Die Brust der jungen Frau hat ungefähr die Größe eines kleinen, etwas dickeren Pfannkuchens. Ich bemerke und schreibe das nicht etwa, weil ich junge Frauen bespanne und auf ihre Brüste glotze, eigentlich mag ich Brüste, nur eben gerade jetzt nicht. Die junge Frau trägt ein dünnes weißes Sommerkleidchen – klar, es ist Hochsommer, 36 Grad in der City, die Luft steht und flimmert – verziert mit schelmischen Rüschen, unter den Achseln tief, sehr tief ausgeschnitten, keinen BH. Die junge Frau sitzt quer auf der Sitzbank, um 90 Grad zu ihrem linken Nachbarn gedreht, das angewinkelte Knie auf der Bank, so dass ich – ob ich will oder nicht – unter der linken Achselhöhle in das Kleidchen hinein-, vorbei zuerst an der linken, dann an der rechten Brustwarze, bei der rechten Achselhöhle wieder herausblicke und dabei sogar noch den Tisch dahinter gut sehe. Diese Kleidung wäre durchaus passend für eine lockere Poolparty oder eine dieser modernen kollektiven Hüpf-und-Schüttel-Veranstaltungen zu wummernden Bässen, locker, neckisch, ungezwungen, ein wenig frivol, ein wenig verheißend, ein wenig verdeckend, es ist ja nicht so, dass ich generell etwas gegen Brüste und deren Zur-Schau-Stellung in der Öffentlichkeit hätte, das mag eine Jede halten, wie sie mag.
Nur eben hier nicht. Wir sind in einer der gastronomischen Ikonen der Schweiz. Seit hundert Jahren werden hier Kälber geschnetzelt, Kartoffeln geröstet, Mistkratzerli gebraten, Hummer getrüffelt und Schokoladen moussiert. Hauptgerichte beginnen bei 50 Franken, können aber auch schon mal dreistellig werden, unter 200 Franken für ein Abendessen geht hier niemand raus, aber auch nur, wenn man sich beim Essen und Trinken zusammenreißt, die Weinkarte hat etliche sehr vernünftige und erschwingliche Positionen, geht aber auch gerne mal in’s sehr deutlich Vierstellige. Die Einrichtung ist ausgesprochen gediegen, die Wände holzgetäfelt, wertvolle, prunkvoll gerahmte Bilder, darüber gemalte Schweizer Wappen, warmes Licht von alten Kronleuchtern, die Tische mit gestärktem weißem Leinen, Silberbesteck, ziemlich gutem Geschirr mit eingebranntem Restaurant-Namen und Gläsern eingedeckt, dazu sehr diskreter Blumenschmuck, nur die legendäre Voiture fehlt derzeit, das Servicepersonal trägt blütenweiße, ebenfalls gestärkte Kellner-Jacken, die schwarze Dame hinter dem mächtigen Schanktresen trägt schwarze Bluse und schwarzen Rock, allein der Maître d’hôtel hat traditionell einen schwarzen Anzug an, das Einstecktuch und den Mundschutz ganz stilvoll aus dem selben Stoff. Das ist ganz großes, traditionelles, aus der Zeit gefallenes kulinarisches Theater, das ist ein Restaurant für die Dürrenmatts, die Frischs, die Picassos, die Horowitz’s dieser Welt, und nicht für die Kardashians, die Beckers, die Reemtsmas, die Gretas und sinnbefreites Gesindel. Sollte man meinen.
Eigentlich gibt es hier einen Dresscode, wenigstens smart casual. Sneakers hätten hier ebenso wenig zu suchen wie T-Shirts, kurze Hosen oder eben besagtes offenherziges Sommerkleidchen besagter jungen Dame. Hätten, Konjunktiv. Das war wohl einmal, in der Zeit, in der man wie selbstverständlich mit Anzug und Krawatte korrekt gekleidet zum Abendessen auswärts ging. „The Times They Are a-Changin’” sang Bob Dylan schon 1964 auf seinem gleichnamigen dritten Studioalbum. Als hätte es Joan Baez zehn Jahre später in „Diamonds and Rust“ mit dem unwashed phenomenon bereits antizipiert, heute sitzen die Enkel des unwashed phenomenons – zwischenzeitlich auch Nobelpreisträger, aber was heißt das schon noch … – in dieser kulinarischen Ikone in kurzen Hosen, T-Shirts, Sneakern und Busenblitzer-Fummeln, geschäftstüchtig, gut verdienend, grobschlächtig, ungebildet, bestens vernetzt, arrogant, laut, ohne jede Manieren, nur Schießeisen, Lagerfeuer und ein paar massakrierte Einheimische fehlen noch, dann wären diese Cowboys und –girls des Cyber-Zeitalters voll in ihrem Element. Die junge Frau stopft unablässig Brot in sich hinein, redet wild gestikulierend und kauend mit offenem Munde, zuweilen fliegt ein Brotbröcklein vor lauter Reden aus dem offenen Maule, der junge Mann im ungebügelten Labber-T-Shirt neben ihr hört scheinbar artig zu. Die Truppe besteht aus fünf jungen Männern und drei Frauen, alle um die 25, noch keine 30, gekleidet wie am Strand mit kurzen Hosen, Turnschuhen, T-Shirts, das ganze Drama halt, sie reden laut und durcheinander, das Idiom ist eindeutig das der imperialen Besatzer (obwohl wir doch in der neutralen Schweiz sind). Der Sommelier öffnet einen 2012er Grand Cru Classé vom Château Ducru Beaucaillou, da bin ich schon ein wenig neidisch, zugegeben (wir trinken stilecht Räuschling), dekantiert den Wein, schüttet einen Probeschluck in ein Glas, einer der Amis greift sich das Glas, hält es mit seinen warmen Schwitze-Pfoten am Kelch, steckt seine Nase hinein und nickt dem Sommelier huldvoll-zustimmend-zufrieden zu, der macht sich daran, die 400-Franken-Flasche unter den acht jungen Leuten zu verteilen, etliche sollen noch folgen, dazu trinken sie Cola. Die Essmanieren der Tafelrunde sind unter aller Sau, Ellenbogen, offene Mäuler, Schaufelbewegungen, … da graust es jedem Wildschwein, meine Eltern hätten mich mit solchem Gebaren bei Tisch anstandslos und umgehend ohne Abendessen in’s Bett geschickt.
Beim Sorbet vor dem Hauptgang macht uns der Maître d’hôtel seine Aufwartung, der übliche small-talk, ich sei aber lange nicht mehr da gewesen, ob alles zu unserer Zufriedenheit sei, ob er noch etwas für uns tun könne, und so weiter und so fort. Da der Hauptgang noch auf sich warten lässt, ergreife ich die Gelegenheit und verlasse die small-talk Ebene. Ob es hier denn keinen Dresscode mehr gebe, will ich wissen. Doch, doch, beeilt sich der Maître zu versichern, eigentlich schon, smart casual, wie seit Jahrzehnten, Anzug und Krawatte sei hier schon seit den achtziger Jahren nicht mehr Pflicht. Was dann die brüllende Besatzer-Brut in ihren kurzen Hosen, Turnschuhen, T-Shirts und dem ganzen Drama hier täte, frage ich nach. Der Maître seufzt. Ach wissen Sie, es ist längst nicht mehr alles so wie früher. So ein Lokal will ja auch ausgelastet sein, da kann man nicht mehr jeden ablehnen, der irgendwie nicht passt. Die Schlimmsten lassen wir immer noch nicht rein, aber bei denen … Außerdem ist der Vater des ganz Linken – er beugt sich konspirativ zu uns runter und flüstert eine Funktion und einen Namen, der Name sagt mir nichts, aber die Funktion klingt sehr, sehr wichtig und vor allem einflussreich – … da kann man nicht Nein sagen, das verstehen Sie doch. Er habe seit Jahrzehnten in der Spitzenhotellerie gearbeitet, in Interlaken und St. Moritz, auch da werde es in den besten Häusern längst nicht mehr so streng genommen. Am schlimmsten seien die Koreaner, die Japaner, die US-Amerikaner und die Russen, wobei die Russen in den letzten Jahren immer weniger geworden seien. Da bucht ein Reiseveranstalter 50 Zimmer für vier Tage und handelt einen Rabatt von 50% bei der Hotelleitung raus, die nur die Auslastung und den Umsatz im Blick hat. Und dann sitzen da Rabatt-Gäste im Jogginganzug neben distinguierten Herrschaften in Abendkleidung, die reguläre 1.000 Franken pro Nacht für ihre Juniorsuite zahlen, beim Abendessen. Sowas könne nur schief gehen. Und wenn man als Maître die Jogger bitte/auffordere, den Speisesaal zu verlassen und sich passend zu kleiden, dann komme es meist zum Eklat. Die Jogger beschweren sich bei ihrem Reiseleiter, der Reiseleiter beschwert sich bei der Hoteldirektion und droht mit der Stornierung von hunderten von weiteren Nächten, die Hoteldirektion knickt ein, macht den Maître rund und zwingt ihn schlimmstenfalls noch, sich bei dem Jogger-Pack öffentlich zu entschuldigen. Die einzige Chance, die man als Maître in solch einem Fall habe, sei, dass die distinguierten 1.000 Franken Junior Suite Gäste sich ebenfalls bei der Hotelleitung beschweren, dann nämlich liege der Ball bzw. der rabenschwarze Peter bei der Direktion. Noch schlimmer allerdings sei es, wenn man unwissentlich einem reichen Russen auf die Füße träte, der schon mal im Hotel-Bademantel beim Frühstück säße und dabei fräße wie ein Schwein. Wenn man solche Leute in ihre Schranken weise, könne es zum einen passieren, dass man mitten im Frühstückssaal niedergeschlagen oder mit dem Tode bedroht werde, das sei alles schon vorgekommen. Wahrscheinlicher allerdings sei, dass der Russe weder bei seinem Reiseleiter, noch seinem Reiseveranstalter, noch bei der Hoteldirektion vorstellig werde, sondern beim Vorstand oder Aufsichtsratsvorsitzenden des Hotelkonzerns und Satisfaktion verlange, und aufgrund seines Namens und vor allem aufgrund seines Vermögens werde der Russe dort dann auch gehört und ernst genommen. Ganz schlimm allerdings werde es, wenn sich reiche Russen direkt an die Besitzer der Hotelketten wenden, und das seien nicht mehr wie früher ehrbare Hoteliersfamilien, sondern ganz oft Gesindel von der übelsten Sorte, die wahrscheinlich mit im Bademantel in den Frühstücksraum kämen. Und dann, so versichert der arme Maître, dann brenne die Luft für alle vom Vorstand über den Hoteldirektor, den Maître d’hôtel bis zum letzten Zimmermädchen. Also versuche man als Maître, sich irgendwie zu arrangieren und durchzulavieren, aber die Zeiten der Dinner im Anzug seien in der normalen Spitzenhotellerie endgültig vorbei und Geschichte.
Wie schön ist es da doch, dass es noch ehrbare Hoteliersfamilien gibt. Die Finkbeiners würden wahrscheinlich notfalls jeden russischen Oligarchen im Bademantel an den Ohren aus dem Speisesaal führen.