Marginalie 61 – Vielleicht bin ich ein bisschen sehr nett zu Dir heute Nacht

Es gibt Geschichten, wenn man die erfände, bekäme man zu hören, das sei jetzt wahrlich zu dick aufgetragen und an den Haaren herbeigezogen und die Phantasie sei diesmal gänzlich mit einem durchgegangen. Allora cominciamo! Ludwigsburg, komische barocke Residenzstadt nördlich von Stuttgart, mal Residenz, dann wieder nicht, mal hübsche historische Bausubstanz, dann wieder nicht, heute lebt hier offensichtlich ein Melange von Daimler-Managern, -Werktätigen und Landnehmern uneinträchtig nebeneinander, in Kretschmars Landeshauptstadt ist man Dank gut ausgebauten Personennahverkehrs in einer halben Stunde, sehr praktisch, wenn man zum Protestieren gegen die Bahn gleich die Bahn nehmen kann, aber das führt zu weit. In der ehemaligen, denkmalsgeschützten Garnisonsbäckerei aus dem Jahre 1874 ist heute eines von zwei Nestor-Hotels untergebracht, ganz nett gemachte Vier-Sterne-Tagungshotels, eines in Neckarsulm in gesichtsloser Kulisse, eines in Ludwigsburg in nämlichem historischem Gemäuer mitten in der Stadt, ein paar Minuten von der grandiosen barocken Schlossanlage entfernt, viele identische, ambientelose Zimmer (ich meine im Hotel, die Zimmer der Schlossanlage kenne eher weniger), funktional, sauber, beliebig, Personal halbwegs der Deutschen Sprache mächtig und halbwegs geschult, austauschbare Systemgastronomie, ordentliches Frühstück (jedoch Backlinge und unreifes Obst, aber immerhin), für +/- 100 EURO pro Zimmer und Nacht treffen sich hier die, die sich die – überraschender Weise nur – drei 5-Sterne-Hotels in Stuttgart (Althoffs, Mérdien, Steigenberger) nicht leisten wollen oder können (Autoschrauber halt, die sind nicht so anspruchsvoll) und die, die im Stuttgarter Norden zu tun haben, unter der Woche ist man hier geschäftlich, am Wochenende eher als Barock-Tourist oder als Gast bei einer der zahllosen Feiern, die hier in den zahlreichen, tatsächlich recht hübschen Eventlocations offensichtlich unablässig stattzufinden scheinen.

Ich komme gerade von einer dieser Feiern, alte Kollegen, die Karriere gemacht haben und jetzt in Dax-Vorständen ihr karges Leben fristen, haben zu ihrem traditionellen Sommerfest eingeladen. Park, Auffahrt, Nobelkarossen, Villa, Bedienstete, Champagner lausig aber bis zum Abwinken, es muss halt unbedingt Champagner sein, ein ordentlicher und qualitativ deutlich besserer Crémant wäre unter dem Stand, sich biegende Buffets mit teuren, lieblosen, beliebigen Speisen, irgendwie muss in Ludwigsburg noch nicht angekommen sein, das Surf&Turf längst mega-out ist und mittlerweile in 08/15-Kneipen angeboten wird, oberwichtige Gäste, „Mein Auto, mein Haus, meine Yacht, – ach ja – und meine Frau, meine Kinder, meine Sekretärin (und Geliebte), mein Magengeschwür.“ Die Gespräche sind überall so gleich, so voraussehbar, so austauschbar, so sinnfrei, so emotionslos … und doch werden hier nach Mitternacht in der hauseigenen Bar die großen Deals angeleiert und die tollen Posten vergeben, unter denjenigen, die diesen Quatsch bis nach Mitternacht aushalten. Ich gehöre nicht mehr dazu, will nicht mehr dazu gehören. Wahrscheinlich wäre es lukrativ, bis nach Mitternacht zu bleiben, aber kein noch so toller Job ist es wert, sich solchen hohlen Zinnober auf Dauer wiederholt anzutun.

Also sitze ich lange vor der Zeit – vor der Zeit nach Mitternacht, wo die Butter bei die Fische kommt – in der Hotelbar des besagten Nestor-Hotels und versuche, meine emotionalen Brechreize durch viel Alkohol – Vodka ist die Wahl des Augenblicks, ehrlich, klar, unverfälscht, grad heraus … so das ganze Gegenteil der Stunden zuvor – zu unterdrücken. Unvermittelt setzt sich ein Pärchen an den Nachbartisch der Hotelbar, vielleicht um die dreißig, als sie sich für diesen Abend eingekleidet haben, muss die Armani-Filiale in Essen Nord wohl gerade Betriebsferien gehabt haben, sie jedenfalls ist von oben bis unten mit Pailletten behangen (keine Ahnung, ob sich auch noch Stoff darunter befindet), er glänzt mit Oberarmen im kurzen Hemdchen, die locker mal den doppelten Umfang haben wie meine Diät-geschwächten Ärmchen, beide eher von der rustikalen als der filigranen Fraktion, aber einerlei, auch solche muss es geben, beide versuchen jedenfalls, sich richtig zu benehmen, ja keinen Fehler zu machen und bloß nicht aufzufallen. Angestrengt studieren sie die kleine Barkarte. Als die Bedienung kommt, um sie nach ihren Wünschen zu fragen, bestellt er – ohne ihr etwa den Vortritt zu lassen oder für sie zu ordern – ein kleines Pils, EURO 3,50 ruft die Karte dafür auf. Sie bestellt sodann eine Piña Colada. Kaum ist die Bedienung weg, reißt er ihr die Barkarte förmlich aus der Hand, beginnt das hektische Blättern, findet schließlich die Seite mit den Cocktails und fängt an, sie gezischelt anzuschnauzen: EURO 9,50, was sie sich wohl dächte, dafür bekäme man auf Aldi eine ganze Flasche Bacardi, ob es denn immer gleich das Teuerste sein müsste, und er hätte schließlich keinen Geldscheißer und Rhabarber-Rhabarber-Rabommel-Radongs, so zieht sich seine Schimpfkanonade hin, bis die Getränke kommen – und es dauert lange, bis die Getränke kommen – und er angesichts der Kellnerin endlich mal die Klappe hält. Als die Bedienung serviert hat und wieder weg ist, will er wohl erneut mit dem Schimpfen anheben. Sie nippt kokett durch den Strohhalm an ihrem Drink, grinst ihn an und sagt. „Vielleicht werde ich ja ein bisschen betrunken hierdurch, und dann bin ich vielleicht ein bisschen sehr nett zu Dir heute Nacht.“ Er ist nun für den Rest des Bar-Abends – wenigstens eine halbe Stunde hat sie an ihrem süßen Sahne-Drink rumgenuckelt und ihn zappeln lassen – mucksmäuschenstill und malt sich wohl in Gedanken aus, was „vielleicht ein bisschen sehr nett“ alles an Verheißungen in sich bergen mag.

Schlussfolgerung Eins: Männer können solche Ärsche sein.

Schlussfolgerung Zwei: Frauen können ihnen in Arschigkeit um nichts nachstehen.

Schlussfolgerung Drei: Männer können solche schwanzgesteuerten Vollidioten sein.

Schlussfolgerung Vier: Wo hört eigentlich Beziehungskiste eigentlich auf und fängt Prostitution an?

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