Marginalie 12: Spürbare Blicke

Man kann die Blicke von Menschen physisch im Rücken spüren, ohne sie anzusehen. Ich weiß, wovon ich rede. Es gab eine Zeit, da war ich noch wichtig. Und da begab es sich, dass der Irische Handelsminister die Republik bereiste, um die Handelsbeziehungen mit Irland zu festigen und zu vertiefen. Um Handelsbeziehungen zu festigen und zu vertiefen, hält man am besten ganz viele und möglichst lange Reden, und dann frisst und säuft man mit den Handelspartnern, was das Zeugs hält. Ein alterprobtes Konzept, an dem sich antiken Zeiten wenig geändert hat. Zu solch einer Festivität allererster Kajüte (Zitat Bugs Bunny) war ich also geladen, im großen Festsaal der Stadt, des Abends um 19:00 Uhr, man konnte also ganz normal das Büro verlassen und sogleich die Veranstaltung aufsuchen, sehr praktisch. Im Saal hatte sich die Hautevolee versammelt, ungemein wichtige Menschen mit vielen Titeln, großen Autos, gestriegelter Kleidung, bedeutenden Positionen, und sehr viel Macht und Einfluss, die würden gewiss alle miteinander helfen, die Handelsbeziehungen mit Irland zu festigen und zu vertiefen. Alle hielten ein mehr oder minder volles Sektglas in der Hand, wahlweise gefüllt mit billigem Prosecco (wohl in Ermangelung Irischen Schaumweines, Guinness wäre als Aperitif wohl zu popelig gekommen, und für Whisky war‘s noch eindeutig zu früh), Prosecco mit O-Saft, nur O-Saft oder mit Wasser, und alle standen mehr oder weniger wichtig und plaudernd herum. An der langen Wand des großen Festsaals der Stadt hatte der Irische Handelsminister ein Buffet mit original Irischen Spezereien aufbauen lassen (für den zweiten Teil des Handelsbeziehungen Festigen und Vertiefen: s.o., Fressen und Saufen was das Zeug hält), und weit über Kerrygold, Lachs, Milch, Guinness und Whisky hinaus sah das Buffet wirklich köstlich aus, zumal für einen, der den ganzen Tag noch kaum was gegessen hatte, alldieweil das Mittagessen mal wieder wegen einer überzogenen Sitzung ausgefallen war und statt Abendessen der Handelsminister-Empfang anstand. Dort lockten Stews, echter Colcannon (wo findet man sowas sonst auf dem Kontinent?), Batterien von Roasted Turkey, Würste, Käse, Farmhouse Soda Bread, Scones, alle Arten von Salaten, große Berge von blutigem Roastbeef, Meeresfrüchte, … es war allein schon eine Lust, diese Leckereien, die mal so ganz anders daher kamen als die einheimischen Standard-Luxus-Buffets, nur anzuschauen.

Doch vor das Schlemmen hatte das widrige Schicksal das Reden gestellt. Zuerst sprach der Oberbürgermeister, quasi als Hausherr, er begrüßte uns alle und sagte, wie wichtig die Festigung und Vertiefung der Handelsbeziehungen mit Irland seien. Dann sprach der extra aus der Hauptstadt angereiste Irische Botschafter, er begrüßte uns alle auf Englisch und sagte, wie wichtig die Festigung und Vertiefung der Handelsbeziehungen mit Irland seien. Dann sprach unser Wirtschaftsminister, er begrüßte uns alle – diesmal wieder auf Deutsch – und sagte, wie wichtig die Festigung und Vertiefung der Handelsbeziehungen mit Irland seien. Und dann endlich, dann sprach der Irische Handelsminister, er begrüßte uns alle –zur Abwechslung mal wieder auf Englisch – und sagte sehr ausführlich, geradezu ausschweifend, wie wichtig die Festigung und Vertiefung der Handelsbeziehungen mit Irland seien. Derweil standen wir Gäste – in Ermangelung von geeigneten Sitzgelegenheiten – allesamt dumm rum, uns krampfhaft an unseren zunehmend leeren Gläsern festhaltend. Schließlich beendet der Irische Handelsminister seine endlos scheinende Rede mit den denkwürdigen Worten: „The buffet is open now. Enjoy!“ Mein Magen hing in den Kniekehlen, ich machte mich mental bereit, mich in die jetzt unvermeidlich über das Buffet hereinbrechende Menschenmenge an einer strategisch geschickten, aber dennoch nicht zu auffälligen Pole-Position einzureihen, um möglichst zügig möglichst viel möglichst leckere Dinge meinem hungrigen Wanste zuführen zu können. So also stand ich auf dem Sprung … und nichts geschah. Der Handelsminister verließ das kleine Rednerpult, eine Traube von Arschkriechern schlich ihm sogleich antichambrierend um den Nämlichen herum, alle anderen Gäste hielten sich weiter verkrampft plaudernd ebenso verkrampft an ihren mittlerweile vollends leeren Sektgläsern fest, hinter dem Buffet wartete eine Schar gestriegelter, kampfbereiter und offensichtlich -erprobter Köche auf das hereinbrechende Inferno … und nichts geschah. Keiner dieser wichtigen Menschen machte auch nur eine Anstalt, sich Richtung Buffet zu bewegen, noch nicht einmal der Handelsminister selber, der war vollauf damit beschäftigt, sich seines Arschloches ob der mannigfachen Hineinkriech-Attacken zu erwehren, der Arme.

Um 07:00 Uhr hatte ich an diesem Tage eine Schüssel Müsli mit frischen Früchten und eine Scheibe Brot gefrühstückt, im Laufe des Tages konnte ich in diversen Sitzungszimmern ein paar Kekse ergattern, gegen 15:00 Uhr hatte ich einen Apfel gegessen, der dazu noch mehlig war, mein Abendessen war bisher ausgefallen, alldieweil ich direkt nach Büroschluss auf diese dämliche Veranstaltung mit dem Irischen Handelsminister musste, um die Handelsbeziehungen mit Irland zu festigen und zu vertiefen. Kennen Sie dieses „Jetzt ist alles scheißegal – Gefühl!“, das einen zuweilen überkommt? Just dieses überkam mich jetzt, ich vergaß alle anerzogene Zurückhaltung und Scham, löste mich aus der herumlungernden Menschenmenge, stellte mein noch immer leeres Sektglas beiseite und ging festen Schrittes auf das köstliche Buffet zu — und in diesem Augenblick spürte ich physisch die vielleicht 500 Augenpaare, die gerade auf meinen Rücken blickten, zum Teil wahrscheinlich indigniert („So ein verfressener Kerl, so ein verfressener!“), zum Teil garantiert freudig-gelöst („Endlich macht jemand den Anfang – rasch hinterher und Futter fassen!“), zum eher geringeren Teil vielleicht auch etwas bewundernd („Respekt, der traut sich was!“). Der psychische Druck auf mich, da vorne, ganz allein auf der einen Seite des Buffets, auf der andere Seite die Brigade von Köchen, die wohl froh waren, dass es endlich los ging und sich damit auch irgendwann ein Ende für sie abzeichnete, hinter mir die Traube der Gäste, darunter ein Handelsminister, ein Wirtschaftsminister, ein Oberbürgermeister und ein Botschafter, war immens, ich merkte, dass ich anfing zu schwitzen, ich spürte die Blicke, das Tuscheln, selbst die Gedanken über mich, spürte es wirklich physisch am Rücken, im Nacken, vor allem aber dann im Bauch. Das Gefühl eines Fußballspielers, der ganz allein zum Elfmeter, von dem Sieg und Niederlage abhängen, vor dem gegnerischen Tor steht, begafft von Zehntausenden im Stadion und Millionen im Fernsehen; der Tenor, der ganz allein auf die Bühne tritt, vor ein Publikum aus den größten und kritischsten Kunstkennern der Welt; der überraschende Wahlsieger, der zum ersten Male im Systemfernsehen eine staatstragende Rede vor einem Millionenpublikum halten muss: alles geschenkt, verglichen mit dem Gefühl da ganz alleine am Buffet. Einerlei, der Hunger war größer, ich nahm mir einen Teller, legte von einer großen Servierplatte ein erstes Scheiblein Lachs auf den Teller, …. und dann, dann brach die Hölle um mich herum los. Die träge herumstehende Gäste-Traube setzte sich mit einem Male in Bewegung in Richtung Buffet, fiel regelrecht von allen Seiten über das Buffet her, man hätte meinen sollen, ich sei der Erste gewesen und so als erstes an der Reihe, doch unvermittelt nicht nur rechts, auch links, vor, neben, fast schon über mir Horden hungriger Handelsbeziehungsfestiger, ich wurde gedrückt, geschubst, gedrängt, es war wie „Die heiße Schlacht am kalten Buffet“ von Rainhard Mey und noch schlimmer, die übliche Futterschlacht der besseren Gesellschaft bei solchen Anlässen halt, wenn der Herr Doktor zum Tier wird, die Frau Minister zur Möne, der Herr Anwalt es dem Tasmanischen Teufel gleichtut und die Fabrikanten-Gattin zur rasenden Rachegöttin der Rohkostsalate mutiert, ganz normales gesellschaftliches Leben in oberen Kreisen also. Ich persönlich wurde an dem Abend dann auch noch satt, trug aber ein paar beachtliche Blaue Flecken davon.

Was mir auf Dauer von diesem denkwürdigen Abend bleibt ist das Wissen, wie man sich fühlt, so ganz alleine in vorderster Front, und dass man Blicke, Getuschel, Gedanken gar physisch fühlen kann. Der ganze Spuk von Losgehen aus der Gästeschar bis Hereinbrechen derselben über mich und das Buffet hat nur 30, vielleicht 60 Sekunden gedauert, aber die zählen zu den intensivst gefühlten Sekunden meines Lebens. Sicherlich sollte man diese Erfahrung einmal in seinem Leben gemacht haben, aber ich brauche sie kein zweites Mal. Was mir aber vor allem bleibt ist der Ruf in jener oberen Gesellschaft, dass ich verfressen sei. Nun gut, ich bin tatsächlich verfressen, aber das hat nichts mit jenem Gang zum Buffet zu tun, der mir wohl mein Leben lang noch anhängen wird.

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