Marginalie 26: Essen als sakrale Handlung

Oberpfalz, kleines Kaff abseits aller Touristen-Routen, Kirche, Friedhof, ein Metzger, ein Bäcker, Bankfiliale, Försterei, propere Bauernhöfe, ein paar Wohnhäuser, altes Kopfsteinpflaster, bis zur nächsten Bundesstraße wenigstens 10 Kilometer, die Straßenlaternen lassen sich an vier Händen abzählen, Wald, Felder, Hügel, Anakreon hätte gewiss von diesem Landstrich gesungen. Mittendrin, gleich neben Kirche und Gottesacker, das Dorfgasthaus, ein stattlicher, Jahrhunderte alter Bau, über die Jahre immer wieder angebaut und erweitert, heute eine respektable Gaststätte mit Restauration, Gastgarten, Festsälen, verschiedenen Stuben, Beherbergungsbetrieb, sogar ein kleines Schwimmbad mit Saunalandschaft haben die Wirtsleute in den Keller einbauen lassen. Und doch ist alles reell, bodenständig geblieben, den Schweinsbraten mit zwei mächtigen, hausgemachten Kartoffelknödeln und einer richtig guten Bratensauce gibt’s noch immer unter 10 €, und wer davon wirklich nicht satt wird, der bekommt auch ohne extra Berechnung noch einen weiteren Knödel mit Sauce dazu. Ganz konsequent bietet die Speisekarte einerseits Schnitzel Wiener Art vom Schwein mit Pommes oder wahlweise hausgemachtem Kartoffelsalat oder Röstkartoffeln, Sauerbraten mit Kloß, Reh aus heimischer Jagd, Zwiebelrostbraten, Salatschüssel mit gebratenen Putenstreifen, Bratwürste mit Kraut oder Wurstsalat, allesamt typische Vertreter des traditionellen bajuwarischen Wirtshaus-Kanons, und dies in tadelloser bis teilweise exzeptioneller Qualität zu sehr ländlich-humanen Preisen. „Das müssen wir auf der Speisekarte haben, das ist unser bread-and-butter-Geschäft.“, erklärt mir die Wirtin in breitem Oberpfälzer Dialekt mit putzigem Englischen Einsprengsel. „Unsere Hauptkunden sind die Leute, die hier leben, die Bauern, Arbeiter, die Herren Pfarrer und Doktor, die kommen ein paarmal die Woche, karteln und trinken Bier, nach der Kirch‘ gibt’s für viele traditionell Mittagessen bei uns, sie feiern hier ihre Geburtstage, ihre Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, die jungen Burschen laden ihre Madeln zum ersten gemeinsamen Abendessen bei uns ein, und uralte Paare feiern hier ihre Goldene Hochzeit, und nicht wenige sagen ‚Weiß Du noch, wie wir uns vor 55 Jahren genau hier beim Tanz das erste Mal getroffen haben?‘. Das ist unsere Stammklientel, für die kochen wir, die bleiben uns treu und halten uns sicher am Leben.“, spricht die Wirtin weise. Andererseits, andererseits bietet die Speisekarte aber auch Langusten, Jakobsmuscheln, dry aged beef, Wagyū-Rind, gefüllte Zucchiniblüten, pochierten Donau-Huchen, gedünstete vergessene Gemüse vom Gärtner, hausgemachte Kartoffelkrapfen und Nudeln, … hier kann jemand richtig gut kochen, und der leistet sich den Luxus, auch die richtigen Zutaten dazu einzukaufen (und damit voll in’s ländlichen Risiko zu gehen). Dennoch ist kein Gericht über 30 €, das sechs-gängige Menue soll keine 80 € kosten, die korrespondierenden Weine dazu (allesamt sehr ordentliche Tropfen) nochmals 25 €. Dafür zahle ich in Nürnberg oder Regensburg gerne das Doppelte, in Berlin oder München auch mal das Dreifache. „Mein Schwiegervater war Metzgermeister, so wie sein Vater, Großvater und Urgroßvater, neben der Metzgerei hatten sie das Gasthaushaus, da haben ihre Frauen gekocht, so wie sie es von ihren Müttern gelernt hatten, pfälzerisch-bayrisch halt, und die Leute kamen schon immer gerne zu uns. Mein Mann hat als erster nach seiner Metzger-Lehre auch noch eine Koch-Lehre drangehängt, hat als erster die Oberpfalz verlassen, ging raus in die große weite Welt“ – die Wirtin lächelt dabei, es ist eine Mischung aus Liebe, Mitleid und Entschuldigung, dieses Lächeln – „nach Schwaben und sogar nach Südtirol. Und er kam zurück mit mehr Rezepten als nur Schweinebraten und Kartoffelknödel. Mein Schwiegervater war unglaublich skeptisch, ja sogar feindlich, als mein Mann irgendwann einmal die ersten hausgemachten Nudeln mit Pfifferlingen auf die Speisekarte setzte, als kleinen, ungefährlichen Versuch; und mein Schwiegervater unglaublich baff, ja sogar euphorisch, als die Nudeln lange vor Küchenschluss schon ausverkauft waren. So kam eines zum anderen, den Nudeln folgten Langusten, Filets, alte Gemüsesorten, verwegenere Rezepte, teurere Preise zum Teil auch, und die Leute aßen es. Irgendwann kam ein Schreiberling, und der schrieb in einer Zeitung in einer Stadt, nach dem Artikel kamen Leute aus der Stadt zu uns zum Essen, bald waren unsere paar Zimmer immer ausgebucht, wir nahmen all unseren Mut und unser Geld zusammen, bauten an und erweiterten auch noch gleich die Küche, dann kamen Leute von der Gourmetkritikermaffia, und auch denen gefielen wir, nun ja, und so weiter und so fort, … und da sind wir heute.“

„Heute“, das ist der eigentliche Punkt, zu dem ich mit dieser Vorgeschichte gelangen wollte, heute besteht das Publikum in dem Landgasthaus vielleicht zur Hälfte aus besagten Einheimischen, die in der Umgebung wohnen und die in dem Gasthaus Taufe, Sonntagsschmaus, Beerdigung und das gesamte sonstige Leben dazwischen feiern, und zur anderen Hälfte aus kulinarischem Reisevolk, Sommerfrischlern, Ballungsraum-flüchtigen Stadtfräcken, Ruhesuchenden, Freundescliquen auf Ausflügen, amourösen Pärchen, die einen diskreten Rückzugsort suchen, so’ne Art Leute halt. Und alle treffen schmausender Dings in den Gaststuben zusammen, ein wild durcheinandergemischtes Publikum von Land und Stadt an den Tischen. Das ist schön, aber an sich nichts Besonderes und nicht weiter erwähnenswert. Wäre da nicht ein ganz beredter Unterschied: neben uns sitzt wohl der Dorfdoktor mit Frau und zwei halb-erwachsenen Kindern, zumindest wurde er vom Wirt beim Pläuschchen am Tisch so tituliert. Die Familie redet, lacht, diskutiert, dann und wann starrt auch einer kurz in seine Funke, ansonsten aber rege Kommunikation; dann kommt die Vorsuppe, das Gespräch verstummt mit einem Male, Funken werden sowieso beiseitegelegt, und die Familie widmet sich ganz und gar und vor allem stumm dem Essen. Die Rücken sind dabei leicht gebückt, nach vorne und unten, in Richtung Teller. Zuerst assoziiere ich – der gelernt und seinen Kindern gelehrt hat, dass der Rücken beim Essen kerzengerade zu sein hat, dass man ein Buch beim Löffeln auf dem Kopfe balancieren können muss, dass das Besteck zum Munde und nicht der Mund zu Besteck geht, das komplette Knigge-Tralala halt – schlechtes, derbes, ländliches, rustikales, ungebildetes Benehmen damit, aber weit gefehlt. Auch das Gespräch ist komplett verstummt, jeder widmet sich konzentriert – „voller Inbrunst“ wäre jetzt wohl etwas zu stark in der Wortwahl – seiner Suppe. Als alle aufgegessen haben wieder aufrechte Haltung und fröhliche Familienplauderei. Dasselbe Verhalten beobachte ich, als der Hauptgang aufgetragen wird und auch wieder beim Nachtisch: Essen auf dem Tisch, gebeugter Rücken, Schweigen, Konzentration, danach dann wieder aufrechte Haltung und Gespräch. Nun erst nehme ich wahr, dass dies nicht nur bei der Arztfamilie so ist, sondern sich anscheinend bei vielen – nicht bei allen – der einheimischen Gäste das nämliche Verhalten findet, bei dem alten Bauern-Ehepaar, bei der Familie, die offensichtlich Opas Geburtstag hier feiert, bei dem Waidmann mit Gattin, alle gebeugt und stumm bei Essen, ansonsten aber durchaus sich angeregt unterhaltend und aufrecht sitzend. Die Stadtfräcke hingegen plappern in einem fort, egal ob Essen auf dem Tisch steht oder nicht, reden zuweilen sogar mit vollem Munde, manche sitzen aufrecht, andere allerdings auch gebeugt, und hierbei bin ich mir sicher, dass es schlechte Erziehung ist.

Nicht so bei den Landleuten. Ich erinnere mich, auch meine Großeltern saßen derart gebeugt über ihren Tellern. „Beim Essen spricht man nicht!“, wurden wir von ihnen als Kind angeherrscht, wenn wir mit einem Teller vor uns etwas sagen wollten. Meine Eltern haben diese Sitte zum Glück aufgegeben, bei uns herrschte das gepflegte Tischgespräch, aber bei meinen Großeltern war Reden am Tisch tabu, und die Rücken wurden beim Essen gebeugt. Ich bin der festen Überzeugung, das hat nichts mit schlechten Manieren oder Maulfaulheit zu tun, ich bin überzeugt, das hat religiöse Gründe. Bei Essen nimmt man eine demütige, geduckte Haltung ein, man lenkt sich nicht ab mit Gesprächen (geschweige denn, electronic devices), man widmet sich vollumfänglich, demütig und bewusst Gottes Gabe in Form von Speis und Trank.

Eigentlich eine sehr schöne Sitte, eine tagtäglich fortwährende Geste der Demut, „… unser täglich Brot gibt uns heute …“ beten wir zu Gott. Aber die Meisten haben den Glauben, das Bewusstsein, das unser Essen letztendlich tatsächlich von Gott kommt, längst verloren, wer muss schon einem Gott Dankbarkeit bezeugen, wenn’s bei Aldi Hühnerschenkel für 1,99 das Kilo gibt? Für die Meisten kommt heute das Essen aus dem Supermarkt, maximal noch vom Bauern, aber weiter denkt kaum einer, vielleicht bis auf ein paar dieser Leute auf dem Lande, die traditionell noch ein tieferes Verständnis, einen besseren Glauben haben und daher Demut zeigen beim Essen.

Mir jedenfalls hat das sehr viel zu denken gegeben.

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