Es ist 23:00 Uhr des Nachts. Ich verlasse den Japan Tower in Frankfurt, ein nobles Geschäftshaus, rote Fassade mit viel Glas, mit 115 Meter Höhe noch einer der Zwerge in der Frankfurter Skyline, gelegen vis-à-vis der Gallusanlage, zwischen Innenstadt, Bankenviertel und Hauptbahnhof, eine Lage on the edge könnte man sagen, auf der einen Seite des Japan Towers Kultur-Tempel, Nobel-Geschäfte, Edel-Restaurants und hemmungsloser Konsum, auf der anderen Seite Geld-Tempel, engmaschige Security, allgegenwärtige Video-Überwachung und hemmungsloser Raubtier-Kapitalismus, auf der dritten Seite aber Sündenpfuhle, Räuberhöhlen, die Elenden dieser zerfallenden Republik, Zwangsprostituierte, Drogenabhängige, Kleinkriminelle, dazu ihre Zucht- und Melk-Meister, Luden, Dealer, verbrecherisches Gesindel aus aller Herren Länder mit Anhang, hemmungslose Frevel, Laster, Verderbtheit und Verzweiflung, ich spreche vom Frankfurter Bahnhofsviertel. Auch – um dies vorwegzunehmen – wenn Prostitution und Drogenabhängigkeit niemals etwas Romantisches haben – selbst wenn Benn, Trakl, Artaud, Picasso, Poe, Heine, Ginsberg, Toulouse-Lautrec, van Gogh, Heine, Brel, … you name it künstlerisch ein anderes Bild zeichneten, selber gezeichnet – so hatte das Bahnhofsviertel in Frankfurt vor Jahrzehnten mit seiner verruchten Schmuddligkeit durchaus einen gewissen Reiz, vergleichbar mit der Reeperbahn in den siebziger und achtziger Jahren, bevor sie zur Party- und Touristen-Meile verkam. Das Frankfurter Bahnhofsviertel hingegen ist nicht zur Party- und Touristen-Meile verkommen, sondern zu Meile der Elenden und Verbrecher (wobei die Übergänge fließend sind, wirkliche „Gewinner“ gibt es im Bahnhofsviertel wohl nur wenige).
Ich verlasse also des Nachts besagten Japan Tower im feinen Business-Zwirn, Rollköfferchen, Aktentasche, dazu die üblichen Insignien der Macht offen getragen. Ich will zum Hauptbahnhof, um den Zug nach Hause zu erwischen, eigentlich nur fünf Minuten zu Fuß, aber eben quer durch Gallusanlage und Bahnhofsviertel. Ich bin in Mexico City über den La Merced Market gelaufen, durch die South Side of Chicago, durch Downtown Oakland, die Suburbs von Bombay, … in Nachhinein alles sehr blöde Ideen, aber ich hatte dabei nie ein schlechtes Gefühl. Im Frankfurter Bahnhofsviertel dieser Tage habe ich hingegen schon vorab ein schlechtes Gefühl. Also winke ich mir ein Taxi heran. Einmal im Wagen entschuldige ich mich beim Fahrer für die kurze Strecke, aber mir sei in meinem Outfit um diese Zeit zu Fuß nicht recht wohl im Bahnhofsviertel. Der Fahrer entgegnet fröhlich-freundlich, ich brauche mir da überhaupt keine Sorgen zu machen, Raub und Mord seien schlecht für’s Geschäft und brächten nur Polizei, Absperrungen, Durchsuchungen, Personalienfeststellungen und Razzien in’s Bahnhofsviertel, daher achteten schon die Luden und Dealer darauf, dass so etwas nicht passiere, ich sei hier sicher wie in Abrahams Schoß. Außerdem seien die Typen aus dem Bankenviertel mit nämlichem Outfit wie dem meinen hier gern und oft gesehene Stammgäste, und auf solvente Stammgäste passe man ohnehin besonders auf. Welch eine Symbiose, denke ich mir. Aber die inhärente Logik dieser Argumentation ist nicht von der Hand zu weisen. Ich erreiche den Hauptbahnhof unbeschadet.