Marginalie 15: Ganz famose Tischmanieren

Mit der Zeit lernt man auf Reisen, zumal auf Fernreisen, dass das, was wir in Mitteleuropa gemeinhin – mit gewissen regionalen Differenzierungen – als „gute Tischmanieren“ bezeichnen, keinesfalls weltweite Gültigkeit besitzt. Es gibt nun mal deutliche regionale Unterschiede nicht nur beim Essen, sondern auch bei der Art und Weise, es zu sich zu nehmen, und das ist sicherlich gut so, einheitliche Schweinsbraten-Tristesse mit Messer und Gabel aufrecht vor dem Teller mit Braten, Kraut, Kloß, Soß sitzend von Tittmoning bis Tokyo … eine grauenvolle großdeutsche Vorstellung, Danke nein. Speisen sind regional unterschiedlich, Speisefolgen, Servierarten, Besteck, Tischmanieren … alles immer wieder anders, und das macht das Reisen kulinarisch so spannend. Man muss gewiss nicht alles mögen, was und wie es einem anderswo vorgesetzt und wie es dann verzehrt wird, aber man hat es als Reisender zu respektieren, man ist ja schließlich Gast.

Einmal allerdings, da versagte mein Respekt als Gast, das war – obwohl es die Imperial-Amerikaner im Großen und Ganzen sowieso nicht so sehr mit guten Tischmanieren haben – im beschaulichen Augusta, der Hauptstadt des Neu-England-Staates Maine, keine 20.000 Einwohner, alles etwas altertümlich, vergessen, aber durchaus liebenswert. Auf einer Rundreise durch Neu-England hatten wir uns dort im örtlichen Best Western einquartiert, schlenderten des Abends durch die Gegend, eine eigentliche „Innenstadt“ gibt es in Augusta ebenso wie in den meisten imperial-amerikanischen Städten nicht, schauten uns das Maine State House – den Regierungssitz – an (nicht größer als das Augsburger Rathaus) und begaben uns schließlich in Ermangelung eines „landestypischen“ Restaurants in das Great Wall Buffet, das uns der Rezeptionist im Hotel als ganz formidable empfohlen hatte. Nun gut, von außen sieht’s aus wie eine Wellblech-Lagerhalle mit Parkplatz davor, von innen sieht’s aus wie eine Lagerhalle mit Kirschholz-Vertäfelungen, abgetrennten Tischbuchten, den üblichen Drachen, asiatischen Lampen und ähnlichem Folklore-Tinnef, einem grottenschlechten Wandgemälde mit einem Teil der Chinesischen Mauer, kurzum, eine auf pseudo-chinesisch dekorierte Lagerhalle. Quantitativ wirklich beeindruckend das Buffet, genau genommen sind es 7 oder 8 Buffets, parallel zueinander aufgestellt, jedes vielleicht 4 Meter lang, jedes von beiden Seiten mit Speisen bestückt, also 7 oder 8 mal 4 mal 2, macht 56 oder 64 laufende Meter Buffet voller Speisen, das hat fast schon Las Vegas-Qualitäten. Die Buffets sind entsprechend einer Speisefolge-Logik bestückt, es beginnt mit Sushi (das zwar nicht chinesisch ist, aber immerhin asiatisch, und asiatisch, das ist chinesisch; entsprechend grob zusammengeschustert sind die Reisflatschen), dann kalte und warme Vorspeisen, Suppen, verschiedene Sorten gebratener Reis und gebratene Nudeln, Fleisch, Fisch, Gemüse, Beilagen, dann Desserts, schließlich frisches Obst. „All you can eat“ kostet hier lächerliche 12 US$, wie sich das rechnet würde ich wirklich gerne mal verstehen. Die Qualität der Speisen ist keiner Erwähnung wert, alles war irgendwann mal frisch, lauwarm, zögerlich-mainstream gewürzt, man vergiftet sich nicht und man wird satt, punktum.

Nach dem üblichen Vorgeplänkel mit dem Service-Personal: „Please wait, you will be seated.“ – Begrüßung – „No, sorry, we don’t have a reservation.“ –  „Might be a little difficult, especially tonight, but I’ll see, what I can do for you.” – scheinbar konzentriertes Blättern in einem speckigen, dicken Buch – „Ah, one last table …“ – bullshit, das Lokal ist halbleer und wird sich im Laufe des Abends auch nicht nennenswert mehr füllen, blöde Kuh, blöde – „… I’ve got for you, over there please.“ – zum Tisch geleitet werden – „Buffet or à la carte? Buffet is 12 Dollars, without drinks.“ – „Two times buffet please. And two Bud.“ – blöd angeschaut werden, weil wir beide ein Bier bestellen (ok, Deutsches Mineralwasser hat mehr Prozent Alkohol als Bud, aber das können die Amis ja nicht wissen), und los geht’s. Caro und ich gehen die 50, 60 Meter Buffet ab, bestaunen mehr die Quantitäten denn die Qualitäten, nehmen uns schließlich jeder ein Teller und beginnen mit ein paar Sushi, die – wie gesagt – ganz am Anfang der Buffet-Batterie angeordnet sind. Während wir Sushi fischen kommt ein Eingeborener (weiß, calvinistisch, Vorfahren mit der Mayflower nach Amerika gekommen, mindestens 100 Native Americans, 50 Neger und 10 Hexen persönlich getötet, bildungsfern, Mitglied der NRA, Repubikaner-Wähler, Vietnam-Drückeberger, aber sonst meinerseits ganz frei von jedem Klischee bewertet) an, vielleicht 1,70, 1,75 groß, eher 200 kg denn 150 kg Lebendgewicht, jedes Walross ist eine schlanke Gazelle verglichen mit diesem Fettberg, er nimmt sich einen Teller, kommt zu uns am Beginn des Buffets, knallt sich Sushi auf den Teller, darauf kalte und warme Vorspeisen, Suppen, verschiedene Sorten gebratener Reis und gebratene Nudeln, Fleisch, Fisch, Gemüse, Beilagen, dann Desserts, schließlich frisches Obst – wohlgemerkt, alles auf EINEN Teller, inklusive Suppen, Torten, Cremespeisen, Eis, Obst auf Fisch, Fleisch, Reis, Beilagen. Ich schätze mal, 1 kg Lebensmittel hat dieses Mensch auf seinen Teller gehäuft, rosa Dessert-Cremes durchfluten Reis und überschwemmen Schweinefleischbällchen und Frühlingsröllchen, Shrimps im Backteig und knusprige Ente schwimmen in Süß-Sauer-Suppe (zusammen mit rosa Dessert-Cremes). Caro und ich jagen uns noch Schälchen mit Wasabi, Sojasauce und Gari; als wir mit unseren jeweils vier, fünf Sushi-Stückchen zurück zu unserem Platz kommen, sitzt dieses Mensch bereits am Nachbartisch (ausgerechnet!), seinen Beute-Teller vor sich, vom Buffet hat es sich einen Vorlege-Löffel, vielleicht viermal so groß wie ein normaler Suppenlöffel, gegriffen, selbigen in der linken Hand, Unterarm und Ellenbogen des rechten Arms um den Teller gelegt, gleichsam als wolle es seine all-you-can-eat-Beute beschützen, Rücken gebeugt, Fresse nah dem Kilo Lebensmitteln, beginnt das Mensch unter Schmatzen und ähnlichen Geräuschen, deren Beschreibung sich in der Öffentlichkeit eigentlich verbietet, mit dem Vorlegelöffel in der Linken diesen Lebensmittelberg von rohem Fisch, Suppe, Fleisch, Reis, Meeresfrüchten, Eis, Cremespeisen, Obst, … in sich hineinzuschaufeln. Ich möchte kotzen, am besten mitten auf den Löffel von das Mensch. Caro und ich sind noch nicht mit unserer Sushi-Vorspeise fertig, da nimmt das Mensch am Nachbartisch einen großen Schluck von seiner Coke Zero auf Eis (also, Kalorien-bewusst isses, das muss man es lassen), legt seinen gemopsten Vorlege-Löffel behutsam auf eine Papier-Serviette, macht sich auf einen neuen Beutezug und kommt nach kürzester Zeit mit einem Teller, der dem ersten um nichts nachsteht, zurück. Caro und ich werden an diesem Abend noch fünf oder sechsmal zum Buffet gehen, mit kleinen Portionen von diesem und jenem – natürlich immer separat – zurückkehren und in aller Ruhe essen, dazu zugegebener Maßen keine „gesunde“ Coke Zero, sondern das Teufelszeug Bud trinken, während dessen wird das eingeborene Mensch vielleicht ein Dutzend von Tellern in nämlichem beschriebenem Aufbau und nämlicher beschriebener Menge fressen, und mir ist bewusst, dass ich hier gemäß meiner eigenen Beschreibung von vielleicht 12 Kilogramm Lebensmitteln spreche. Oh mein Gott, ich habe noch kein Tier fressen sehen wie diesen Imperial-Ami. Wenn ich die Wahl hätte, mir mit diesem Ami einen Teller oder mit einem Schwein den Trog zu teilen, ich würde – bei Gottfried – den Schweinetrog wählen, alles ist appetitlicher als die Essmanieren dieses Menschs …

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