Es gibt Geschichten, wenn man die als Episode in ein Drehbuch schriebe, würde jeder Produzent bei Verstand sagen, das sei doch an den Haaren herbeigezogen, hanebüchen erfunden, vollkommen unrealistisch … you name it, jedenfalls würde diese Episode gewiss wieder aus jedem Drehbuch gestrichen. Und genau solch eine Episode habe ich jetzt selber erlebt, und sie klingt in der Tat an den Haaren herbeigezogen, hanebüchen erfunden, vollkommen unrealistisch … ist aber so passiert.
Abend-Maschine nach Genf, fast pünktlich, der Flughafen Cointrin wie immer sauber wie geleckt (die Verantwortlichen der Pariser Flughäfen sollten hier mal in die Lehre gehen), vor dem Gebäude eine lange Schlange von Taxis, ich erwische eine alte ausgeleierte japanische Mühle, davor und dahinter propere Benz-Taxis, aber nun gut, vier Räder hat die Japsen-Schleuder ebenfalls und sie wird mich an mein Ziel bringen. Der Fahrer, ein vielleicht sechzigjähriger Eingeborener mit Bart, nur des Französischen mächtig und weniger Brocken Englisch. Ich nenne mein Fahrziel in Frankreich, erfahrungsgemäß eine Stunde oder meist um die 150 EURO Taxigeld entfernt, und radebreche dazu „Je peux payer par carte de crédit?“ und erhalte ein brummiges „Oui oui“ als Antwort. Dann frägt mich der Mensch dreimal nach der Adresse des Hotels, zu dem ich will. „Impérial Palace, Allée de l’Impérial à Annecy, directement sur le lac.” Der Kerl fummelt recht hilflos an seinem Navi rum. OK, vielleicht ist meine französische Aussprache nicht die Beste, ich rufe die Webseite des Hotels auf meiner Funke auf und halte dem Taxler die Adresse in groß vor die Nase. Irgendwann hat er dann tatsächlich sein Navi programmiert, das Taxameter zeigt bereits 12 Franken an, ohne dass ich auch nur einen Meter weitergekommen wäre. Dann fahren wir schweigend durch die Nacht. An der Grenze – eine Schengen-Innen-Grenze übrigens – hält der Taxler, verschwindet – aus welchen Gründen auch immer – im Zollhaus und kommt nach ein paar Minuten und weiteren 7 Franken auf dem Taxameter des stehenden Wagens wieder raus, fährt ein paar Meter, hält erneut, verschwindet jetzt im französischen Zollhaus, munter tickt das Taxameter weiter, schließlich kommt der Fahrer wieder und erklärt mir mit Händen und Füßen, dass er sofort den ganzen Fahrpreis haben will, und zwar in Cash, bevor er weiter fährt: „Cash, now, 200 Franks, machine not work in France.“ Zu allem Überdruss wären das noch rund 25 EURO mehr als ich sonst zahle, so gut kann ich noch Franken in EURO umrechnen. Wie singt doch Chris de Burgh so richtig: “Don’t pay the ferryman, / Don’t even fix a price, / Don’t pay the ferryman, / Until he gets you to the other side.” Wutentbrannt schnappe ich mir Hut, Mantel und Tasche und steige aus dem Taxi aus, mitten in der Nacht, mitten an der Autobahngrenzstation im Nirgendwo, der Fahrer kommt mir laut zeternd hinterher, ich verstehe nicht genau, was er sagt, nur die Worte „police“ und „payer“ verstehe ich. „La police? Très bien! Allons chez les douaniers!“ sage ich und gehe in das Zollgebäude, der zeternde Fahrer folgt mir, drinnen hinter einer Panzerglasscheibe junge Beamte, davor müde Lastwagenfahrer, dazwischen viele Papiere. Jetzt hat das fortwährende Gezeter der Taxlers eine positive Wirkung: ein bärtiger Zollbeamter kommt heraus und hört sich an, was wir zu sagen haben. Zuerst redet der Taxler mit Händen und Füßen und teils überschlagender Stimme auf den armen Zollbeamten ein, der nutzt eine Atempause des tobenden Taxlers, um sich mir zuzuwenden, ich sage nur „Sorry Sir, but he wants me to pay him a fixed price without taximeter in cash in advance for the entire trip to Annecy. That’s more than unusual, and I refused it.“ Dann plappert der Taxifahrer weiter, scheinbar endlos, aber irgendwann unterbricht der Zollbeamte ihn: „Arrêtez. L’homme va les payer ici, et puis c’est bon.“ Der Taxler grummelt, 60 Franken standen – glaube ich – auf dem Taxameter, ich gebe ihm 40 EURO in bar, der Taxler fängt erneut das Zetern an, der Zollbeamte blickt streng, sehr streng, der Taxler troll sich maulend, die Osteuropäischen Lastwagenfahrer, die ungewollt Zeugen dieser Szene wurden, grinsen breit, der Zollbeamte blickt mich an und bewegt seine Handfläche mehrfach vor der Stirn nach links und nach rechts, das allgemeine Zeichen für „bescheuert“, und er meint nicht mich damit.
Aber um diese Geschichte geht es hier überhaupt nicht, das ist nur die Vorgeschichte, wie ich mitten in der Nacht an einem Grenzübergang mitten im Nirgendwo, ohne Auto, ohne öffentlichen Nahverkehr, ohne Freunde in der Nähe, die man anrufen könnte, strandete. Da stand ich nun, mit Melone und Reisetasche. Doch etwas verunsichert frage ich den Zöllner, ob er mir ein neues Taxi rufen könne, selbstverständlich, antwortet dieser, zückt seine Funke und beginnt das Telephonieren, und er telephoniert mehrfach und lang, zwischendurch erklärt er mir fast entschuldigend, dass es durch den Internationalen Automobilsalon in Genf derzeit schwer sei, Taxis zu bekommen, zumal mit solch einer langen Anfahrt. Irgendwann gibt er Entwarnung, er habe ein Taxi gefunden, das werde in ca. 20 Minuten an dem Grenzübergang sein. Ich stehe also wartend vor dem Zollgebäude an der Straße, dort, wo die Autofahrer langsam fahren und die Zöllner in die Wagen schauen, dann und wann einen rauswinken, Papiere und Kofferräume kontrollieren, man kennt das … aber eigentlich nur aus Autofahrer-Perspektive. „Die schon wieder! Werden sie mich rauswinken oder nicht? Habe ich auch wirklich nichts Verbotenes im Wagen? Alles Gras aufgeraucht, nichts mehr in der Radkappe? Sind Papiere und Warnwesten griffbereit? Habe ich sonst was Auffälliges?“ Auch in Schengen-Zeiten kann so ein Grenzübertritt ein kleines Adrenalin-Erlebnis sein. Und – sorry liebe Zöllner – als sonderlich sympathisch, hilfsbereit, freundlich habe ich Euch nie wahrgenommen, ist ja auch nicht Euer Job, das zu sein oder auch nur so zu wirken, Euer Job ist es, Grenzen zu schützen, und dabei darf man schon grimmig dreinblicken. Aber jetzt, mitten in der Nacht mitten im Nirgendwo stehe ich neben den Zöllnern an der Straße, und die Autos fahren im Schritttempo an uns gemeinsam vorbei, ich schaue mal nicht aus dem Auto raus, sondern in die Autos rein, die Fahrer betrachten mich in Gehrock und Melone schon erstaunt. Dabei plaudere ich mit den Zollbeamten, zwei junge Frauen in Uniform mit schusssicheren Westen, beeindruckenden Pistolen, die eine mit umgehängtem Maschinengewehr, dazu der bärtige Telephonierer, ein jüngerer Mann, auch in voller Ausrüstung, nur die Stiefel, die sind bei allen in jämmerlichem Zustand, jeder Deutsche Feldwebel würde hier Tobsuchtsanfälle kriegen. Die Beamten sind aber sonst allesamt nett, wo ich den herkäme, wo ich den hinwolle, warum sie gerne beim Zoll arbeiteten, wo man Annecy gut essen könne, ob es sich lohne, mal zum Oktoberfest nach München zu fahren und was das wohl kosten würde, solche netten Plaudereien halt, nichts Tiefgreifendes, aber nett, sehr nett und unterhaltsam. Wir stehen fast wie Kollegen beisammen, interessiert schaue ich mit den Zöllnern in die vorbeischleichenden Autos, sehe die mürrischen, ängstlichen, gleichgültigen, müden, grimmigen Gesichter der Fahrer, kaum einer lächelt, dann du wann ziehen die Zöller tatsächlich einen raus, fordern bestimmt, aber höflich Papiere, Kofferraum öffnen, manchmal auch Koffer öffnen, fündig werden sie nicht in der Zeit, in der ich dort mit ihnen stehe, dann plaudern wir weiter.
Hey, ich fasse mich hier ausdrücklich an meine eigene Nase, da sind keine Berufsgrimmlinge an den Grenzen am Werk, das sind – in der Regel – nette Menschen wie Du und ich, halt nur mir schusssicheren Westen, Maschinengewehren und dem Recht, Dich bis auf’s Hemd auszuziehen, wenn sie es für nötig erachten, aber auch dabei machen sie nur ihren Job. Für mich war diese Nacht sehr lehrreich.
Nach einer halben Stunde kam schließlich mein Ersatz-Taxi, fast bedauerte ich es, schon fahren zu müssen, der bärtige Zöllner öffnete eine Schranke, so dass das Taxi gleich drehen und auf die Gegenfahrbahn kommen konnte (was für ein Service!), ich verabschiedete mich, stieg in’s Taxi, ein halbwegs sauberer, neuer Citroën, wir fuhren schweigend durch die Nacht, am Imperial zahlte ich nochmals 120 EURO und diese Episode meines Lebens war vorbei.
P.S.: Und dann war da Livemusik in der Hotelbar, aber das ist eine andere Geschichte …