Marginalie 25 – Bescheidenheit

Vor einiger Zeit hatte ich hier „Von Mollusken, Blowjobs und der Gier“ geschrieben. Diese – ebenfalls authentische – Geschichte ist wohl der optimistische Gegenentwurf dazu.

Ich hatte geschäftlich in Peking zu tun. Ich spreche kein Wort Mandarin, und die Englisch-Kenntnisse im Reich der Mitte sind – auch und gerade im höheren Management – nicht so kolonial-devot pragmatisch wie im besetzten Deutschland. Also hatte mein Büro mir über irgendeine staatliche Stelle, die so etwas wohl exklusiv für Ausländer vermitteln, eine Dolmetscherin gebucht, von 07:00 Uhr morgens bis 23:00 Uhr abends, für die gesamte Zeit meines Aufenthaltes in Peking. 550 US$ kostete dieser Dienst pro Tag, später erfuhr ich, dass bei der Studentin, die für mich dolmetschte, weniger als 3 US$ pro Stunde ankamen, und damit war sie glücklich über diesen für China sehr gut bezahlten Job. Wie dem auch sei, ich flog mit der Abendmaschine von München nach Peking, meine Dolmetscherin holte mich am Flughafen ab, ich checkte kurz im Hotel ein, um mein Gepäck loszuwerden, und dann begannen schon die ach so wichtigen geschäftlichen Termine, die junge Frau übersetzte fast akzentfrei wie eine Weltmeisterin, zwei Gesprächstermine am Nachmittag, dann eine Einladung zum Abendessen, ich fiel fast vom Stuhl vor Müdigkeit, meine Übersetzerin machte keinerlei Anstalten, um 23:00 Uhr in den vereinbarten Feierabend zu gehen, sie dolmetschte wacker weiter und gab mich lange nach Mitternacht im Hotel ab, um nach kurzem Gruß in der Nacht zu verschwinden. Als ich am nächsten Morgen reichlich zerknittert vom Frühstück in die Halle kam, wartete sie schon auf mich, fröhlich, freundlich, frisch wie der Morgentau. Wir fuhren mit dem Taxi zu den nächsten Terminen, einer davon fand – aus welchen Gründen auch immer – in einem Konferenzraum einer der westlichen Hotelbunker in Peking – ich glaube, es war das Kempi – statt, gegen Mittag waren wir hier fertig und hatten etwas Zeit bis zum nächsten Treffen. Das Hotel bot ein All-you-can-eat-Lunch-Buffet für 22 US$ an, und ich lud meine wortgewandte Begleitung zum Mittagessen ein; lange sträubte sich das Mädel, das ginge nicht, das sei nicht üblich (ich hatte die Einladung wohlgemerkt in allen Ehren und ohne Hintergedanken, vielmehr eher gedankenlos ausgesprochen), sie werde in der Halle warten, außerdem habe sie ein Tuppaschüsselchen Reis als Verpflegung dabei (hatte sie tatsächlich), lange Rede kurzer Sinn, irgendwann gab sie ihr Sträuben auf und begleitete mich in den Speisesaal. Sie war furchtbar aufgeregt, sie sei noch nie in so einem schicken Restaurant gewesen, wie das jetzt funktioniere und was sie zu tun habe fragte sie. Ich erklärte ihr, dies sei ein All-you-can-eat-Buffet, und sie könne sich jetzt holen und essen so viel und was sie wolle, es koste immer denselben Preis, 22 US$, und selbstverständlich sei sie mein Gast. Als ich zum Buffet ging blieb sie dicht hinter mir, bestaunte sichtlich die Vielzahl von Platten, Warmhalteschalen, Töpfen, Schüsseln, alle proppenvoll mit hübsch präsentierten Lebensmitteln. Was das für ein großes, leicht blutiges Stück Fleisch unter der Warmhalte-Lampe bei dem Koch sei, wollte sie wissen, und ich sagte ihr, dies sei ein komplettes rosa gebratenes Roastbeef, sie entgegnete, sie habe noch niemals in ihrem ganzen Leben Rindfleisch gegessen, ich forderte sie dann auf, die Gelegenheit doch beim Schopfe zu packen und mal so richtig beim Rindfleisch zuzuschlagen. Sodann nahm ich mir einen Teller mit Vorspeisen, ging zurück zum Tisch und wartete artig mit dem Anfangen auf meine Begleitung. Die kam dann auch irgendwann mit einem Schüsselchen weißen Reis mit exakt vier Stückchen von den warmgehaltenen Convenience-Gemüsen vom Buffet, keine Soße, geschweige denn Fleisch. Warum sie denn nichts von dem Roastbeef genommen hätte, wollte ich wissen, das ginge doch nicht, entgegnete sie, so ein teures, tolles Fleisch für eine wie sie, Reis und Gemüse, das sei gut genug für sie und sowieso und überhaupt. Wir redeten lange, fast zankten wir, dass sie sich doch endlich ein Stück Rindfleisch holen solle, und irgendwann hatte ich sie soweit, dass sie tatsächlich zurück zum Buffet ging. Sie kam zurück mit einem vielleicht Daumen-großen Fitzelchen Roastbeef. Warum sie denn nicht mehr wolle, fragte ich, es koste alles denselben Preis, dieses Fitzelchen und das halbe Roastbeef, sie solle das doch ausnutzen. Nein, nein, entgegnete sie, das sei genau richtig für sie, mehr stünde ihr nicht zu, außerdem hätte sie ja noch den Reis. Das Fleisch aber genoss sie sichtlich.

smiley-822993_1280Fast jeder Mensch, den ich kenne (einschließlich mir selber) hätte in dieser Situation – etwas Gutes, das man sich sonst nicht leisten kann, gibt es in nahezu unbegrenzter Menge für umsonst – zugeschlagen bis die Schwarte buchstäblich kracht und sich den Wanst vollgeschlagen. Nicht so diese chinesische Studentin. Ich habe lange über ihre Beweggründe nachgedacht. Andere Essgewohnheiten, die  dererlei Eskapaden nicht erlauben? Furcht vor staatlicher Überwachung (die in China bis heute allgegenwärtig ist) und davor, als nicht-linientreu eingestuft zu werden? Angst, sich falsch zu benehmen und das Gesicht zu verlieren (was ein ungleich größeres Thema in China ist)? Ich meine heute, nichts von dem trifft zu. Diese junge Frau hatte einfach noch nicht ihre Bescheidenheit verloren, die Bescheidenheit, die einen vor der Gier schützt, die Bescheidenheit, die die eigene Freiheit befördert, diese Bescheidenheit, die Bescheidenheit, die wir weitestgehend verlernt haben. Weisheit des Ostens?

 

P.S.: Bei Abschied am Flughafen ein paar Tage später wollte ich ihr noch 100 US$ Trinkgeld diskret zustecken. Wieder zankten wir fast, und fast hätte ich meinen Flieger verpasst, bis sie das vermaledeite Geld endlich nahm.

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