Marginalie 14 – Die traurige Geschichte von Pete

Wir sind den ganzen Tag Rad gefahren, quer durch’s Spargelland, wir haben einen dieser drückenden Spät-Frühlings- / Früh-Sommer-Tage erwischt, stehende, flimmernde Luft, trockene Hitze, kein Windhauch, genau das richtige Wetter, um sich körperlich ausgiebig anzustrengen. Es ist schon gegen vier, als wir das schöne alte Dorfgasthaus mit großem Biergarten erreichten, zu dem wir eigentlich seit Jahren bei unserer Spargel-Radl-Tour fahren, und seit Jahren ist es irgendwie derselbe Ablauf: ankommen, Radler-Mass fast auf ex im Biergarten runterstürzen, einchecken, Zimmer, noch verschwitzt von der Fahrt Liebe machen, ausgiebig duschen, neu einkleiden, runter in den Biergarten: erschöpft, abgekämpft, redlich hungrig und durstig, voller Vorfreude auf leckere und frische Spargelgerichte von den Feldern ringsum, und dies mit dem beruhigenden Wissen, dass man jede Kalorie, die man jetzt zu sich nehmen wird, im Laufe des Tages bereits vorab abtrainiert hat, so macht Schlemmen erst richtig Spaß.

Etwas ist anders an diesem Samstagnachmittag als sonst. Nun, in dem Dorfgasthaus ist großes Grillfest, das hatten wir in den früheren Jahren nicht. Vor den Küchenfenstern sind im Biergarten zwei große  Grills (der Plural von Grill ist lt. Duden tatsächlich Grills, musste ich selber nachschlagen) aufgebaut, eine rollbare Kühltheke mit Salaten, Beilagen, Soßen und Grillgut, ein rollbares Regal mit Geschirr und Besteck und dazu lange Tische als Anrichten. Hinter den Grills wirbelt eine Mannsperson von beachtlicher Statur, sowohl was die Höhe als auch was die Breite und Tiefe anbelangt, „ein g’stand’nes Mannsbild“ würde der Bayer wohl sagen. In jeder Hand eine Grillzange legt er Grillgut auf, wendet, verschiebt, drückt, prüft, legt beiseite an den Rand, gibt das Grillgut irgendwann schließlich, wenn er es für gut befindet, auf bereitstehende Servierteller. Zwei Beiköche um ihn herum häufen sodann Salate, Beilagen, Soßen zu dem Grillgut, ein letzter kritischer Blick des Grillmeisterns, zuweilen muss der Beikoch hier noch etwas mehr, dort noch etwas schöner machen, dann werden die fertigen Teller von fünf unermüdlichen Bedienungen zu den wartenden Gästen im Biergarten geschleppt, und da warten viele, derweil die Beiköche frisches Grillgut bereit stellen, der Meister seine Grills flugs neu mit totem Fleisch bestückt, schmutziges Geschirr verschwindet Berge-weise und diskret in einer Durchreiche in der Hauswand in die Küche, frisches Geschirr wird durch die Fenster herausgereicht, ebenso frische Salate usw., die wohl drinnen in der Küche vorbereitet werden, dazu sind an einem Schanktresen auf der gegenüberliegende Seite zwei Schankkellner ohne Unterbrechung damit beschäftigt, Krüge und Gläser und Humpen mit Bier, Saft, Wasser, Limo, Wein, vor allem aber Bier zu füllen, und auch die werden dann von den fünf unermüdlichen Bedienungen zu den Tischen und zurück geschleppt, zwei Spülkräfte kümmern sich um die schmutzigen Gläser. All das ist ein kolossalisches Grill-Ballett, offenbar dirigiert von dem Mannsbild an den Grills.

Fast schon befürchten wir, dass es ob dieser Grillorgie keinen Spargel gibt, aber nein, die freundliche Bedienung beruhigt uns, die ganz normale Spargelkarte gebe es auch, von drinnen, aus der Küche, nur im Biergarten sei heute halt Grillfest, eine Neuerung, die der neue Koch eingeführt habe und die prächtig auch von den heimischen Gästen angenommen werde, denn allein von den zwei Monaten Spargel-Tourismus könne man als Landgasthaus auch nicht so recht leben. Stimmt auch wieder, denke ich mir, „Hauptsache, es gibt Spargel, viel Spargel!“, sagt Caro. Wir teilen uns einen Spargel-Salat mit Erdbeeren und Pinienkernen (originell, aber nicht meines), einen Spargelsalat mit Schinken, Kresse und Ei (schon eher meins), gratinierten Spargel mit Schinken, Käse und Béchamel überbacken (der arme Spargel, geschmacklich völlig untergegangen), eine Spargelcremesuppe und eine Portion marinierten grünen Spargel. Damit haben wir die Vorspeisen abgeschlossen und kommen langsam zu den Hauptspeisen, hier hat das Portionen-teilen sein Ende und jeder von uns beiden geht seiner kulinarischen Wege. Das mit Abstand beste, was die „Weinkarte“ in diesem Landgasthof zum Spargel hergibt ist ein Silvaner vom Bürgerspital in Würzburg; nun gut, in der Not frisst der Teufel Fliegen, und viel, viel später am Abend, bei den letzten Flaschen aus dem Keller, wird er uns langsam anfangen zu schmecken. Caro bestellt eine Portion Spargel pur, ohne Sättigungsbeilage, ohne Hollandaise, nur mit etwas Butter; sie will ja auch nicht gesättigt werden, sie will so viel Spargel wie nur möglich in sich hineinschlingen, denn dieses kleine Persönchen liebt Riesenmengen von Spargel. Ganz konservativ bestelle ich eine Portion Spargel mit Kartoffeln, Hollandaise und einem kleinen Filetsteak. Der Spargel ist wie jedes Jahr gut geputzt, auf den Punkt gekocht, die Kartoffeln kurz in Butter geschwenkt, die Hollandaise tatsächlich selber gemacht und tadellos (deswegen gehen wir zum Spargel essen so gern in dieses Gasthaus), aber das Filetsteak, das stammt dieses Mal nicht aus der Küche, sondern von dem Mannsbild am Grill, und es ist einfach sensationell: außen resch gebraten, fast schon knusprig, innen perfekt medium, so wie ich’s mag, zart, saftig, einfach perfekt. Der Mann am Grill, der kann was, nicht nur Würstchen wenden.  Nach einer weiteren Portion Spargel bin ich für meinen Teil pappe-satt, Caro hingegen fängt gerade an, sich warm zu essen.  Currywurst gibt es auf der Grillkarte, mit hausgemachter Soße, in den Schärfegraden „Weichei“, „Gut scharf“ und „Höllenhund“ (wer sich nur immer diese Bezeichnungen ausdenken mag …); Caro liebt gute Currywurst, sie liebt Schärfe in allen Graden, je schärfer, desto besser, aber sie liebt Spargel fast noch mehr; also fragt sie die Bedienung, ob sie eine Portion Currywurst, Marke ‚Höllehund‘ zusammen mit einer Portion Spargel, quasi als Beilage, haben könne. „Ich frag‘ mal den Chef, aber ich wüsste nicht, warum’s nicht gehen sollte.“, sagt die Bedienung freundlich, läuft zum am Mannsbild am Grill – er ist offensichtlich also auch der „Chef“ – und redet kurz mit ihm. Das Mannsbild ordnet seine Grills noch rasch, schiebt hier Stück Fleisch an den Rand, wendet dort eine Wurst, winkt dann einen der Beiköche herbei, übergibt ihm die Insignien der Gewalt über die Grills, die Grillzangen, stapft auf unseren Tisch zu, wischt sich dabei die Hände kurz an dem längst nicht mehr weißen, als Schürze fungierenden Geschirrtuch ab, baut sich vor uns auf und fragt mit Grabes-Stimme „Wer von Euch hat die scharfe Currywurst mit Spargel bestellt?“ „Ich“, sagt Caro spontan und unbekümmert. Wenn ich das bestellt hätte, mir hätte er ganz gewiss eine reingesemmelt, aber Caros natürlichem Charme kann niemand wiederstehen, auch ein Grillmeister nicht. „Sowas Verrücktes hat ja noch nie jemand bestellt. Bringe ich dich jetzt um“, – wie selbstverständlich Duzt er uns, aber wir sind ja schließlich auf dem Dorfe – „bringe ich mich jetzt um … oder nehm‘ ich’s ganz einfach professionell und mache, was der Gast wünscht, auch wenn es noch so pervers ist?“ Um die Spannung nicht in’s Unermessliche steigen zu lassen, er wird es professionell nehmen und persönlich – wenngleich noch immer kopfschüttelnd – Caro eine Portion Höllenhund-Currywurst mit Spargel servieren. Ohne zu fragen – wir sind auf dem Lande – setzt er sich zu uns an den Tisch und schaut Caro beim Essen zu, die ihre Portion mit einem kontinuierlichen Schmunzeln glücklich verdrückt … und sogleich eine weitere bestellt.

Wo wir denn herkämen, dass wir so komische Sachen bestellen, beginnt der Grillmeister ein Gespräch. Er stellt sich vor als Peter, aber alle würden ihn nur Pete nennen, eigentlich schon immer. Im Laufe des Abends leert sich der Biergarten immer mehr, Petes Anwesenheit an den Grills ist immer weniger notwendig, er pendelt zwischen Grill und unserem Tisch, wir bieten ihm von unserem Silvaner an, rasch ist die Flasche leer, wie automatisch kommt er mit einer Neuen daher mit den Worten „Die geht auf mich.“, Caro verputzt noch die eine oder andere Portion Spargel (ihr Rekord liegt bei 13 Portionen an einem Tag), Pete verschwindet irgendwann kurz in der Küche und serviert uns ungefragt einen fulminanten gemischten Dessertteller, dazu entwickelt sich ein ausgesprochen nettes, angeregtes, interessantes Gespräch über Essen, Trinken, Spargel, Rezepte, Landgasthäuser, Reisen … und irgendwann auch mal über das Leben von Pete.

Es wird rasch klar, dass Pete nicht aus diesem ländlichen Habitat stammt. Drei Sorten selbst aufgeschlagener Hollandaise – mit Zitronen-Note, mit Nuss-Note und neutral bis leicht Petersilig – dazu extra eine echte Bernaise, ziemlich gute Rösti, hausgemachte Pasteten, selbst gemachte Desserts … das lernt man nicht in Dorfgasthäusern, und das serviert man dort ebenfalls nur selten. Pete stammte aus einer Metzgers-Familie, irgendwo in Norddeutschland. Sein großer Bruder musste Metzger lernen, Pete Koch, denn – so war die Überlegung der Eltern – dann könnten die Kinder zusätzlich zur Metzgerei noch ein Gasthaus aufmachen und gemeinsam einträchtig zu Wohlstand gelangen. Der Bruder übernahm dann wohl tatsächlich die väterliche Metzgerei, während Pete als Kochgeselle auf Wanderschaft ging; er kochte für einen Hungerlohn bei fast schon unmenschlichen Arbeitsbedingungen und entwürdigender Unterbringung in guten Fünf-Sterne-Hotels in den schönen Feriengebieten Mitteleuropas, wo den Gästen für 90 DM die Nacht Komfort-Zimmer und Halbpension mit Fünf-Gänge-Menüs offeriert wurden; möglich waren (und sind) solche billigen Preise allein durch die konsequente Ausbeutung des Personals, und Pete war einer von denen. Pete erzählt von Zeitdruck, brüllenden Chefs, engen Küchen, kurzen Unachtsamkeiten, von Schnittwunden, Verbrennungen, gar von abgetrennten Gliedern; erst jetzt bemerken wir, dass Pete das erste Glied des linken Kleinen Fingers fehlt, und wie zur Ergänzung zeigt er uns die vernarbte Haut seines Schienbeines, „Heißes Frittierfett, ein Idiot von einem Kollegen hat die Fritteuse umgestoßen, und mein Bein war drunter. Eine Woche war ich krankgeschrieben, dann musste ich wieder ran, mit dem offenen Bein.“ Er zeigt uns weitere Narben und erzählt ihre – immer unschönen – Geschichten. Nach lange genug erfolgter Ausbeutung folgte das obligatorische Gastspiel als Chef de Partie und dann als Souschef in zwei Restaurants mit je einem Michelin-Stern, und dort wurden die Ausbeutung und der Druck dann wohl nochmals schlimmer, dazu kamen zuerst nur Alkohol, dann viel Alkohol, die Chefs kümmerten sich wenig darum, wieviel Koch-Wein und wieviel Koch-Cognac in der Küche verschwanden, solange die Brigade nur reibungslos funktionierte, dann Joints, Nachts, nach den Dienst, dann vor und während des Dienstes, bei manchen Köchen auch Koks, bei den Spülern und Hilfskräften Ecstasy und Crystal Meth. Irgendwann wurde der Druck zu groß, so dass Pete alles hinschmiss. Zurück in den heimatlichen Kleinstadt-Mief, dann als Knecht seines Vaters und seines größeren Bruders, wollte er nicht.  Als ausgebildeter Küchenmeister verdingte er sich in einer großen Brauereigaststätte, ordentliches Gehalt, faire Sozialleistungen, geregelte Arbeitszeiten, gute Arbeitsbedingungen, gut ausgestattete Küche, keine Erwartungen von kulinarischen Höchstleistungen, sogar einen Betriebsrat gab es …  Er heiratete, zeugte zwei Töchter, fuhr 3er-BMW und sparte auf ein Häuslein, das müssen die besten Jahres seines Lebens gewesen sein. Dann übernahm ein internationaler Konzern aus Belgien die Brauerei und damit auch die Brauereigaststätte, und der Ton wurde rauer, die Anforderungen höher, die Kollegen weniger, die eingekauften Rohstoffe minderwertiger, eine Unternehmensberatung nach der anderen fegte durch die Brauerei, jede fand immer noch mehr Einsparungs- und Optimierungspotential, … bis Pete seine Ersparnisse nahm, von einer anderen Brauerei ein mittel-großes, gut gelegenes, seit einiger Zeit verwaistes Speiselokal mit Veranstaltungssaal, Kegelbahnen, Gastgarten und einer sehr ordentlich ausgestatteten Küche pachtete. Trotz guter Lage liefen die Geschäfte nie wirklich befriedigend. Anfangs bot Pete gut-bürgerliche, gehobene Hausmannskost an, fast alles selber gemacht, kaum Convenience, eine Beiköchin, eine Spülerin, seine Frau machte mit ein paar Studentinnen den Service. Lange Arbeitszeiten, morgens in die Metro, Mittagstisch, Abendkarte vorbereiten, warme Küche bis 23:00, Lokalschluss um 01:00, dann noch aufräumen, am nächsten Tag wieder früh raus, das zehrt. „Zu Anfang, da kam ich zwei, dreimal am Abend aus meiner Küche, schwätzte mit den Gästen, trank ein Bier, und eines zum Feierabend. Dann kam ich jede Stunde, dann jede halbe Stunde raus, dann trank ich zu jedem Bier noch einen Schnaps, und so weiter, man kennt das ja.“ Mit spröden, distanzierten, ungeschönten, fast schon unbeteiligten Worten beschreibt Pete seinen Weg in den Alkoholismus. Dazu Rückschläge ganz anderer Art, eine Steuerprüfung hätte ihn fast in’s Gefängnis gebracht, ohne dass er sich eines Fehlverhaltens überhaupt nur bewusst war, ein lokaler Autohaus-Besitzer feierte seinen vierzigsten Geburtstag im großen Stil bei Pete und weigerte sich danach zu zahlen, über 10.0000 €, angeblich weil das Essen verdorben gewesen sei und einige seiner Gäste ins Krankenhaus gemusst hätten, Pete konnte das nie nachprüfen, und als der Autohaus-Besitzer mit Klage drohte, gab er klein bei; 10.000 €, das tut einem kleinen Wirt richtig weh. Später erfuhr er, dass dieser Typ diese und ähnliche Nummern auch bei anderen Wirten in der Region abgezogen hatte, weshalb keiner ihn mehr als Gast haben wollte, der Neuling Pete war da gerade recht gekommen. In der Ehe kriselte es mehr und mehr, wenig Geld, viele Schulden, viel Arbeit, kaum Privatleben und Zeit für die Kinder, dazu Pete ständig im Öl und in der Folge auch noch massive Potenzprobleme – das erzählt er ganz entspannt und offen wildfremden Menschen beim Silvaner – , das gefällt keiner Ehefrau auf Dauer. Die Geschäfte liefen schlecht, die Gäste blieben zusehends aus, egal, was Pete auf der Speisekarte anbot und welche Werbung er mit seinen bescheidenen Mitteln auch versuchte. Und manchmal, manchmal da geschehen doch noch Wunder. Eines Nachts, nach Küchenschluss, stand Pete hinter seinem Tresen, trank Bier und Schnaps, da quatschte ihn einer seiner Gäste an: es war der Vize-Präsident des örtlichen Fußball-Zweitligisten. Der Verein suche einen Mannschaftskoch, und Pete sei doch ein ziemlich guter Koch, auch was Salate und „so’n Fitness-Zeugs“ anbelangt. Das sei kein Full-Time-Job, vor allem ginge es darum, gemeinsam mit dem Vereinsarzt eine Art Diätplan für die Spieler aufzustellen, der einerseits gesund sei, andererseits den Spielern schmecke und der dritterseits auch im tag-täglichen Leben realisierbar sei. Wirklich kochen sollte Pete nur zu den Liga-Spielen, bei wichtigen Trainings und natürlich bei den Vorstandssitzungen und Vereinsfeiern. Ordentlich bezahlt war der Job obendrein noch, Pete konnte einen Jungkoch einstellen und nebenbei sein eigenes Restaurant weiter betreiben. Tatsächlich war die Vereins-Kocherei ein voller Erfolg. Die Spieler mochten Petes Essen, die Vorstände noch viel mehr (wobei die Vorstände nicht zwanghaft auf „so’n Fitness-Zeugs“ bestanden, eher ganz im Gegenteil …), das Geld stimmte, aber die Arbeit wurde auch mehr, viel mehr. Durch seine neue Popularität brummte plötzlich auch sein eigenes Restaurant, Laufkundschaft, immer mehr Stammgäste, der Veranstaltungssaal war auf lange Zeit komplett ausgebucht, dazu durfte er bei den Reichen und Schönen (vor allem aber bei denen, die sich dafür halten) catern und dabei ohne Probleme gesalzene Preise verlangen. Als das Landesprogramm der ARD dann anfragte, ob er nicht eine eigene Kochsendung im Dritten haben wollte, „Fit mit Pete. Gesunde heimische Küche“ sollte der Titel sein, wähnte er sich bereits im Sternenhimmel der Köche. Tatsächlich wurde die Sendung umgesetzt, 35 Minuten jede Woche, er bekam einen Vertrag für erstmal 12 Folgen, dazu ein tolles Fernsehkochstudio, Berater, Beiköche, Skriptschreiber, Visagisten, Friseure, das volle Programm halt. Auch die Sendung war ein Erfolg, kein gigantischer Erfolg, aber für ein Drittes ein respektabler Erfolg, der sich nochmals sehr positiv auf die Besucherzahl seines eigenen Lokals auswirkte. Die Trunksucht jedoch war mit dem Erfolg nicht besser, sondern schlimmer, viel schlimmer geworden. Seine Frau war längst weg mit den Kindern, er schlief jetzt wechselweise mit seinen Bedienungen, so gut es ging halt, die wohl sein Fernseh- als auch Fußball-Ruhm in sein Bett spülten. Dazu kamen ständige Interviews mit der Lokalpresse, aber auch die üblichen Restaurant- und Koch-Zeitschriften begannen Pete als Thema für sich zu entdecken. Zu Anfang fand er es noch toll, von seinem Leben, seinen Prinzipien und Zielen als Koch, seinen Plänen öffentlich zu erzählen, nachdem er die Geschichten das dutzende Mal in irgendwelche Mikros geplappert hatte fing es an, ihn zu ermüden und zu langweilen. Früher hätte er noch gejauchzt, als die Anfrage des renommierten Verlages kam, ob er nicht – zusammen mit einem Ghostwriter natürlich – ein Kochbuch schreiben wolle, sprich er stellt seinen Namen und vielleicht ein paar Ideen zur Verfügung, der Ghostwriter schreibt, der Verlag organisiert das Bildmaterial und macht den Rest; jetzt seufzte er nur noch, noch mehr Arbeit, weniger mit dem Schreiben, als vielmehr hinter her die Promo-Touren durch Buchhandlungen, Fernseh- und Radiosendungen und weiß der Geier was, er sagte aber trotzdem zu. Das Leben war gut, viel zu tun, aber auch viele Helfer, gutes Geld, er legte sogar etwas zur Seite, dickes Auto, an- und gerngesehener halbwegs prominenter Mitbürger, viele Schmarotzer, die er tatsächlich für Freunde hielt … aus der Distanz analysiert Pete heute seine damalige Situation mit einer eiskalten, fast schon brutalen Klarheit.

Zwischenzeitlich ist es kühl geworden im Biergarten, nur noch wenige Gäste sitzen an den Tischen, in der Nähe der Hauswände, die noch immer die Sonnenwärme des Tages abstrahlen. Der Wein ist auch mal wieder alle, wie schon so oft diesen Nachmittag/Abend, langsam fängt der Silvaner an, zu schmecken, doch wir beide – Caro und ich – spüren ihn ganz deutlich sowohl in den Beinen als auch in den Birnen, Pete hingegen – der viel mehr getrunken hat als wir – erscheint unheimlich nüchtern (es ist wirklich unheimlich, wie nüchtern er nach der Alkoholmenge immer noch wirkt). Pete gibt letzte Anweisungen an die verbliebene Kellnerin, den Schankkellner und den Beikoch, sie sollen aufräumen, putzen, abkassieren und dann Schluss machen, 23:00 Uhr, eine gnädige Zeit im Restaurant-Gewerbe. Wir setzen uns in die Gaststube, auch hier nur noch wenige Gäste, eine Kellnerin deckt die hinteren Tische bereits für das Frühstück der Hausgäste am nächsten Morgen ein, Pete macht ungefragt noch eine stattliche Brotzeitplatte in der Küche, läuft die Treppe hoch und kommt mit einer halbleeren grünen Literflasche ohne Etikett zurück. „Das ist mein Privater, Obstler von einem Bauern mit Brennlizenz ein paar Orte weiter. Er hat eine Lizenz für 250 Liter, da kommen immer so 700 bis 1.000 1-Liter-Flaschen raus, kann der Zoll gar nicht spitz kriegen, das Zeugs ist gut und phänomenal billig.“ Pete grinst und schenkt uns jeweils ein halbes Wasserglas voll ein, er selber macht sein Glas ganz voll, leert es in einem Zug und schenkt sich schon nach, während wir noch nippend kosten: tatsächlich, ein sehr guter Obstler, da hat er Recht.

Pete setzt sich zu uns an den Tisch, komischer Weise haben wir durchaus schon wieder Hunger, wir knabbern Schwarzgeräuchertes, Obazden, Radieschen, dazu der scharfe Obstler. Während Pete sein erstes Buch in Buchhandlungen, Fernseh- und Radiosendungen und weiß der Geier was promotete, geschah das lange Absehbare, das fast schon Unausweichliche, das von allen immer Verdrängte, das Befürchtete, das Totgeschwiegene, das Schreckliche, das keiner der Beteiligten – Spieler, Vorstände, Sponsoren, Fans, Medien – wirklich wahr haben, auch nur wahr nehmen wollte: Petes Fußballverein stieg in die Dritte Liga ab. Und dann ging alles furchtbar schnell. Sponsoren sprangen ab, prominente und einflussreiche Vorstände legten ihre Vorstandsmandate im Verein nieder, die lokale Presse kippte Häme und Spott über die, die vor Monatsfrist noch Lokalmatadoren und Helden waren, langfristig gebuchte Cateringaufträge und Festlichkeiten bei Pete wurden mit einem Male ohne Nennung von Gründen storniert, die Besucher im Lokal wurden weniger, der Vertrag als Vereinskoch wurde gekündigt (Pete hatte übersehen, dass im Kleingedruckten seines Vertrages dem Verein im Falle eines Ligawechsels – also auch beim einem Aufstieg, Schweinepriester! – ein Sonderkündigungsrecht zustand; überhaupt hatte Pete noch nie in seinem Leben Kleingedrucktes gelesen, aber diesen Job war er sowieso los), die zwölf Folgen der Kochsendung waren abgedreht, der Sender lieferte noch nicht einmal eine Begründung oder Entschuldigung, warum er nicht einen Vertrag für weitere Sendungen anbot, waren die Einschaltquoten doch wirklich nicht schlecht gewesen, aber niemand mag Verlierer, und die Köche von Verlierern mag auch niemand; selbst das Kochbuch mit dem Namen von Pete auf dem Cover wurde vom Verlag recht bald für 4,99 € verramscht. Pete versuchte, wenigstens sein eigenes Lokal zu retten, er stand wieder selber in der Küche, eine Hilfskraft für alles, zwei Bedienungen, offiziell auf Mindestlohn-Basis, tatsächlich arbeiteten sie viel mehr, der Rest ging dann schwarz. Pete bot Schnitzel-Tage an  – jedes Schnitzel mit Beilage 9,99 €, dann sogar nur 7,99 € -, All-you-can-eat-Buffets für 12,99 €, Sonntags-Brunch, Australische Wochen mit Känguru, Alligator und Schlange vom Grill, Pizza und Flammenkuchen, Senioren-Mittagstische, alle Gerichte to go, Tanzabende mit Rumstata-Kapelle, … all diese verzweifelten, hilflosen Rettungsstrohhalme, an die sich untergehende Wirte landauf, landab immer noch einige Zeit in ihrem verzweifelten Überlebenskampf klammern, bevor sie endgültig untergehen. Mit Pauken und Trompeten ging Pete in die Privatinsolvenz, natürlich hatte er es immer versäumt, eine GmbH für seine Geschäfte zu gründen. Die paar Ersparnisse waren längst draufgegangen, Pete ging nahtlos in Hartz IV über, winzige Sozialwohnung, ständig pleite, ständig im Suff, das Geld für den Schnaps verdiente er als illegaler Aushilfskoch. Alle – auch alle Wirte – wussten, dass Pete am Arsch war, pleite, aber immer noch ein ziemlich guter Koch, zumindest wenn er halbwegs nüchtern war, und so wurde er gerne bei großen Veranstaltungen von den Ex-Wirtskollegen illegal als zusätzlicher Postenkoch beschäftigt, billig, gut, ohne Sozialversicherung, alles unter der Hand, diskret, problemlos. So kochte Pete bei Hochzeiten, Taufen, Geburtstagen, Firmenjubiläen bei seinen Ex-Kollegen heimlich mit, als praktischer, wohlfeiler Springer. Wenn die Veranstaltung vorbei war, gab’s Bares ohne Quittung auf die Hand, und Pete verschwand im nächsten Aldi oder der nächsten Kneipe, war im Öl, bis die nächste Anfrage kam.

Wahrscheinlich hätte sich Pete zielgerichtet und zügig zu Tode gesoffen, hätte ihn nicht plötzlich sein altes Leben wieder eingeholt. „Ich war ganz, ganz unten, da standen mit einem Male meine beiden Töchter, fast schon junge Frauen bei mir auf der Matte. Weißt du, wie du dich schämst, wenn du am Vormittag besoffen in ner dreckigen Jogginghose im abgedunkelten Zimmer auf der Couch liegst, Deppenfernsehen schaust, um dich herum leere Bierdosen und Schnapsflaschen … und plötzlich stehen deine Töchter auf der Matte vor der Tür, freundliche, gepflegte Schönheiten, und die wollen zu dir. Bei ihrem ersten Besuch wollte ich sterben. Die wollen nichts von dir, sie wollen dich, weil sei irgendwas für die empfinden, das war unglaublich. Ich wollte wirklich sterben, so schämte ich mich.“  Seine Töchter – sie wohnten immer noch bei der Mutter, die hatte gut mitverdient über Unterhalt für sich und die Kinder, als Pete viel verdiente, jetzt musste sie wieder zusehen, wo sie blieb, sie ließ sich wohl von einem deutlich älteren Mann aushalten – kamen von da an regelmäßig, räumten seine Wohnung auf, wuschen, kochten für ihn, kochten für den Koch, seine Scham wuchs in’s Unermessliche, er begann eine Entziehungskur, brach sie ab, die selbe elende, unwürdige Situation, stoisch kamen seine Töchter weiter, er begann eine zweite Entziehungskur, hielt sie durch, war schließlich trocken, für seine Töchter.

„Tja und dann“ beendet Pete seine Lebensbeichte, „fand ich den Job hier. Das Gasthaus hat ein Stuttgarter Taxiunternehmer-Ehepaar gekauft, zum Teil als Geldanlage, zum Teil als zweites Standbein, zum Teil aus Liebhaberei. Meistens sind sie eh nicht hier. Sie wissen das von meiner, meiner, na ja, sie wissen das mit dem Saufen und der Pleite. Sie wollten halt einen ordentlichen Koch hier, keine dörfliche Schweinsbraten-Tristesse, aber auch kein Hoch-Küchen-Schnick-Schnack, solide, gehobene Küche, das mögen sie selber, das wollen sie für ihre Gäste und das kann ich ja eigentlich ganz gut. Wir haben den Deal, solange ich im Dienst halbwegs nüchtern bin und der Laden läuft, ist alles für sie ok. Wenn ich’s besoffen verbasele, fliege ich. Das ist fair, finde ich. Tagsüber kann ich mich beherrschen, abends hole ich mir meine Flasche runter, ich wohne auch hier im Haus. Und wenn die Gästezimmer nicht ausgebucht sind – und das sind sie fast nie, außer vielleicht mal bei ner Hochzeit – dürfen meine Töchter umsonst hier schlafen, wenn sie mich besuchen. Ich finde das sehr fair von den Eigentümern, und ich werde sie nicht enttäuschen.“

Nachts liege ich – trotz meines beduselten Kopfes – noch lange wach und denke über die Lebensgeschichte von Pete nach. Ich denke an Alfons Schuhbeck – wie oft war der gleich pleite und wegen Koks verknackt? –, ich denke an die monströsen Schilderungen von Anthony Bourdain. In Petes Geschichte ist ganz viel von den beiden, und noch ungleich mehr. Und ich denke an Hannes Waders deutsche Adaption (mehr als eine bloße Übersetzung des amerikanischen Gassenhauers) von „Rock’n Roll, I gave you all the best years of my life“; dort singt er zum Schluss den wahrlich denkwürdigen Satz „Und heute singe ich um mein Leben.“ Irgendwie scheint es bei Pete dramatisch ähnlich zu sein: „Und heute koche ich um mein Leben.“ Und dann kommt einer wie ich daher, mit seiner Sonntagsbiographie, bestellt ein Steak um 25 €, und fängt an zu kritteln, dass das Fleisch nicht auf den Punkt durch, der Salat nicht perfekt geputzt, das Kartoffelgratin zu matschig ist, und die Sauce verdächtig nach Convenience schmeckt. Darf ich das? Nach langem Nachdenken komme ich dann doch zu dem Schluss, ja ich darf das. Wenn jemand nennenswertes Geld für Lebensmittel von mir haben will – ausgenommen sind der geschenkte Gaul und das Almosen –, wenn jemand seinen Lebensunterhalt mit der Produktion, dem Handel, der Zubereitung von Lebensmitteln verdient, dann darf ich auch kritisieren, wenn’s und was mir passt oder eben nicht passt.

Später daheim werde ich noch nachrecherchieren, ob das den alles so stimmt, was Pete erzählt hatte. Vieles von dem werde ich in alten Lokalzeitungen – bzw. deren Online-Archiven – wiederfinden, Berichte von Pete als Vereinskoch, Bilder von ihm mit den Vereins-Granden und den Spielern, glückliche Tage, wie es scheinen will, Interviews in alten Kochzeitschriften, Artikel über sein Lokal und über die Übernahme der Brauerei durch die Belgier, die 12 Folgen seiner Kochsendung werden noch in einer Mediathek abrufbar sein, sogar einen Artikel über besagten Autohaus-Besitzer werde ich finden, er hatte seine Nummer später nochmals bei einem Wirt abgezogen, der am selben Tag die Rotarier, Lions oder einen ähnlichen Verein der wichtigen Leute, zu Gast hatte, und die angeblich erkrankten Gäste des zahlungs-unwilligen Autohaus-Besitzers hatten nachweislich genau das gleiche gegessen wie die Honoratioren, und von denen war keiner erkrankt und alle bezeugten dies für den armen Gastwirt grad mit Fleiß vor Gericht, worauf hin der Richter das Strafhöchstmaß wohl genüsslich verhängte und der Ertappte sich auch nicht in die Revision traute, all das werde ich später daheim finden und daraus schließen, dass Petes Erzählungen wohl authentisch waren.

Die folgenden zwei Jahre werden wir dann unsere Frühjahrs-Spargel-Fahrrad-Touren wie immer in das nämliche Landgasthaus unternehmen, zweimal wird uns Pete freundlich begrüßen, sich zu uns setzen, sobald es die Küche erlaubt, das Ratschen und Saufen beginnen, nur wird das Gespräch niemals wieder die unvermittelte Tiefe und Ehrlichkeit erreichen wie beim ersten Male, es wird nettes, oberflächliches Geplauder bleiben. Im dritte Jahr wird Pete verschwunden sein, „Der ist nicht mehr bei uns, der hat jetzt wieder seine eigene Kneipe, drei Querstraßen weiter.“, wird uns die Bedienung lapidar sagen. Wir werden die Spargel-Orgie an diesem Tage verschieben, drei Straßen weitergehen, dort werden wir ein „Pilspub“ finden, eine heruntergekommene Dorfkaschemme ohne Speisekarte, nur Getränke. Hinter der Theke in dem abgedunkelten, schmuddeligen Raum wird Pete stehen, betrunken, nur noch ein Abziehbild seiner selbst, selbst sein bester Gast, drei oder vier Dorf-Säufer um ihn herum. Die Atmosphäre wird wortkarg, stumpf sein, außer einem „Hallo, seid ihr auch mal wieder da.“ wird nicht viel geredet werden, fast schon wird man das Gefühl bekommen können, die Atmosphäre sei geradezu irgendwie feindlich. Wir werden ein Bier trinken und schnell wieder gehen, der Spargel wird uns an dem Abend nicht so recht schmecken wollen. Im Jahr drauf werden wir wie immer wiederkommen, Petes Kneipe wird verwaist sein, seine Spur sich verloren haben, …

 

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