Es war eine düstere Zeit. Nennen wir sie das digitale Mittelalter. Die Transistoren machten sich gerade daran, die Röhren zu verdrängen, Lochkarten waren die neuesten Errungenschaften der Computertechnologie, Fernseher und Kühlschränke hatten ungefähr die gleiche Größe, es gab zwei Fernsehprogramme, Das Erste und Das Zweite, nur manche Menschen im Süden konnten noch Österreichisches oder Schweizer Fernsehen zusätzlich empfangen, wir nannten sie die Gesegneten, Sendebeginn war am Nachmittag, Sendeschluss lange vor Mitternacht, dazwischen das Testbild. Erik Ode, Robert Lembke und Dieter Kronzucker beherrschten die Bildschirme, ein neuer Francis Durbridge konnte die Straßen der geteilten Republik leerfegen – daher auch Straßenfeger –, musikalisch brachten Heinz Schenk und Rudi Carrell der Rumstata-Fraktion stumpfsinnige, althergebrachte Weisen, Dieter-Thomas Heck und Ilja Richter bescherten der jüngeren Yeah-yeah-yeah-Fraktion stumpfsinnige, neuhergebrachte Weisen, der progressive musikalische Horizont endete bei Heintje und Heino, nur die wirklichen Revolutionäre, die hatten ein Kurzwellen-Kofferradio, mit dem sie Mittwochabend auf Radio Luxemburg die Hitparade in jämmerlicher Qualität hören konnten und mit Mikro vom Radio die Musik der Beatles, Stones, Bowie und Cohen auf Kassette aufnehmen. Tja, so war das damals, im dunklen digitalen Mittelalter. Inmitten dieses musikalischen Einheitsbreis wimmert ein germanoider Schnulzbrocken namens Holm die deutsche Übersetzung eines Liedchens von Doug Sahm mit dem Titel „Mendocino“. Zu einer in Komplexität und künstlerischem Anspruch sehr überschaubaren Melodie heißt es in dem Stücklein:
„Auf der Straße nach San Fernando
Da stand ein Mädchen wartend in der heißen Sonne
Ich hielt an und fragte „Wohin?“
Sie sagte nimm mich bitte mit nach Mendocino
Ich sah ihre Lippen, ich sah ihre Augen
Die Haare gehalten von zwei goldenen Spangen
Sie sagte sie will mich gern wiedersehn
Doch dann vergaß ich leider ihren Namen
Mendocino, Mendocino,
Ich fahre jeden Tag nach Mendocino
An jeder Tür klopfe ich an
Doch keiner kennt mein Girl in Mendocino …“
Schon damals fragte ich mich, wie man so blöd sein kann, den Namen einer heißen Braut zu vergessen, machte mir aber sonst keine weiteren Gedanken über den Schwachsinn. Nun begab es sich aber im vergangenen August, dass ich auf dem legendären Highway 101 den Pazifik entlang gen Süden fuhr, und siehe da – mich traf es wie ein Schlag – Mendocino existiert tatsächlich, es ist ein kleines Örtchen – Städtchen wäre bei weniger als 1.000 Einwohnern zu viel gesagt – vielleicht 150 Meilen nördlich von San Francisco, an der Mündung des Big River auf einem Felsen 40 Meter über dem hier noch rauen und unwirtlichen Pazifik gelegen. Bei Anblick der paar recht hübschen und properen Häuser mit ihren gepflegten, großzügigen Gärten, in denen sogar Nutzpflanzen angebaut werden, drängt sich mir sogleich eine zweite Frage auf: wenn man schon den Namen der heißen Braut vergessen hat, wie kann man dann noch so blöd-blöd sein, sie bei den paar Häusern, die Mendocino ausmachen, nicht wiederzufinden. So ein Depp hat’s nicht anders verdient … (oder die Braut wollte sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht wiederfinden lassen). Nun gut, Mendocino ist also hübsch: sechs Sträßchen verlaufen von Ost nach West, elf von Nord nach Süd, dazwischen lockere, alte Bausubstanz, gepflegte Häuser, große, gepflegte Gärten, keine Hochhaus- oder Shopping-Mall-Bausünden, aber Cafés, ein paar kleine Geschäfte, Galerien, Buchläden, Bars, Restaurants, Cannabis-Shops, sogar ein Theater(chen) gibt es, einige Hotels, Gasthäuser und B&Bs, bis heute scheint Mendocino eine Künstlerkolonie und vor allem ein Hippie-Altersruhesitz zu sein, in dem die Generation Woodstock noch immer mit flower in the hair der finalen Verwesung entgegenwest, touristisch jedenfalls geht es nicht zu in Mendocino, und auch McKotz & Co. fehlen gänzlich hier, und das ist gut so. Es ist zugestandenermaßen schön in Mendocino, schön, entspannt, tiefenentspannt, friedlich.
Das erste Haus am Platze ist das Mendocino Hotel von 1878, ein dreistöckiger Holzbau an der Mainstreet mit direktem Blick auf’s Meer, ein Hotelbau, wie man ihn sich aus dem Western-Klischee vorstellt, mit Cowboys, die bei einer Schlägerei in hohem Bogen aus der Tür fliegen und Banditen, die von der Veranda im ersten Stock mit der geraubten Jungfer über der Schulter auf’s wartende Pferd springen, ohne dabei ihrer Eier ein für alle Mal verlustig zu gehen. Innendrin erwartet einen schönster viktorianischer Western-Baustil, Holzböden mit echten Teppichen, alte Tapeten, Holzvertäfelungen, schwere Sessel und Sofas, wallende Gardinen, offener Kamin, historische Gemälde, ein verglaster Rezeptionsschalter, knarzende Holztreppen nach oben (Lift wäre ein Stilbruch und ist natürlich Fehlanzeige), ein eher legeres Garden Restaurant mit blanken Tischen und ein nobleres Dinner-Restaurant mit Tischwäsche, gleich zwei lange Theken mit gut bestückten Bars dahinter, sogar ein paar Tische vor dem Haus, das Hotel ist schlichtweg wunder-wunderschön und dazu noch originalgetreu erhalten. Bis auf zwei Sea-View-Suiten sind die Zimmer im Haupthaus sehr klein, die Möblierung ist ebenfalls noch original, wahrscheinlich stammen die Matratzen auch noch von 1878, vielleicht die Hälfte der Zimmer hat kein eigenes Bad, so dass man – ganz wie früher – im Fall der Fälle über den Gang huschen muss, die Bäder der anderen Zimmer sind winzig und primitiv, erfüllen aber weitgehend ihren Zweck, aber fast alle Zimmer haben Zugang zum umlaufenden Balkon, der auf einer großen Terrasse an der Hausfront mit Meerblick und Sitzgelegenheiten für alle endet. Geräumiger sind die Zimmer und Suiten im Gartenhaus hinter dem Hotel, hier gibt es Marmorbäder, Kamine, getrennte Wohn- und Schlafräume … aber eben nur Garten- und keinen Meeresblick, außerdem muss man in’s Haupthaus über die Straße. Das Publikum im Mendocino Hotel ist ebenfalls angenehm, keine Krawall-Proll-Amis, auch keine dauerknipsenden Asiaten, schon gar keine deutschen Pauschaltouristen, eher Pensionäre, Geschäftsleute, Alt-Hippies, Nerds und Neureiche aus Silicon Valley, die sowas wie das „echte Leben“ suchen, solche Leute halt, dazu Einheimische, die einfach auf einen Drink oder zum Dinner vorbeikommen. Und während das ähnlich schöne, ähnlich alte Eureka Inn in der gleichnamigen Stadt 150 Meilen nördlich chronisch leer ist, ist das Mendocino Hotel stets gut besucht, sowohl Bars als auch Restaurants als auch Hotelzimmer. Hier herrscht noch so etwas wie Hotelleben, man setzt sich in die Halle, lässt sich einen Tee oder Scotch servieren, betrachtet das Treiben, schaut aus dem Fenster auf die Main Street und das Meer, hält ein Schwätzchen mit dem Zimmernachbarn oder dem Barkeeper, liest die Zeitung, geht zum Dinner in’s Restaurant, … So geht Hotelleben. Also, wer echte Western-Romantik in ziemlich authentischer Umgebung sucht, der ist im Mendocino Hotel garantiert richtig, hier ist nichts künstlich, nachgemacht, Plastik, eigentlich der historisch gewachsene Gegenentwurf zu Disney Land.
Nun gut, ansonsten ist nicht allzu viel los in Mendocino. In zwei, maximal drei Stunden ist man einmal komplett durch jede der 17 Straßen des Dörfchens gelaufen, hat sich an den properen Häusern und schönen Gärten erfreut, war in jedem, wirklich jedem Café, jedem Buchladen und jeder Galerie … und das war’s dann auch. Man könnte noch runter zum Meer gehen, links die Küste entlang laufen, rechts die Küste entlanglaufen, den Big River Trail entlang des gleichnamigen Flusses in’s Landesinnere machen, das war’s dann wirklich. Ich glaube, wenn mir ein Verleger einen ordentlichen Vorschuss zahlen würde, damit ich ein Buch schreibe, ich würde mich dazu nach Mendocino zurückziehen. Also, liebe Verleger, Angebote bitte an e.opl@opl.guide.