Marginalie 48: Sie werden platziert

Da hat der Max Scharnigg, seines Zeichens Bajuwarischer Kleinliterat, mal wieder gehörig abgelästert in dem systemtragenden Münchner Gutmenschen-Provinz-Blättchen, unter dem fetten Untertitel „Im Restaurant suchen Deutsche in der Regel selbst nach freien Plätzen. Über eine Unsitte, die langsam verschwindet.“ Armer unwissender oder die Wirklichkeit verkennender Max Scharnigg, ich gehe seit weit über 50 Jahren in deutschen Restaurants essen, und ich kann Ihnen aus jahrzehntelanger eigener Erfahrung versichern, dass es in Deutschland keine neumodische Unsitte ist, sich in einem Restaurant ungefragt an einen freien Tisch zu setzten, sondern vielmehr Sitte, Sitte definiert– ich zitiere den Duden – als:

  1. für bestimmte Lebensbereiche einer Gemeinschaft geltende, dort übliche, als verbindlich betrachtete Gewohnheit, Gepflogenheit, die im Laufe der Zeit entwickelt, überliefert wurde
  2. ethische, moralische Norm; Grundsatz, Wert, der für das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft grundlegend ist
  3. Benehmen, Manieren, Umgangsformen

In – ich würde mal sagen – wenigstens 90% aller Deutschen Restaurants, wahrscheinlich aber mehr, gibt es weder interne Infrastruktur noch ein Bewusstsein um die Möglichkeit / Notwendigkeit, um jeden Gast persönlich zum Tisch zu geleiten, wozu auch? Die Tische sind da, sie stehen dem Gast zur Verfügung, und wenn kein „Stammtisch-“ oder „Reserviert-Schildchen“ darauf steht, dann hockt man sich halt hin, so ist das Sitte in Deutschland. Es gab und gibt da immer Ausnahmen, zum einen oft in der Spitzengastronomie, aber da stand / steht in der Regel immer ein Maître oder Empfangschef am Eingang bereit, um jeden neuen Gast sofort und unverzüglich an einen Tisch zu geleiten; die andere Ausnahme war die DDR, dort befleißigte man sich jeglicher Art der Repressalie gegen das Volk, und das obligatorische Schild „Bitte warten, Sie werden platziert!“ gehörte zu den staatlichen Gängelungsmaßnahmen des Bürgers ebenso wie Stasi und Mauer. Wenn heute hippe Burgerbrater und Oliver-Adepten glauben, kommunistische Unterdrückung und / oder den imperialen Show-Firlefanz in ihren Kaschemmen oder Nobelrestaurants nachäffen zu müssen, Schwellenangst und Warten am Eingang, umständliche Prozeduren und Rituale, intime Fraternisierung zwischen Gast und Dienstleister, am besten noch nach dem Vornamen des Gastes fragen und diesen dann auf Kaffees, Burger und Tofuschnitten klatschen, dann mögen sie das gerne tun, nur bitte ohne mich. Das in dem Textlein beschriebene ungewisse Warten im Mantel am Eingang mag ja Masochisten gefallen, mir zumindest gefällt es nicht, ich bin doch kein Backfisch mehr, der bang hoffend in der Kälte auf den Einlass in einen angesagten Club wartet, im Übrigen verschafft mir die Service-Hotline meiner Kreditkarte heute sofortigen Einlass in nahezu jedes derartige Etablissement. Der Gastwirt ist ein Dienstleister, der meinem Hunger dienen sollte, und dies in guter Qualität und gefälliger Umgebung, dafür zahle ich Geld und bei gutem Essen und gutem Service Trinkgeld, behandle die Mitarbeiter respektvoll und weiß mich zu benehmen. Das ist erstmal der grundlegende gastronomische Kontrakt in Deutschland und den meisten Europäischen Ländern, Frankreich vielleicht einmal außen vor gelassen. Und wenn ein Deutscher Restaurantchef wünscht, dass man sich – entgegen der Sitte – nicht eigenständig an einen Tisch setzt, dann soll er halt das vermaledeite Schildchen „Sie werden platziert!“ aufhängen oder von mir aus auf jeden Tisch ein „Reserviert“-Schildchen stellen lassen, darf er, ist ja sein gutes Recht, er ist schließlich Hausherr, man darf heute ja sogar ungestraft Schilder in die Tür hängen, dass AfD-Mitglieder nicht bedient werden. Wenn der Wirt also diesen – legitimen – Weg wählt, dann muss er aber auch dafür Sorge tragen, dass man ruck-zuck platziert wird, ich jedenfalls warte niemals mehrere Minuten an einem Restaurant-Eingang, bis einer der Mitarbeiter Zeit und/oder Lust hat, mich zu einem Tisch zu geleiten, dann nehme ich mir als Kunde auch das Recht, weg zu sein und mein Geld woanders auszugeben, mögen die Schnitzel oder Lärchenzungen bei dem frisch boykottierten Gastwirt auch noch so deliziös sein oder die Chancen, die haute volée zu sehen und – ungleich wichtiger – von der haute volée gesehen zu werden noch so aussichtsreich sein. Und machen wir mal die Milchmädchen-Vollkosten-Rechnung auf: pro Tisch nur 2 Minuten Zeit für Begrüßung und zum Tisch geleiten durch einen Mitarbeiter, 25 besetzte Tische des Mittags, 25 besetzte Tische des Abends, 300 Öffnungstage im Jahr, das macht 2 X (25 + 25) X 300 = 30.000 zusätzliche Arbeitsminuten bzw. 500 zusätzliche Arbeitsstunden pro Jahr, nur für die „Sie werden platziert“ – Nummer, und bei durchschnittlich – sagen wir – 30 EURO Arbeits-Vollkosten pro Stunde für eine ausgebildete Kraft sind das 15.000 EURO zusätzliche Kosten pro Jahr, die finanziert werden wollen, und niemand sage mir jetzt blauäugig, das seien EHDA-Kosten, die vom bestehenden Personal mit abgedeckt werden könnten, dann stimmt aber ganz gewaltig was nicht in der Personaleinsatzplanung.

Nochmals: wenn ein Wirt die unbedingte Hoheit über seine Tische wünscht, dann ist das in Deutschland eben historisch eine Un-Sitte, aber er ist der Hausherr, dann möge er mich das als Kunde vorab wissen lassen, die entsprechende Infrastruktur bereithalten, um mich bei meinem Eintreffen zügig zu platzieren, und dann schauen wir mal, ob wir geschäftlich zusammen kommen oder nicht. Ein Wirt jedoch, der seine Gäste minutenlang oder noch länger im Foyer oder noch schlimmer vor der Haustüre in Schlangen warten lässt, der ist erstens schlecht organisiert und zweitens ein ganz miserabler Gastgeber, zu dem ich ohnehin nicht will. Und dieser ganze abstrus-apologetische Sermon Scharniggs zum Schlange-Stehen und Warten vor dem Restaurant:

„… eigentlich erweitert dieses System ein Dinner zu einem Schauspiel in mehreren Akten und auf mehreren Bühnen. Es zelebriert die Vorfreude auf das Essen und macht den Abend lebendiger, was etwa bei einem Date angenehm spürbar ist. Auch stilistisch hat diese Choreografie mehr mit dem Überbegriff ‚Ausgehen‘ zu tun: Man wird gesehen, inszeniert sich an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Posen und Gesprächssituationen, man sieht mehr von den anderen und vom Restaurant als beim hiesigen Programm …“

… das ist doch eher was für krankhafte Selbstdarsteller und Narzissten; ich will meinen Hunger stillen und gut Essen, wenn man hier vor allem ein gesellschaftliches Ereignis sucht, dann ist man ein geltungssüchtiger Wohlstandsbürger, der weder Hunger kennt noch den Wert von gutem Essen, und solche Leute mag ich noch weniger als bierselig haxenverschlingende Voll-Prolls.

Und wenn der imperialophile jugendliche Provinzautor von us-amerikanischen Verhältnissen schwärmt, mit Online-Buchungssystemen, elektronischer Vorauskasse, Dinner-Schauspiel, 120-Minuten-Tischbesetzungs-Zyklen mit anschließendem Zwangsrauswurf, und den ganzen Schmarren dann auch noch unter dem Slogan „Mündig essen eben.“ zu subsummieren versucht, dann zeigt das doch von recht wenig kulinarischer Kenntnis und Reflexion, München eben. Ich will jetzt hier nicht den kulturfernen Restaurant-Flegeln und besoffenen Alles-Fressern eine Lanze brechen, aber der gemeine Deutsche als solches weiß in der Mehrzahl überraschend gut, wie man sich in Restaurants benimmt und wie nicht, und das Letzte, was wir hier noch mehr brauchen, sind stalinistische und imperiale Reglements, einstmals geschaffen als kommunistische Gängelungsmaßnahme bzw. für den um sich schießenden Cowboy ohne jede Bildung und Kultur (von denen es bis heute dort genügend gibt). Im Übrigen weigere ich mich – bei aller Liebe zu gutem Essen und Trinken und bei aller Hochachtung vor den Leistungen jeder einzelnen Kraft im Gastgewerbe, so sie nur gut sind – in einem Wirt, einem Koch, einem Barmixer, … einen Künstler zu sehen, der sich Künstler-Allüren leisten könnte (auch Künstler sollten sich im Übrigen keine leisten, das ist affig), das alles sind Handwerker, solide, hart und hoffentlich redlich arbeitende Handwerker, zuweilen mal mit kreativen Ideen, aber wenn der Koch zum Künstler mutieren will, dann wird die Küche zum Tollhaus, und der Gastraum zur überteuerten Bühne, in der tumbe Toren tatkräftig abgezockt und verarscht werden.

P.S.: Gordon Ramsey ist da ein brillantes Beispiel

 

http://www.sueddeutsche.de/leben/gastronomie-das-volk-der-selbsthinsetzer-1.3685370

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One comment

  1. Reinhard Daab

    Dieser Artikel war gar nicht schlecht, ob es Ihnen nun gefällt oder auch nicht. Selbstverständlich braucht man in einer Edelkneipe wie der Kälberhalle keine Reservierung vorzunehmen. In fast jedem besseren Restaurant wird man ohnehin reservieren. Natürlich brauchen wir nicht alles nach zu äffen was im Ami-Land so Sitte ist. Außerdem muß man die Alpen-Prawda nicht lesen, aber bei diesem Artikel kann ich bei vielen Punkten zustimmen.

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