Vor einigen Jahren, da waren wir bei Freunden zum „Pizza-Happening“ eingeladen, vier Ehepaare, 14 (!) Kinder, eine große, große Wohnküche, drei Tische zum überdimensionierten Esstisch zusammengestellt, kunterbunt zusammengewürfelte Stühle, davor gleich die Terrasse und der Garten, genügend Platz also selbst für eine so große Meute. Unsere Freunde hatten Besuch von Schulfreunden vom Lande, ein Ehepaar mit der stattlichen Anzahl von sechs Kindern (vielleicht in Ermangelung anderer Unterhaltungsmöglichkeiten auf dem Lande), dazu waren noch zwei weitere Ehepaare eingeladen, die Kinder alle halbwegs im selben Alter, eine nette und fröhliche und ungezwungene Gesellschaft. Für diese große Personenzahl hatten die Freunde Pizza zum selberbauen vorbereitet, Berge von Hefeteig, dazu ein großer Topf von Tomatensauce mit frischen Kräutern und Schüsseln voll mit Salami, Schinken, Thunfisch geschnittenen Paprika, Oliven, Peperoni, Champignons, Zwiebeln, Tomaten, Basilikum, Mozzarella, Käse … Der Herr des Hauses rollte kleine Pizzen aus, jeweils sechs passten auf das Blech dieses extra-breiten Miele High-Tech-Design-Backofens (Neid!), und dann konnte sich jeder seine Pizza selber nach eigenem Gusto belegen – ein Riesenspaß, nicht nur für die Kinder. Zuerst wurden die Sprösslinge in einem ersten Durchgang versorgt, dann kam die Reihe an die Erwachsenen, die sich auch allesamt daran machten, ihre Pizzen zusammenzubasteln. Nur der lendenstarke Freund vom Lande blieb stur am Tisch sitzen, süffelte Rotwein, blickte griesgrämig drein und rührte sich nicht. Freundlich fragte die Hausfrau, was sie denn dem – offensichtlich nicht Pizza-bastel-begeisterten – Freunde vom Lande denn auf den Hefefladen tun dürfte, und da fiel unvermittelt dieser denkwürdige, barbarische, grausame, ärmliche Satz: „Mach‘ mir halt irgendwas drauf, ist doch egal, was ich fresse!“ (O-Ton!) Mir blieb die Spucke weg, so desinteressiert-abwertend-verächtlich habe ich noch niemals jemanden über Essen reden hören, und nachdem sich der unmittelbare Reflex, dem Typen eine in die Fresse schlagen zu wollen, ob so despektierlichen Redens, gelegt hatte, machte sich dann recht schnell das Mitleid über den armen Kerl bei mir breit.
Als unsere Pizzen fertig waren setzte ich mich neben ihn, mich interessierte der Mensch, der so etwas sagt, ich begann ebenfalls das Süffeln, und wir redeten. Er stammt vom Lande, vom ländlichsten Lande im tiefsten Bayern, Großbauernsohn, hat früh seine Schulfreundin geheiratet und das Zeugen begonnen, Ausbildung zum Landwirt, vom Vater den Hof übernommen, über 100 Milchkühe, dazu Wald, Futtermittelanbau, Heuwirtschaft, Mietimmobilien und neuerdings auch noch Photovoltaikanlagen in großem Stil (naja, genau genommen Subventions-Abgriff im großen Stil, die Photovoltaik ist dabei nur Mittel zum Zweck, wie er mir nach einigen Gläsern Wein eingesteht), allein das Land wahrscheinlich etliche Millionen wert. Dennoch leben sie mit den Altbauern in dem hässlichen, funktionalen Aussiedlerhof-Wohnhaus aus den 50er Jahren, nichts mit traditionellem, gemütlichen bayrischen Bauernhaus, mit Ausnahme der Ofenheizung, selbst für eine Zentralheizung ist man zu sparsam /geizig. Die Kinder sind durchaus wohl geraten, höfliche, fröhliche, aufgeweckte, wohlgenährte, keinesfalls dumme, in der Stadt instinktiv etwas vorsichtige Dorfeier halt, sie verstehen sich prächtig mit den Stadtkindern. Er, seine Frau, seine Kinder tragen keinen Schmuck, keine teuren Uhren, die Klamotten sind von Huddel & Muddel oder so, die Schuhe sind bei allen Familienmitgliedern unter aller Kanone, ausgelatscht und ungepflegt. Man fährt vier gebrauchte Autos, darunter einen VW-Bus für die ganze Sippe und drei alte Kleinstwagen, die braucht man schon, wenn man auf dem ländlichsten Lande wohnt. Diese Leute haben so gut wie nie in ihrem Leben Urlaub gemacht, mal während der Schulzeit mit dem ersten eigenen 3er BMW an den Gardasee, Hochzeitsreise 1 Wochen Cannes, dann und wann mal ein Besuch bei Verwandten – und eben die regelmäßigen Stippvisiten bei unseren Freunden, weil das kost‘ ja kaum was außer dem Sprit, da kann man umsonst schlafen mit der ganzen Familie, wird verköstigt, bringt dafür vielleicht ein wenig selbst gemachte Marmelade oder Obstwein mit, und damit ist gut und man quitt – erzählt der Lendenstarke von Lande. Ich bin sprachlos ob dieser freizügigen Geständnisse. Irgendwie bleibt mir wortwörtlich schon wieder die Spucke weg und die Konversation droht einzuschlafen. Ob es denn schöne Landgasthäuser gebe, dort wo sie herkämen, im tiefsten Bayern, die sich zu besuchen lohne, frage ich, um das Gespräch in Gang zu halten. „Der …“, mischt sich da seine Gattin ein, „… der geht doch nie weg, der weiß sowas doch nicht.“ Ich glaube, in dem Ton schwingt ein ganz, ganz leichter Vorwurf mit, bilde ich mir zumindest ein. „Mittwochs“, fährt die Gattin fort, „geht er mit seinen Freunden Schafkopfen beim Wirt, jeden Mittwoch, aber gegessen wird vorher daheim, beim Wirt trinkt er nur ein, zwei Bier. Und einmal im Jahr, zur Kirwa, da gehen wir mit der Familie am Samstag in’s Festzelt, und wir teilen uns alle zwei Hendl und vielleicht eine Breze. Das war’s, so einer geht doch nicht essen, so einer weiß doch nicht, was gute Wirtshäuser sind.“ Jetzt bin ich mir sicher, in diesem Ton schwingt Vorwurf, aber sicher nicht nur ein leichter, wie ursprünglich angenommen. Eine Frau, die ihren Mann „So einer“ heißt, kurios. „Erzähl‘ doch mal, was du so frühstückst“, fährt die Frau ihren Mann stichelnd an, „erzähl doch mal“. Der Lendenstarke knurrt und nimmt sich mehr Rotwein. „Dann erzähle ich, was du so frühstückst“ – nochmaliges, noch lauteres Knurren – „Also, der steht Morgens um vier auf, melkt unsere Kühe, kommt dann in die Küche, und frühstückt eine Schüssel Aldi-Cornflakes … mit Wasser … mit Wasser, nachdem er vorher 2.000 Liter Milch gemolken hat.“ Ihre Stimme klingt gerade irgendwie giftig. „Die Milch verkauf‘ ich doch lieber, Cornflakes machen auch mit Wasser satt, mit Milch würden sie nicht satter machen“, mault er über den Tisch, sichtlich indigniert, dass sie gerade Intimitäten der heimischen Küche preisgegeben hat. Jetzt bin tatsächlich sprachlos, trolle mich in den Garten, setze mich unter die alte, wunderschöne Rotbuche und denke mir eine ganze Menge meiner Teile.
Zwei Tage später rufen die „Pizza Happening“-Freunde bei uns an, ihre Schulfreunde vom Lande führen des Nachtmittags wieder heim, vorher wolle man noch gemeinsam im Augustiner Biergarten an der Arnulfstraße zu Mittag essen, ob wir nicht spontan mitkommen wollten. Wollten wir, und so sitzen wir an einem großen Tisch im wunderschönen Biergarten mitten in der Stadt. Und da begeben sich wieder zwei denkwürdige Szenen. Die Kleinen des Lendenstarken müssen sich eine Erwachsenen-Portion teilen, alldieweil – so werden wir klug belehrt – eine Erwachsenen-Portion billiger sei als zwei Kinderportionen; den darauf folgenden, wohl unvermeidlichen Streit unter der Kleinen, ob nun Schweinsbraten oder Schnitzel schlichtet der Vater weise: Schweinsbraten, denn der ist billiger als Schnitzel, außerdem ist da Soß‘ dabei. Punkt. Die große Tochter möchte vorab eine Suppe essen; barsch belehrt sie der Vater, sie habe sich mit einem Gericht zu begnügen, zwei Gänge gäbe es nicht, wo käme man denn dahin, und außerdem sei es eine gute Idee, die Leberknödelsuppe zu nehmen, die sei billiger als ein Hauptgericht, und so ein Leberknödel mache doch auch satt. Halloooo, denke ich mir. So bestellt die restliche Familie des Lendenstarken jeweils ein möglichst wohlfeiles Hauptgericht, wohl aus Angst vor dem Zorn des Zahlers. Fast wäre ich geneigt, für alle noch eine Runde Suppe zu spendieren, aber wozu? Unsere Freunde und wir lassen und von diesem restriktiven Bestellverhalten nicht abhalten, wir ordern Obadzden, Salate und Suppen zur Vorspeise, deftige Hauptgerichte, zum Nachtisch glaube ich frische Apfelküchle, ein richtiges Biergarten-Mahl halt. Mit säuerlichem Gesicht verfolgt der Lendenstarke unsere Tafelfreuden, verputzt seinen Schweinebraten, dazu hat er für seine Familie einen Krug Leitungswasser bestellt (mit dem – durchaus (zumindest für Deutschland) nicht unzutreffenden – Kommentar „Ist auch kein schlechteres Wasser als das aus der Flasche.“). Als es ans Zahlen und Aufbrechen geht, zückt der Besuch vom Dorfe die Brieftasche und sagt „Ich zahle meins, das, das, das, das, das, das und das“, dabei zeigt er auf seinen Platz, den seiner Frau und die seiner sechs Kinder, „und von denen da“ – er zeigt auf unsere Freunde und ihre beiden Kinder – „jeweils die Hauptgerichte.“ Strafe muss sein, warum müssen sie auch verschwenderisch und genusssüchtig zusätzlich Vor- und Nachspeisen bestellen! Nicht nur mir bleibt zwischenzeitlich zum dritten Male die Spucke weg, auch der armen Kellnerin, die den ganzen Kladderadatsch jetzt noch komplizierter als sonst auseinanderdividieren muss, arme Socke die. Ich glaube, ich als Kellnerin würden dem Typen meinen prallen Geldbeutel links und rechts um die Ohren schlagen. Um das nochmals klarzustellen: diese Sätze sagt kein armer Mann, der sich kaum etwas leisten kann, der jeden Cent zweimal umdreht und der sich trotzdem irgendwie, nach Maßgabe seiner bescheidenen Möglichkeiten, dankbar zeigen will; das sagt ein Multi-Millionär mit einem – auch das hatte er mir beim Wein-Süffeln verraten – monatlichen sehr stattlichen fünfstelligen Einkommen (nicht nur aus der Landwirtschaft und Miete, zusätzlich aus EU-Subventionen, Photovoltaik-Subventionen und einigen wohl recht dubiosen, „steueroptimierten“ Anlage-Modellen), mit dem man durchaus sein Auskommen haben kann.
Auf dem Heimweg frage ich Caro noch immer fassungslos: „Woran hat so einer wohl seine Freude?“ „Das kann ich Dir sagen“, antwortet Caro wie aus der Pistole geschossen, „der nimmt sich seine Kontoauszüge, geht damit in’s stille Kämmerlein, schaut sie an und holt sich dabei einen runter.“ Nothing left to say.