augen zudrücken und die Chinesen weiter in der Illegalität kochen lassen. Irgendwie verrucht und kribbelnd ist es dann doch, als wir irgendwo in einer recht düsteren Gasse zwischen Baixa und Mouraria den Wagen verlassen, alte Wohnbebauung, keine Geschäfte oder Kneipen, gelbliche, schwache Straßenbeleuchtung, es ist nur wenig los um diese Zeit. Die Kids führen uns zu einem offenen Hauseingang, die Wände sind mit Graffitis beschmiert, auch innen das Treppenhaus: Schmutzfinken. Dieses Ambiente toppt den Eingang zum Angel’s Share in New York leicht, und der ist schon schräg. Wir gehen die Treppe hoch, es beginnt, nach Essen und Gewürzen zu riechen. Oben ist eine der Wohnungstüren nur angelehnt, von drinnen dringen Stimmen, der Essensgeruch wird stärker, wir stoßen die Türe auf, ein kleiner chinesischer Junge, vielleicht 6 oder 8 Jahre, begrüßt uns und heißt uns, ihm zu folgen. Ein 6 oder 8 jähriger Junge um diese Zeit? Naja … Hinter einem kleinen Wohnungsflur kommen wir in einen recht großen Raum, in dem vielleicht 10 einfache Holztische stehen, nur zwei Fenster, blanke Neonröhren und ein Ventilator an der Decke, ein Getränkekühlschrank, ein Großbildfernseher in der Ecke, vor dem zwei alte Frauen einen Chinesischen Sender anschauen, daneben spielen ein paar Männer Mahjong oder Go (ich kann das nie auseinander halten), weiter hinten eine Tür mit einem gemeinsamen Männlein-Weiblein-Toiletten-Schild, Rohre und Kabel einfach auf den Wänden verlegt, ein paar billige Chinesische Bilder, das alles könnte jetzt auch irgendwo in Shanghai sein, trotz der späten Stunde sind noch viele Gäste da, ich würde schätzen ein Drittel Asiaten, ein Drittel Lissabonner, ein Drittel Touristen, die Luft ist dampfig, der im Hausflur noch angenehme Essensgeruch erreicht eine unangenehme Intensität, an die man sich erst gewöhnen muss, auf den meisten Tischen stehen bunt zusammengewürfelte Schalen und Platten mit Chinesischem Essen, dazu Bierflaschen oder Softdrink-Dosen, das ist alles sehr, sehr rustikal und beim ersten Anblick schon ausgesprochen grenzwertig, einen gewissen Fluchtinstinkt kann ich nicht leugnen, aber die Kids setzen sich wie selbstverständlich an den von dem Jungen angebotenen / zugewiesenen Tisch, und da will ich mich nicht zieren. Der Junge bringt uns speckige, fleckige, laminierte Speisenkarten, genau eine DIN A4-Seite groß, die Karte ist auf Portugiesisch und Englisch, zusätzlich gibt es kleine Photos der angebotenen Speisen. Persönlich sehe ich bei dem Speisenangebot keinerlei Unterschied zu jedem beliebigen legalen Chinesen, Frühlingsrollen, Süß-Sauer-Suppe, gebratenes Schweinefleisch, knusprige Ente, Bratreis, aber ich kenne mich da nicht wirklich aus. Die Preise jedoch, die unterscheiden sich deutlich von jedem legalen Chinesen, Hauptgerichte kosten hier zwischen 4,50 EURO bis maximal 6 EURO, das Tsingtao-Bier aus der Flasche 1,30 EURO. Bei einer jungen Frau, keine dreißig Jahre, nach Schweiß riechend, zwei Zähne fehlen ihr schon, mehr geschäftig als wirklich freundlich, bestellen wir unser Essen, Frühlingsrollen, Eierflaum-Suppe, gebratenes Rindfleisch mit Gemüsen, gegrillten Schweinebauch, Bratreis, Krabben mit Chili und Pflaumensauce, Ente, gebratenen Wasserspinat … Alles wird sehr schnell serviert, die Küche ist wirklich flugs, aber außer dem sehr rustikalen Ambiente, dem Preis und dem Ruch der Illegalität ist hier alles wie in einem ganz normalen x-beliebigen Chinesischen Restaurant, und selbst die Illegalität ist wahrscheinlich falsch, denn die Chinesen fälschen ja bekanntlich alles. Die Portionen sind groß, das Essen ist heiß, riecht lecker, die Frühlingsrollen sind eindeutig TK-Ware (aber immerhin ein halbes Dutzend für 1,20 EURO), das gebratene Rindfleisch ist zäh, das Gemüse frisch-knackig, der Bratreis 08/15, Schweinebauch und Wasserspinat ziemlich gut, die Krabben sensationell, nur die süßliche Sauce ist gewöhnungsbedürftig, ergibt aber mit den Chilischoten eine interessante Note. Das war Alles in Allem ein ordentliches Chinesisches Essen zu wohlfeilen Preisen in sehr rustikalem Ambiente.
Wir fallen todmüde in die Betten, die Kids gehen noch feiern.
Illegaler Chinese
…. Nönönö, ich petze doch nicht, den müsst ihr schon selber finden (heutzutage ist es wahrlich kein Kunststück mehr, einen Illegalen Chinesen zu finden, aber gerade diesen Illegalen Chinesen, viel Erfolg …)
Hauptgerichte von 4,00 € (Klößchen mit Schweinefleisch) bis 6,50 € (Gebratene Garnelen mit Gemüse und Reis), Drei-Gänge-Menue von 6,20 bis 11,50 €